„Anna Blume“ wird 100 und ist immer noch „unverblüht“

Peter Struck erzählt die kuriose Rezeptionsgeschichte des berühmten Gedichts

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor knapp 100 Jahren, zu Beginn des Jahres 1920, wunderten sich die Bürger von Hannover über große Plakate an den meisten Anschlagsäulen. „An Anna Blume!“ prangte darauf, dazu merkwürdige Gedichtzeilen:

Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, —- wir?
Das gehört beiläufig nicht hierher!
Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist, bist Du?
Die Leute sagen, Du wärest.
Laß sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf Deinen Füßen und wanderst auf die Hände,
Auf den Händen wanderst Du.
Halloh, Deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt,
Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir.
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, —– wir?
Das gehört beiläufig in die kalte Glut!

Die Hannoveraner standen kopfschüttelnd davor: „Der Mann ist verrückt!“ Wer war der „Verrückte“? Kurt Schwitters (1887–1948). Zur Jahreswende 1919/20 war im Hannoveraner Verlag Paul Steegemann sein Band Anna Blume. Dichtungen erschienen und der Verleger hatte zur Verkaufsförderung das meterhohe Plakat in der Stadt anbringen lassen. Der Verlag wurde mit bitterbösen Leserzuschriften überschüttet. Die originelle Werbeaktion war jedoch ein Erfolg, die Erstauflage ging weg wie die sprichwörtlichen „warmen Semmeln“.

Auch nach 100 Jahren hat das Gedicht An Anna Blume nichts von seiner Faszination eingebüßt, es irritiert und provoziert noch immer die Gemüter. „Eine Mischung aus Pathos, Liebeslyrik, Parodie und Verfremdung“ machen seitdem seinen Erfolg aus. Die Liste der Deutungen und Auslegungen ist lang, ganze Heerscharen von Interpreten haben das Gedicht abgeklopft und zerpflückt, ohne hinter sein Geheimnis zu kommen.

Der Kulturwissenschaftler und Publizist Peter Struck hat das Anna Blume-Jubiläum zum Anlass genommen, die „schönsten, ernsthaften, kritischen und parodistischen Würdigungen“ des Gedichts bis in die Gegenwart zusammenzugetragen. In einer kurzweiligen Chronik schildert er die kuriose Rezeptionsgeschichte des Gedichts, wobei Schwitters das öffentliche Interesse immer wieder selbst befeuerte, unter anderem mit einem heftigen Anti-Gedicht An Curt Schwitters! von Anna Blume, das nicht einmal sein Verleger veröffentlichte:

Greulichen Unsinn kramst Du aus, welcher Dir, Deiner, Dich ähnlich sieht!

Gehe ins Irrenhaus lieber Curt, denn das Publikum behauptet Du seiest ins Gehirn geschissen!
Pfui, wie kann man nur unsere Deutsche Litteratur mit solch einem wahnsinnigen Geschreibsel verhunzen? Schämen Sie sich!

Anna Blume

Bereits wenige Wochen nach dem Erscheinen von Anna Blume erreichten den Verlag und den „geisteskranken“ Autor die ersten Entrüstungen und öffentlichen Parodien. Unflätige Post, auf die Schwitters aber mit Humor reagierte: „Ihr Mitleid rührt mich. […] Ihre Idee, eine Sammlung zur Heilung meiner Nerven zu veranstalten, finde ich famos. […] Ich denke an eine Kur von 1 Jahr Dauer in dem vornehmsten Kurhause im weißen Hirsch.“ Ungewollt trugen die veröffentlichten Parodien zur weiteren Verbreitung des Gedichts bei. Anna Blume war nicht nur Schwittersʼ Alter Ego, sondern führte darüber hinaus ein erstaunliches Eigenleben. Durch Übertragungen ins Englische, Französische und Ungarische wurde Anna Blume bald international.

Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gelangt waren, wurde es ruhiger um Schwitters. Als „entarteter Künstler“ gelang ihm in letzter Minute die Flucht nach Norwegen und weiter nach Großbritannien. Noch im Jahr vor seinem Tod schickte er an einen Freund eine letzte Fassung von Anna Blume. Mitte der 1950er Jahre setzte dann die systematische Würdigung von Kurt Schwitters und seinem Werk ein. Höhepunkt war 1986 eine große Retrospektive zu seinem 99. Geburtstag im Sprengel Museum Hannover. Im Zuge des Jubiläums wurde auch ein Anna-Blume-Brunnen eingeweiht. Zur EXPO 2000 trafen aus jedem Teilnehmerland 154 Anna-Blume-Anverwandlungen in Hannover ein und wurden dann in einem Sammelband veröffentlicht.

Im Anschluss an die 100-jährige Anna Blume-Chronik versammelt der Band erstmals in dieser Breite die schönsten und schrägsten Parodien, Persiflagen, Verunglimpfungen und Verballhornungen des Gedichts – von „eine Blume ist eine Bloome ist eine Anna ist eine Molly“ bis zu „An Anna Blunze. Blutwurst“ (Oh Anna, ja, sieh zu, ich fresse dir um 19 Uhr 19!“). Komplettiert wird die reich illustrierte Ausgabe durch einen umfangreichen Anhang mit Nachweisen, Anmerkungen sowie einem Quellen- und Literaturverzeichnis.

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Peter Struck: Anna Blume, unverblüht. Kurt Schwitters’ Dadagedicht wird 100!
Wehrhahn Verlag, Hannover 2019.
128 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783865257192

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