Fiebertraum einer brennenden Hydra

In seinem Roman „Ich gehe wie ein Haus in Flammen“ erzählt António Lobo Antunes in einem mehrstimmigen Chor von acht Leben in einem Lissabonner Wohnhaus

Von Sophie SteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sophie Stein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie eine komplexe Webarbeit, bei der narratorische Fäden auf und ab geschoben werden, dadurch zuweilen mitten im Satz untertauchen, in den Tiefen des Romangewebes verschwinden und erst Absätze später wieder zum Vorschein kommen, mutet der von Maralde Meyer-Minnemann ins Deutsche übersetzte Roman des portugiesischen Schriftstellers António Lobo Antunes an. Chaotisch, fragmentarisch, an- und abschwellend, zugleich unzusammenhängend und untrennbar verbunden, weigert sich dieser Roman, die Illusion einer kohärenten Linie zu erschaffen und das Chaos zu glätten, und ermöglicht gerade dadurch, dass er die Unmöglichkeit eines literarischen Erfassens menschlicher Komplexität aufzeigt, eine authentische Darstellung des Lebens. 

Wohnung für Wohnung und zugleich Kapitel für Kapitel entfalten sich so die verschiedenartigen Biographien der acht Parteien eines dreistöckigen Lissabonner Wohnhauses. Ein polyphoner Chor aus Bewusstseinsflüssen schwillt auf Ebene des Hauses an, auf Ebene der einzelnen Zimmer bildet das rasante Zusammenfallen von Erinnerung und Einbildung, eine teils anachronistische Akkumulation von aktuellen Eindrücken und vergangenen Erlebnissen, kleinere Erzählstrudel. Leitmotive ziehen sich wie Lebensadern durch diesen pulsierenden, zuckenden Romanorganismus, dieses ständig seine Züge ändernde Wesen, das einer brennenden Hydra mit nachwachsenden Köpfen gleicht, die in einem fiebertraumartigen Erinnern gefangen ist.

Eine beklemmende Atmosphäre wird erzeugt, wenn sich die Hauswände aufzulösen scheinen wie die Bewohner selbst, und jeder den anderen hören kann, in der Anonymität ihres Mikrokosmos verbunden nur durch die allgegenwärtige Vergänglichkeit, das Schicksal des Todes. Erst mit Erreichen des Dachbodens und der Romanfigur, die dort wohnt, offenbart sich die volle metaphorische Kraft des Romans, wird das Haus in Flammen, von dem bereits der Putz abbröckelt, zu einer Metapher nicht nur für die sich auflösende Psyche seiner einzelnen Bewohner, sondern für eine Gesellschaft und ein ganzes Land.

Trotz des auf struktureller Ebene mitunter unnahbar, unpersönlich wirkenden Aufbaus – rasch wechselnde Perspektiven, daher das Fehlen einer Identifikationsfigur und einer konstanten Handlungslinie zur Orientierung –, der den Leser in einen tranceartigen Zustand versetzt, sorgt immer wieder das grelle Aufblitzen scharfer Beobachtungen menschlicher Erfahrung, eindringliche Beschreibungen intimer Situationen und zwischenmenschlicher Abgründe, dafür, dass dieser Roman Menschliches und Dingliches so miteinander verknüpft, dass Außen und Innen zu einem kaleidoskopischen Stoff verschwimmen: Etwa wenn der Erzähler Augenlider personifiziert atmen lässt, ein Kinn zögern und überlegen kann, und Schwalben wie pfeilschnelle Augenbrauen durch den Himmel fliegen.

Diese Verwobenheit zeigt sich auch daran, dass sich im Kleinen das Große und im Großen das Kleine spiegelt, dass Triviales die gleiche Gewichtung erhält wie bedeutungsschwere Ereignisse. Es scheint, als seien die ersten Atemzüge der Figuren bereits durchtränkt von ihren letzten, als seien in einer Hochzeitsnacht schon alle künftigen Trennungen enthalten und als bestehe das dazwischenliegende Leben aus einem einzigen verschmolzenen Augenblick. Über die Spanne eines ganzen Lebens hinweg stirbt eine Großmutter; ihr Todesaugenblick schwillt an und dehnt sich durch Zeit und Raum, bis es scheint, als dauere er ein ganzes Leben (das Leben der Enkelin) an; im Schrei des Babys ist auch schon das Brüllen des gewalttätigen, alkoholabhängigen Familienvaters angelegt, zu dem es sich einmal entwickeln wird. Somit lässt Antunes den Eindruck entstehen, als würden die Figuren aus allen Momenten ihres Lebens zwischen Jugend und Alter, Tod und Geburt zugleich bestehen, als vergehe alles bereits im Moment seiner Entstehung, und als könne gleichermaßen die Vergangenheit niemals ausgelöscht werden.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2019 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2019 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

António Lobo Antunes: Ich gehe wie ein Haus in Flammen. Roman.
Übersetzt aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Luchterhand Literaturverlag, München 2017.
446 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875026

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