Menschlichkeit 1.0

Paul Masons leidenschaftliche Rückbesinnung auf den verschwundenen Menschen

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer gegenwärtig zu einem politischen Sachbuch greift, ist möglicherweise mit einer (subjektiv zunehmenden) Rhetorik der Vereinnahmung und Aktivierung konfrontiert, mit nicht vor zuspitzenden Dramatisierungen zurückschreckenden Mitteln. Dies mag an den drängenden und zur Handlung reizenden Gegenwartsfragen liegen, die offenbar unmittelbare Reaktionen einfordern, wird dem Reflexionsbedürfnis als Form der Distanz aber nicht immer gerecht. Auch Paul Masons Text Klare, lichte Zukunft kann sich diesem vermeintlichen Sog der Leserinvolvierung durch direkte Fragestellungen ab der ersten Zeile nicht ganz entziehen, was den überzeugenden Grundansatz in seiner Wirkmächtigkeit aber keinesfalls schmälert, zumal er die Beobachtungen des Vorläufers Postkapitalismus durch Rückbezüge auf Grundgedanken des Humanismus entscheidend weiterführt und konkrete Perspektiven in der Diskussion um den in die Krise geratenen (Digital-)Kapitalismus bietet.

Trotz der übersichtlichen Gesamtlänge des Textes bietet Mason umfassende und kenntnisreiche Analysen der gegenwärtigen (Wirtschafts-)Lage, die – journalistisch pointiert – um das Konstrukt des neoliberalen Selbst kreisen, dessen radikale Auswüchse er zum Ausgangspunkt einer Neu-Perspektivierung humanistischer und an Karl Marx geschulter Gedanken nimmt: Einerseits formuliert er eine dezidierte Kritik an dem seit Jahrzehnten um sich greifenden Fatalismus und Glaubens an die Gesetze des Marktes verbunden mit der Ausbildung eines – überbetont wirtschaftlichen Logiken folgenden – Menschenbildes des zweidimensionalen homo oeconomicus. Die dem inhärente „Reduzierung der menschlichen Natur auf den wirtschaftlichen Wettbewerb“ verbrüdert sich aus Masons Sicht andererseits mit den Grundbedingungen einer digitalen Technologie, die das Subjekt zu einem Bündel vorhersagbarer Informationen degradiert und dessen Verhaltensweisen infolgedessen zum Zielpunkt ihrer Automatisierungsbestrebungen werden lässt. Zum einen liegt in diesem „technologiegestützten Antihumanismus“ gewissermaßen die von Algorithmen verschärfte Reduktion der Grundbedeutung von Menschlichkeit (die digitale Gegenwart bietet so offenbar nur eine „Antitheorie des Menschen“), zum anderen offenbart sich hier ein erhebliches Kontrolldefizit des Menschen, der die Einsicht in die Funktionsweise digitaler Technik verliert und hinter den Automatismen und Lernerfahrungen Künstlicher Intelligenz gänzlich unsichtbar wird.

Auch wenn die Beschäftigung mit Auffassungen Marx’ allzu reflexhaft zu bestimmten Etikettierungen führt, die Bezeichnung „Marxist“ als solche problematische Wertungen nach sich zieht, ist Masons Re-Vitalisierung eines der einflussreichsten Denker der Menschheitsgeschichte überhaupt für den gegenwärtigen Kontext hochproduktiv: Orientiert an seinem Grundansatz, dass der Mensch als Gattungswesen durch Sprache und Arbeit verändernd auf seine Umgebung (und in zweiter Instanz auf seine Natur) einwirkt und Technologie als hilfreiches Mittel dazu verwendet, will Mason menschliches Handeln im revolutionäres Sinne neu verstanden wissen im Rückgriff auf diese Ideen als den Umrissen wahrer Menschlichkeit. Eine solche Rückbesinnung auf den autonomen, selbst-bewussten und veränderungsorientierten Kern humanistischen Denkens (denkbar wären neben Marx auch andere Vertreter) steht offensichtlich konträr zu den gegenwärtigen Beobachtungen digitaler und marktbezogener Fremdsteuerung. Parallel zu diesem „neuen“ mindset plädiert Mason im utopischen Sinne und doch überaus konkret für die Relevanz technischer Maschinen als ethisch regulierte Systeme, die zur Förderung menschlicher Freiheit beitragen, die Überwindung von Monopolstellungen zugunsten von Vergesellschaftungen, die Etablierung eines Grundeinkommens sowie einer kostenlosen öffentlichen Grundversorgung und die konsequente Durchsetzung informationeller Selbstbestimmung gegen asymmetrisch funktionierende Informations- und Wissenssysteme.

Bei aller Nachvollziehbarkeit seiner Argumentation und dem überzeugten Anschreiben gegen die antihumanistischen Tendenzen der digitalen Gesellschaft bleibt doch zu fragen, wie flächendeckend und weitreichend mittlerweile die Zustimmung für das beschriebene Menschenbild der zielsicheren Verhaltensvorhersage ist, das heißt auch die bewusst hingenommene Reduktion auf wirtschaftliche Zweidimensionalität. Dazu wäre der vielzitierte Paradigmenwechsel von Freiheit in Richtung Sicherheit ebenso zu bemühen, in dessen Zusammenhang die permanente Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen Bedrohungsszenarios zum ebenso bewussten Verzicht auf Freiheit und Selbstbestimmung anleitet. Nicht zu vernachlässigen ist drittens auch die Relevanz einer Konsumlogik, die ihrerseits zur Umkodierung traditionell humanistischer Wertvorstellungen beiträgt. Masons Vorschläge zur gesellschaftlichen Neuausrichtung prallen daher möglicherweise auf die Veränderungsträgheit des schleichend bereits Akzeptierten; revolutionär im Sinne des radikal Neuen sind sie nicht, zumal sie – fast konservativ – das Menschsein ernstnehmen.

Titelbild

Paul Mason: Klare, lichte Zukunft. Eine radikale Verteidigung des Humanismus.
Übersetzt aus dem Englischen von Stephan Gebauer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
415 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428603

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