Auf dünnem Eis

In „Der Gott der Stadt“ inszeniert Christiane Neudecker einen wilden Korybanten-Tanz um Georg Heym

Von Lea ReiffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lea Reiff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Es gibt nie nur eine Wahrheit. Trotzdem wollen wir das Eindeutige“, stellt die Regie-Studentin Katharina Nachtrab zum Ende von Christiane Neudeckers Roman Der Gott der Stadt fest. „Aber die Vergangenheit wehrt sich gegen ihre Festlegung.“ Besonders schwierig wird es, wenn sich die Erinnerungen Nachtrabs, die im Großteil des Romans als Ich-Erzählerin fungiert, als unzuverlässig erweisen. Die Geschichte, die sie erzählt, ist folglich voller grob kaschierter Lücken, Mehrdeutigkeiten und Retuschen.

Fünf Jahre nach der Wende zieht Katharina von Nürnberg nach Berlin, um an der fiktiven Ostberliner Piscator-Schule ein Regiestudium unter der Ägide eines berühmten Theaterregisseurs namens Korbinian Brandner anzutreten (die obligatorische Frage nach autobiografischen Bezügen zum Leben der Autorin, die in Nürnberg aufwuchs und an der Ostberliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch studierte, wurde selbstredend bereits gestellt). Im Zentrum des Geschehens steht ein Datum: der 16. Januar. An diesem Tag versank 1912 der expressionistische Dichter Georg Heym beim Schlittschuhlaufen unter dem Eis. 84 Jahre später stirbt einer von Katharinas Kommilitonen, erhängt auf Höhe der siebten Sitzreihe der Schulbühne. „Es gibt keine Verknüpfung“, erläutert Katharina Nachtrab, „das versuche ich jetzt zu beweisen. Und doch ist alles verbunden.“

Als Nexus erweist sich Georg Heyms 1911 entstandenes Faust-Fragment, das Brandner seinem Jahrgang zur Aufführung überlässt. Die insgesamt zweieinhalb Seiten werden unter den fünf Studierenden aufgeteilt und diese müssen versuchen, sich einen Reim auf die ihnen zugeteilten Fragmente des Fragments zu machen, ohne das Ganze zu kennen. Der solcherart gestörte hermeneutische Zirkel reißt sie wie ein Mahlstrom in verschiedene Vergangenheiten, hin zur Ermordung Ernst Winters in Konitz, die in einer rechtspopulistischen Hetzschrift gegen Juden überliefert ist, zu Brandners DDR-Vergangenheit als IM Puntila, zu schwarzen Ringkämpfern in den Berliner Lunapark und nicht zuletzt zur Auseinandersetzung mit dem Teufel und dem faustischen Pakt.

Obwohl die Studierenden immer wieder von einer Zusammengehörigkeit als Gruppe träumen, gestaltet sich ihr Zusammenhalt unter diesen Umständen ebenso brüchig wie das Eis, das im Januar 1912 unter den Schlittschuhen Georg Heyms und seines Freundes Ernst Balcke brach. Wechsel der Erzählperspektive erlauben ab Kapitel II (Die Anderen) Einblicke in die Köpfe von Katharina Nachtrabs vier Kommiliton*innen sowie ihres Professors Korbinian Brandner und offenbaren eklatante Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung der Figuren – eine Kluft, die im Verlauf der Handlung nicht geheilt wird und letztendlich zum Zusammenbruch der fragilen Gruppenkonstellation führt.

Auch das Berlin, in dem Christiane Neudecker die Handlung ansiedelt, ist fragmentiert. Fünf Jahre nach der Wende ist die ehemals geteilte Stadt noch nicht zusammengewachsen, selbst die S-Bahnen „halten sich an die alten Trennwege“ und Brücken ragen anschlusslos ins Nichts. Dass sich in der Klasse des ehemaligen IM Puntila kein einziger Ostdeutscher befindet, kann diesen Bruch nicht heilen und schlussendlich bricht nicht nur die Gruppe der Studierenden, sondern auch die Ostberliner Theaterschule insgesamt unter einer Schuld zusammen, die zwar für jede Figur und Institution eine andere ist und in verschiedene Versionen von Wahrnehmung, Wahrheit und erzählerischer Fiktion zersplittert, die aber allgegenwärtig ist wie die Strömung des Wassers unter dünnem Eis: „Man trägt die Schuld in sich, ohnehin, das weiß man doch selbst. Und akzeptiert dann die Sühne. Auch wenn ihre Zuordnung verrutscht ist“.

In Der Gott der Stadt gelingt es Neudecker, sechs Biografien mit einem knappen Jahrhundert Deutscher Geschichte über die Großstadt Berlin, das Werk Georg Heyms und den literarischen Faust-Mythos derart virtuos miteinander zu verknüpfen, dass sich die kleinen grauen Zellen beim Lesen in ständiger Anspannung befinden. Es ist höchstes intellektuelles Vergnügen, das einen durch beinahe 700 Seiten gleiten lässt, als hätte man selbst Schlittschuhe angezogen, und so verwundert es nicht, dass der Roman bereits vor seinem Erscheinen mehrfach ausgezeichnet wurde. Zudem sorgt die eingangs aufgeworfene Frage, welche*r der fünf Student*innen schlussendlich sterben muss und wie es dazu kommt, durchgängig für Spannung.

Rollen, Inszenierungen, Welt- und Selbstbilder verstricken die Figuren in einen wilden Korybanten-Tanz auf dünnem Eis. Welche Gestalt der Teufel annimmt und wie man einen Pakt mit ihm eingeht, lässt sich ebenso wenig eindeutig beantworten wie die Frage nach den Grenzen zwischen Wahnsinn und Vernunft, Imagination und Wirklichkeit, Unfall, Selbsttötung und Mord. Am Ende fahren zwar nicht alle Figuren „mit dem Fahrstuhl in die Hölle“, doch die Frage steht im Raum, wie weit man bereit ist zu gehen für die Kunst, den Studienerfolg, Ruhm und eine schillernde Zukunft. Wie lange lässt sich Schuld, so diffus und unfassbar sie auch sein mag, ungesühnt verschleppen?

„Heinrich, mir graut’s vor dir“, zitiert Brandner Johann Wolfgang Goethes Gretchen, kurz bevor er seinen Jahrgang auf Heyms Faust-Fragment ansetzt. Es ist ein Grauen, das den Leser bis zur letzten Seite des Romans begleitet und noch Tage später zum Grübeln über Neudeckers Blick auf den Faust’schen Pakt anregt.

Titelbild

Christiane Neudecker: Der Gott der Stadt. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2019.
669 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875668

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