„Feminizid“

Ivan Jablonka schildert das Leben einer jungen Frau und die Hintergründe ihrer Ermordung

Von Gerhard PoppenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Poppenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Laëtitia oder das Ende der Mannheit von Ivan Jablonka handelt vordergründig von dem brutalen Mord an einer jungen Frau, der 2011 für einige Wochen die Aufmerksamkeit der französischen Öffentlichkeit erregte. Laëtitia Perrais wurde am 18. Januar 2011 entführt und mit äußerster Gewalt ermordet. Die Verwandlung einer Meldung aus den vermischten Nachrichten in ein Buch hat ein berühmtes Vorbild: Gustave Flaubert machte aus einer solchen Meldung den Roman Madame Bovary (1857). Die Erinnerung ist nicht müßig. Jablonka selbst legt die Spur, wenn er ein Kapitel des Buchs mit „Ich bin Laëtitia“ betitelt. Flaubert hatte ähnliches von seinem Verhältnis zu Emma Bovary behauptet.

Der Autor ist Professor für neuere Geschichte in Paris. Er hat sich mit sozialgeschichtlichen Fragen, vor allem zur Geschichte von Kindern in öffentlichen Institutionen, befasst, Arbeiten zur Shoa publiziert – seine polnischen Großeltern wurden in Auschwitz umgebracht – und theoretische Essays zur Methodologie der Sozialgeschichte publiziert. Er hat auch eine Biografie zu Jean Genet geschrieben. Die Untersuchung zur Ermordung von Laëtitia Perrais fügt sich in seine sozialgeschichtlichen Arbeiten ein. Seine ausgedehnten Recherchen erläuterte er den Beteiligten aus Polizei und Justiz – er sei nicht nur an dem Fall allein interessiert, seine Untersuchung werde auch von der Situation Frankreichs, der Justiz des Landes und seiner Gesellschaft zu Beginn des 21 Jahrhunderts handeln.

Das Buch wurde allerdings sofort auch als ein literarischer Text wahrgenommen und erhielt nach seinem Erscheinen 2016 den Prix littéraire Monde sowie den Prix Médicis (roman). Das Romanhafte liegt aber nicht in einer fiktionalen Bearbeitung des Mordfalls oder einer Doku-Fiktion. Die Darstellung hält sich durchweg an Fakten, Quellen und Aussagen von Zeugen und Beteiligten. Das Romanhafte liegt vielmehr in der Form der Darstellung. Das Buch besteht aus einem kurzen Vorspann, der den Fall berichtet, und 57 Kapiteln, die ihn unter verschiedenen Gesichtspunkten und in zunächst kunterbunt erscheinender zeitlicher Anordnung aufrollen. Die Form der zerstückelten Darstellung zeigt nach und nach ihre innere Logik. Sie entspricht der Situation der Fahnder und des forschenden Historikers, die den Fall aus zahllosen Einzelheiten rekonstruieren mussten. Die Leser befinden sich in ähnlicher Lage. Durch eine Mikrorhetorik der Überzeugung sickert die Geschichte allmählich in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit in ihren Geist ein. Die Darstellungsform entspricht darüber hinaus dem ganzen Fall, der auch nach der Verurteilung des Mörders nicht zu einer in sich geschlossenen Geschichte geworden ist. Zwar ist er, wie es heißt, gelöst, aber es bleiben viele Momente, die nicht aufgelöst werden konnten. Das Fragmentierte der Form ergibt ein Puzzle, zu dem verschiedene, teils wichtige Stücke fehlen, so dass sein Bild Leerstellen aufweist.

Jablonka stellt die sozialpolitischen und adminis­trativen Strukturen dar, die den Rahmen für die Verhältnisse geben, in denen der Mord geschah. Als Soziologe schaut er von außen auf die Menschen und ihr Verhalten. Die Methode erinnert an einen anderen Autor der französischen Romangeschichte. Emile Zola hat seine Form der Darstellung als experimentellen Roman bezeichnet, in dem die Personen und ihr Verhalten nach drei Kriterien charakterisiert werden: Ihre vor allem familiäre Herkunft, das soziale Milieu, in dem sie leben, und die besonderen Umstände des Moments einer bestimmten Handlung sollen das Verhalten der handelnden Personen verstehbar machen.

Auch Ja­blonka orientiert seine Untersuchung an diesen drei Kriterien. Er rekonstruiert die Familiengeschichte der Zwillinge Laëtitia und Jessica Perrais. Er gibt Einblick in die Situation des Pflegeheims, in das sie kamen, nachdem der Vater wegen gewalttätiger Übergriffe gegen ihre Mutter eine Gefängnisstrafe verbüßte und diese wegen psychischer Labilität in eine Klinik eingewiesen wurde. Und er schildert die Familiensituation der Pflegefamilie, in der die Zwillinge dann aufgenommen wurden. Entsprechend rekonstruiert er die familiäre Herkunft des Mörders Tony Meilhon, der ebenfalls einer Familie entstammt, in der Gewalttätigkeit aller Art habituell war. Schon als Kind war er gewalttätig gegen Mitschüler und Lehrer, weshalb er in ein Heim eingewiesen wurde. Als Jugendlicher begann er zu stehlen und wurde insgesamt dreizehn Mal wegen Vergehen aller Art – von Beleidigung und Sachbeschädigung bis zu bewaffnetem Raubüberfall und Vergewaltigung – verurteilt, so dass er die Hälfte seiner 32 Lebensjahre im Gefängnis verbracht hatte. Zur Zeit des Mordes war er auf Bewährung aus dem Gefängnis frei und lebte ohne festen Wohnsitz von Diebstählen.

Des Weiteren schildert Jablonka die Arbeitssituation und das tägliche Leben der beiden Mädchen im Haus der Pflegeeltern sowie ihre unterschiedliche Art, mit den dortigen Problemen umzugehen. Durch die vielen Einträge und Fotos auf Facebook sowie die zahlreichen SMS, die Laëtitia täglich an ihre Freunde verschickte, werden ihre Gefühle und Wünsche deutlich. Diese Einträge und Kurznachrichten sind für Jablonka eine Art Tagebuch der Laëtitia Perrais. Schließlich versucht er akribisch, den letzten Tag in ihrem Leben und die Nacht ihrer Ermordung bis zum Moment des Mords sowie die anschließende Entsorgung der zuvor zerstückelten Leiche möglichst bis ins letzte Detail zu rekonstruieren.

Der deutsche Titel spricht mit einem Neologismus von „Mannheit“ statt von „Männlichkeit“; der französische, la fin des hommes, bedeutet schlicht das Ende der Männer, aber auch der Menschen. „Mannheit“ ist in Analogie zu „Menschheit“ gebildet. Es geht um die Männer und ihre Art, Männer zu sein im Verhältnis zu anderen Männern und vor allem im Verhältnis zu Frauen. Drei Männer stehen im Fokus der Untersuchung: der Mörder, der die junge Frau vermutlich zuvor vergewaltigt hatte, der Pflegevater, der sexuell übergriffig war, und der französische Präsident Nicolas Sarkozy, der den Fall sofort für seine politischen Zwecke zur Verschärfung des Strafrechts instrumentalisierte. Die Darstellungstechnik der Montage einzelner Fragmente ermöglicht es Jablonka, diese Vereinnahmung des Falls und die öffentliche Unterstützung der Pflegeeltern durch den Präsidenten mit der erst später bekannt gewordenen Information über die sexuellen Übergriffe des Pflegevaters zusammenzustellen.

Ein zusätzlicher vierter Mann ist Jablonka selbst, der als Autor auf eigentümliche Weise im Buch anwesend ist. Flaubert sagte, der Autor verhalte sich zur Welt seiner Romane wie Gott zur Welt seiner Schöpfung; er sei überall anwesend, aber nirgends sichtbar. Jablonka hingegen ist keineswegs überall anwesend, er stellt die Lücken in seiner Recherche deutlich aus. Er will nicht Gott spielen, sondern ganz Mensch und Wissenschaftler sein, der zu keinem Zeitpunkt über das hinausgeht, was Quellen und Zeugnisse hergeben. Und wenn er alternative Szenarien erwägt an Stellen, wo die Zeugnisse stumm bleiben, markiert er sie als solche, begibt sich aber nicht ins Reich der Spekulationen oder ausschmückenden Fiktionen.

Jablonka ist auch immer wieder sehr sichtbar. Er schildert seine eigene Herkunft aus gutbürgerlicher Familie in Paris, was ihm nach einer hervorragenden Ausbildung ermöglichte, Universitätsprofessor in Paris zu werden und selbst mit seiner Familie im gehobenen Bürgertum zu leben. Deshalb macht er deutlich, wie fremd ihm die Welt der sozial und ökonomisch Abgehängten ist, wie viel Mühe er hatte, Zugang zu dem Milieu zu finden. Immer wieder reflektiert er sein Vorgehen und seine Unsicherheiten. Diese Diskretion ist eine der vielen Qualitäten des Buchs. Er erwägt Einzelheiten des Falls, führt Skrupel und Bedenken über seine Arbeit an, beschreibt die Art seiner Recherchen und schildert vor allem seine Begegnungen mit den Personen, die in den Fall verwickelt waren. Er weiß, er hätte Laëtitia nie kennengelernt – und falls doch, hätten sie sich nichts zu sagen gehabt. Aber nach ihrem Tod hat er sich so sehr mit ihr beschäftigt, dass er ihr nähergekommen ist. „Wir haben nichts gemeinsam, und doch bin ich Laëtitia.“

Das Ziel des Buchs ist, der Meldung aus den vermischten Nachrichten ihren Sensations- und Schauercharakter zu nehmen und sie durch „historische und soziologische Untersuchung“ zu einem konkreten Fall zu machen. Er will den Mord an dieser einen jungen Frau, Laëtitia Perrais, nachvollziehen und, soweit es geht, die Zusammenhänge erkennbar machen, die zu ihm geführt haben. Dieser besondere Fall soll zugleich etwas über den allgemeinen Zustand eines Teils der französischen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts aussagen: „zerrüttete Familien, das stumme Leid der Kinder, Jugendliche, die früh ins Arbeitsleben eintreten, das Frankreich der Armut, Gegenden am Stadtrand, soziale Ungleichheit“. Deshalb verfolgt Ja­b­lonka die angesprochenen Probleme auch rechtshistorisch und institutionenpolitisch bis ins 19. Jahrhundert, das heißt bis zur Entstehung des modernen Polizei-, Justiz- und Sozialsystems Frankreichs zurück.

Exemplarisch ist dieser Einzelfall, wenn er nicht nur auf das spektakuläre Lebensende dieser jungen Frau beschränkt bleibt, sondern wenn das Leben, das diesem Ende vorausging, sichtbar wird. Und dieses Leben ist für Jablonka die Verbindung von zwei allgemeinen Phänomenen: „Schutzlosigkeit von Kindern“ und „Gewalt gegen Frauen“. Die Gewalt geht von Männern und ihrer „Mannheit“ aus: vom gewalttätigen Vater, dem übergriffigen Pflegevater, dem vergewaltigenden Mörder und dem politisch übergriffigen Präsidenten, der den Fall für seine Politik von Recht und Ordnung benutzt.

Das Exemplarische des Falls liegt für Jablonka auch in der Ermordung einer Frau. „Laëtitia wurde als Frau umgebracht, als das, was an ihr Frau war, die unterworfen, überwältigt und zerstört werden musste.“ Für dieses „misogyne Verbrechen“ prägt er in Analogie zu Suizid und Homizid die Bezeichnung „Feminizid“. Dabei gibt er seine soziologische Distanz immer wieder zugunsten einer empfindsamen Parteinahme für das schöne, gleichermaßen hoffnungsvolle wie hoffnungslose, da unterprivilegierte Mädchen auf. Flaubert hatte sich von den romantischen Flausen, die er wie Emma Bovary gehabt hatte,  mit seinem Roman  freigeschrieben. Jablonkas Ich bin Laëtitia ist eher eine sentimentale Identifikation. Deshalb ist sein Buch von einer exemplarischen Analyse der Situation der Frau „als Frau“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts weit entfernt.

Jablonka will die Frau und ihren Mörder darstellen, ohne die Klischees von Opfer und Täter auszubeuten. Das ergibt ein Sozio- und Psychogramm der Personen, das ihr Verhalten zu erhellen versucht, ohne es zu beurteilen, gar zu verurteilen. Er biedert sich nicht bei der verfolgten und ermordeten Unschuld an und stempelt den Mörder nicht als brutales Monster ab. Er zeigt auch nicht Überheblichkeit oder Widerstand ihm gegenüber, der eine durchaus unangenehme und widerwärtige Person ist. Er versucht den Mann möglichst objektiv und distanziert als Verführer, Verbrecher und Vergewaltiger, aber doch auch als Verwahrlosten, Verkümmerten und Verlorenen darzustellen. Gleich am Anfang zitiert er die Anwältin der Ermordeten, die ihr Mitgefühl für diesen Mörder artikuliert und hofft, er werde nicht zu lebenslanger Haft verurteilt, denn er sei im Grunde auch ein Opfer. Meilhon wurde in erster Instanz zu einer Haftstrafe und anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt; im Berufungsprozess wurde die Haftstrafe bestätigt, die Sicherheitsverwahrung aufgehoben. „Das ist zweifellos besser so“, schreibt Jablonka lakonisch. Auch dieser Mann verdient eine neue Chance, wozu auch die Chance gehört, noch einmal einer Laëtitia zu begegnen.

Über die Ermordete sagt Jablonka allerdings auch, der Sozialstaat habe zwar sehr viel für sie getan, doch „ihre Vergangenheit hat sie eingeholt“. Sie konnte ihrer Prägung durch die Herkunft nicht entgehen. Das dürfte desto mehr für den Mörder Tony Meilhon gelten, der den Sozialstaat großenteils in Gestalt von Gefängnisaufenthalten erfahren hat und von dem der Autor einmal sagt, er sei „ohne Perspektive auf Wiedereingliederung“. Dieser soziale Determinismus steht in Spannung zu seiner insgesamt eher sozialliberalen Einstellung. Auch das ist wohl ein Erbe Zolas.

Titelbild

Ivan Jablonka: Laëtitia oder das Ende der Mannheit.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Hamm.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
384 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576996

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