Ein Wiener Kaleidoskop von Antrittsvorlesungen (1869-1956)

Wie aus einer untoten Gattung ein lebendiges Kapitel Wissenschaftsgeschichte wird

Von Hans-Harald MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Harald Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich kann Ihnen meine Auffassung des ganzen Faches, wie ich denke, klar und einfach darlegen.“ Wer kann das heute noch – in einer Vorlesung? Alexander Conze, erster Ordinarius für das neugeschaffene Fach der Archäologie in Wien, konnte es. Im Stil der philologischen Enzyklopädien klärte er 1869 „Umfang und Begriff“ der „classischen Archäologie“ kurz und bündig.

Das Genre der Antrittsvorlesungen ist alt und kaum erforscht. Als akademisches Ritual und Textgattung ist es vielfältig verwoben in die Universitäts-, Wissenschafts- und Fachgeschichte, als kaum normierte Textgattung kennzeichnet es die Disziplin und die Person des Vortragenden. Die alte Philosophische Fakultät in Wien umfasste die historisch-philologischen und die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer. Dreizehn sorgfältig edierte und kommentierte Vorlesungen aus dem Zeitraum von 1869 bis 1956 hat das Herausgebertrio ausgewählt. Selten kommt Wissenschaftsgeschichte so kompakt und unterhaltsam daher wie hier.

Avantgardistischer als sein Kollege aus der Archäologie bestimmte Moriz Thausing 1873 das Profil der Kunstwissenschaft, deren Grundlagen „Beobachtung, Prüfung und Vergleich“ seien; ästhetische Kunstschriftstellerei („geistiges Lotterbett“) lehnte er ab. Mit seiner streng empirischen Konzeption legte Thausing das Fundament für die Wiener Schule der Kunstgeschichte.

Franz Brentano machte in seiner Antrittsvorlesung das Genre selbst zum Thema. Früher, so Brentano, hätte ein Philosoph die Vorlesung genutzt, um sein philosophisches System vorzustellen – er hingegen müsse „Über die Gründe der Entmuthigung auf philosophischem Gebiete (1874) sprechen. Als da waren/sind: „Mangel allgemein angenommener Lehrsätze; gänzliche Umwälzungen, welche die Philosophie ein um das andere Mal erleidet, Unerreichbarkeit des angestrebten Zieles auf dem Wege der Erfahrung; und Unmöglichkeit praktischer Verwerthung.“ Die Gegenwart charakterisierte Brentano indes als „eine Zeit des Überganges von einer entarteten Weise des Philosophierens, zu einer naturgemässeren Forschung.“

Der deutsche Germanist Erich Schmidt wollte 1880 über „Wege und Ziele der deutschen Litteraturgeschichte“ informieren, bot aber lediglich eine Tour de force durch die gesamte deutsche Literaturgeschichte, in deren Verlauf die Zuhörenden mit einer kaum verdaulichen Stoffmenge zugeschüttet wurden. Schmidt allerdings war allerdings ein gut aussehender Gelehrter und vorzüglicher Redner – die Tageszeitungen berichteten, dass ihm das Publikum im gänzlich überfüllten Hörsaal zu Füßen gelegen habe.

Der 1895 aus Graz nach Wien auf einen philosophischen Lehrstuhl berufene Ernst Mach erklärte: „Wenn es mir gelingt, Ihnen die Beziehung der Physik, Psychologie und Erkenntniskritik so nahe zu bringen, daß Sie aus jedem dieser Gebiete für jedes Nutzen und Zuwachs an Klarheit gewinnen, werde ich meine Arbeit für keine vergebliche halten.“ Es gelang ihm in seiner Vorlesung „Über den Einfluß zufälliger Umstände auf die Entwickelung von Erfindungen und Entdeckungen“.

„Musik und Musikwissenschaft“ lautete das Thema der Antrittsvorlesung, die der jüdische Gelehrte Guido Adler 1898 als erster Ordinarius für Musikwissenschaft hielt – „Geschichte und Ästhetik der Musik“ hatte noch die Lehrstuhlbezeichnung seines einflussreichen Vorgängers Eduard Hanslick gelautet. Adler wollte eine Historische und Systematische Musikwissenschaft unterscheiden und neben der Ausbildung der Musikwissenschaftler zugleich „die Bildung, Förderung und Anregung von Künstlern, Kunstjüngern und Kunstfreunden“ betreiben. Wie Moriz Thausing die Kunstwissenschaft stellte Adler die Musikwissenschaft auf empirische Füße: „Der philosophische Teil der Musikwissenschaft selbst ist momentan im Bannkreis der psychologischen, der psychophysiologischen Studien.“

Ludwig Boltzmann, routinierter und kreativer Antrittsvorleser, hielt in Wien gleich zwei dieser Veranstaltungen, die erste 1902 über „Die Prinzipien der Mechanik“, die zweite 1903 nach der Übernahme des Lehrauftrags für „Philosophie der Natur und Methodologie der Naturwissenschaften“. Über „Die Prinzipien der Mechanik“, ließ er seine Wiener Hörer wissen, habe er als Physiker auf seinen früheren Stationen (Graz, Wien, Graz, München, Wien, Leipzig) schon so manche Antrittsvorlesung gehalten, aber der Gegenstand sei „bedeutend genug, dass man ihn so oft behandeln kann, ohne sich allzusehr zu wiederholen“. Boltzmann streifte in lockerer Rede die Geschichte und Prinzipien der Mechanik bis zum Elektromagnetismus, um schließlich die Frage, ob „die Menschheit durch alle Fortschritte der Kultur und Technik glücklicher geworden“ sei, nicht zu beantworten und mit einer verblüffenden Liebeserklärung an das Publikum zu schließen.

Den „Antrittsvortrag zur Naturphilosophie“ hielt Boltzmann im Geiste Machs: gegen die Schulphilosophie, die in den Naturwissenschaften so viel Verwirrung angerichtet habe, aber mit dem Anspruch, die Probleme der Naturerkenntnis philosophisch zu klären. Bei seinem Versuch, „Licht in diesen Fragen wenigstens zu suchen“, fand Boltzmann sich nach eigenen Worten „in einer wahren Faust-Stimmung“ wieder, die sich in seiner Vorlesung und im Publikum niederschlug.

Mit Boltzmanns Vorlesung(en) schien – in Wien –  der Zenit im kreativen Umgang mit der Tradition der Antrittsvorlesung erreicht. Aber dann hielt die Romanistin Elise Richter 1907 „Zur Geschichte der Indeklinabilien“ einen strocktrockenen Fachvortrag. Die Umfunktionierung des Genres war kalkuliert: Elise Richter hatte als erste Frau eine venia legendi an einer deutschsprachigen Hochschule erhalten; sie war Jüdin und hatte einen dornenreichen Weg hinter sich. Die Wissenschaft war ihr heilig, und um zu vermeiden, „daß die weiblich Antrittsvorlesung zum gesellschaftlichen Ereignis herabgewürdigt wurde“, sprach sie zu einem exklusiven Fachpublikum.

Moritz Schlicks „Einführung in die Naturphilosophie“ (1922) tritt im Buch gewissermaßen außer Konkurrenz an, denn der Text seiner Antrittsvorlesung ist lediglich im Konzept, aber nicht ausformuliert erhalten. Die Herausgeber/innen konnten der Versuchung nicht widerstehen, den bislang unpublizierten Text einer Zentralfigur des Wiener Kreises mit einem Kommentar von dessen Chefhistoriker Friedrich Adler in ihr Buch aufzunehmen. „Echte Naturwissenschaft bedarf der Philosophie zu ihrer Vollendung, echte Philosophie bedarf der Naturwissenschaft als ihrer festesten Grundlage“, formulierte Schlick im Geiste Machs und Boltzmanns. Schlick wusste glänzend zu formulieren, er war ein Liebling des Wiener Publikums; seine Ermordung (1936) war ein tiefer Einschnitt in die Geschichte des Wiener Kreises.

Mit Heinrich von Srbik ist einer der bedeutendsten österreichischen Historiker des 20. Jahrhunderts vertreten. Seine Vorlesung „Metternichs Plan einer Neuordnung Europas 1814/15“ (1922) stellt eine Art „konservativer Revolution“ in der Geschichte der Gattung der Antrittsvorlesung dar. Srbiks – in vorzüglicher wissenschaftlicher Prosa gehaltene – Darstellung des hochreflektierten Neuordnungsplans Metternichs ist so differenziert und detailliert auseinandergefaltet, dass ihr politische Agitationsabsichten wohl nur abzulesen sind, wenn man weiß, dass und wie er später Nationalsozialist wurde.

Das liegt im Fall Heinz Kindermanns offen auf der Hand. Bei seinem Text „Theaterwissenschaft als Lebenswissenschaft“ (1943) handelt es sich kaum um eine Antrittsvorlesung, sondern um eine Proklamation, in der politische, organisatorische und disziplinäre Geltungsansprüche in amtlichem Ton angemeldet werden. Der Gehalt des Textes lässt sich in dem Ziel zusammenfassen, „den uns anvertrauten Wissensgebieten die biologische Fundierung zu geben“.

Die Antrittsvorlesung lebt weiter. Aber wie? Das vorliegende Buch findet ein glückliches Ende mit Erwin Schrödingers Vorlesung über „Die Krise des Atombegriffs“ (1956). Der vielfach ausgezeichnete Nobelpreisträger schildert die Geschichte des Atombegriffs von den Vorsokratikern bis zum Welle-Teilchen-Dualismus, der noch seine Gegenwart bestimmte. Die Antrittsvorlesung auf dem für Schrödinger persönlich eingerichteten Ordinariat wurde, wie der Kommentar besagt, „zu einem gesellschaftlichen Ereignis, das auch der Hoffnung diente, Österreich möge nach den Verwüstungen des Weltkrieges wieder Anschluss finden an die Weltgemeinschaft der modernen Forschung.“

Titelbild

Thomas Assinger / Elisabeth Grabenweger / Annegret Pelz (Hg.): Die Antrittsvorlesung. Wiener Universitätsreden der Philosophischen Fakultät.
V&R unipress, Göttingen 2019.
253 Seiten , 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783847109334

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