Neue Mythen alter Götter
Nicht mehr drei, sondern vier Erzählungen von Giuseppe Tomasi di Lampedusa sind in Neuübersetzung unter dem Titel „Die Sirene“ erschienen
Von Lena Frings
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine Ode an ein vergangenes Sizilien, an antike Mythen, die zwischen den Seiten neu aufleben und nicht zuletzt an den verstorbenen Autor. Giuseppe Tomasi di Lampedusa wurde erst nach seinem Tod durch seinen einzigen Roman Der Leopard bekannt und zählt seitdem zu den bedeutendsten italienischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Die Neuübersetzung der 1961 erschienenen Originalausgabe der Sammlung Die Sirene präsentiert nun vier seiner Erzählungen. Angereichert wurde die von Nicoletta Polo herausgegebene Ausgabe außerdem einerseits um liebevolle, einleitende Worte ihres Mannes, der zudem Adoptivsohn des Autors ist, sowie um die Kindheitserinnerungen, denen die Ehefrau Tomasis zunächst durch gezielte Eingriffe zu einer bestimmten Glätte verholfen hatte. Erbe und Ehre blieb also Familiensache, ganz wie in den Erzählungen selbst.
Diese beginnen mit Tomasis Erinnerungen an seine Kindheit, an die derweil zerstörten Villen, in denen er aufwuchs. Detailreich beschreibt er den Prunk, die Weitläufigkeit der Häuser, die in ihrer Fülle an Statuen griechischer Götter und Wandgemälden zum Abenteuerspielplatz seiner Kindheit wurden. Es folgt die Erzählung Die Freude und das Gesetz, eine ganz andere Szenerie. Der wenig wohlhabende Vater und Ehemann bekommt als „verdienstvollster Angestellter“ um die Weihnachtszeit einen sieben Kilo schweren Kuchen geschenkt. Zu Hause entscheidet die Ehefrau (das Gesetz) jedoch, den seltenen Luxus weiterzugeben, denn die arme Familie ist einem Advokaten zu Dank verpflichtet.
Das Herzstück der Sammlung stellt die Titelgeschichte Die Sirene dar. Die Erzählung verwebt Eindrücke vom Sizilien des Jahres 1938 mit Elementen der Reise des Odysseus. Sie lebt von einprägsamen Bildern, die beispielsweise vom tiefblauen Meer und von aromatischen Seeigeln als „blutrote Knorpelmasse“, als „Abbilder weiblicher Organe“, entworfen werden. Durch die Perspektive eines jungen Journalisten erfährt der Leser das Geheimnis eines alten Gelehrten. Die zufällige Begegnung der beiden Männer verfestigt sich mit der Zeit zu Bewunderung auf der einen und Sympathie auf der anderen Seite und führt zum gegenseitigen Geständnis. Beide geben, anders als Odysseus, der Versuchung nach. Beiden wird es zum Verhängnis. Während das Selbstbewusstsein des einen leidet, weil er bei dem Versuch zwei Frauen zu lieben beide verliert, ist die Sache bei dem Älteren komplizierter: Die unwiderstehliche, animalische Sinnlichkeit einer Sirene hat ihm schon im jungen Alter die Freude an weltlichen Frauen genommen. Die Erzählung spielt mit der Sehnsucht, einer Sehnsucht, die unerreichbar sein muss und die man darum besser im Unerreichbaren sucht, in der Zeit der verstorbenen Sprachen und Götter, sodass man ihr Fortbestehen immerhin im Aufscheinen traumhafter Bilder bewahren kann.
Eigentlich sollte die letzte Erzählung, Die blinden Kätzchen, bloß Einleitungskapitel eines historischen, soziopolitischen Romans sein, der jedoch unvollendet blieb. Anhand ironisch überzeichneter Protagonisten erhält man bereits in diesem ersten Kapitel einen Eindruck vom Untergang des Adels und dem Aufkommen einer neuen gesellschaftlichen Schicht.
Wie Puzzleteile lassen sich die Erzählungen und Anmerkungen zusammenfügen, bis sich ein verschwommenes Bild von Sizilien ergibt, auf dem sich Fiktion und Fakten wechselseitig durchdringen. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Blick: jener scharfe und ironische Blick auf gesellschaftlichen Wandel, aber auch der männliche Blick auf die Frau und der Blick auf das Meer, auf das detailliert beschriebene Optische der zerstörten Paläste, die nur noch in dieser fotographischen Erinnerung bestehen. Eine Sammlung, welche die Sehnsucht nach salziger Seeluft entfacht, in der die Vergangenheit gegenwärtig wird und antike Mythen fühlbar.
Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2019 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2019 erscheinen.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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