Ein Stück Zeitgeschichte

Aya Cissoko befragt in ihrer autobiografischen Erzählung „Ma“ das Leben ihrer verstorbenen Mutter und zeichnet so zugleich ein authentisches Bild unserer Gegenwart

Von Nelly HaagRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nelly Haag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Aya Cissoko ist in jedem Wort präsent. In jedem Wort, das sie in der nur 186 Seiten schmalen Erzählung Ma formuliert, um, beginnend mit dem Tod ihrer Mutter, über das Leben zu schreiben, sind ihr eigenes Leben und ihre eigene Erfahrung enthalten. Dabei gleicht ihr Ton, den Beate Thill sehr klar für den Wunderhorn Verlag aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt, eher dem eines drängenden Berichts, der über ferne und nahe Erinnerungen ein Leben und einen Verlust nachzuvollziehen sucht, den es vor allem selbst zu begreifen gilt. In scheinbarer Unordnung wird man in kurze Kapitel mit prägnanten Überschriften geworfen, die bruchstückhaft und ohne erkennbaren erzählerischen Strang von Cissokos Aufwachsen in Paris erzählen.

Darin stellt sich die Einwanderung Cissokos Eltern aus Mali in das Frankreich der 70er Jahre zwangsläufig als die Verbindung einer Lebenswelt mit einer anderen Lebenswelt dar. Dazu gehört die Schilderung von Menschen, die aufgrund ihrer (vermeintlichen) Herkunft diskriminiert werden, genauso wie die Schilderung malischer Clanstrukturen. Die Schilderung von Menschen in prekären Jobs, die für zu wenig Geld zu viel arbeiten, genauso wie die von Federvieh, das aus traditionell-medizinischen (Arbeits-)Gründen in Wohnungen gehalten wird. Die Schilderung einer Lebenswelt, zu der polygame Eheverhältnisse und arrangierte Eheschließungen im Alter von 15 Jahren zählen, genauso wie die Schilderung einer Welt, in der Menschen, wie Aya Cissoko, Vater und Schwester verlieren, weil andere Menschen Brände in ihren Wohnheimen legen.

Sicherlich können sich Einordnungen in Begriffspaare wie „Tradition und Moderne“ oder „Mali und Frankreich“ aufdrängen, die dann die Erzählung den Orientierungsversuchen der „zerrissenen zweiten Generation“ zuschreiben wollen. Doch Ma ist das Porträt einer Frau, die sich vor allem als Frau und alleinerziehende Mutter in der Gesellschaft behaupten muss und dabei oft im Widerspruch zu den Ansichten ihrer heranwachsenden Tochter steht. Didaktisch geschickt gelöst, wird uns die Tochter so zum erzählerischen Spiegel der Emanzipation ihrer Mutter: Denn alles Erzählte wird uns stets mit ihr, indem sie es erinnert und indem wir davon lesen, auf natürliche, Einordnungen vermeidende Weise vertraut. Die Zweisprachigkeit der Erzählung, die neben dem Französischen in häufigen unkommentierten Einschüben aus Cissokos zweiter Muttersprache Bambara besteht, unterstreicht diese rigoros zur Schau gestellte Haltung, die dabei jeden Pathos meidet: schaut genau hin, das ist unsere Gegenwart, sie ist nicht das Eine oder das Andere, sie ist beides, sie kann universell sein – sie widersetzt sich dem Prinzip der Zuschreibung.

Cissoko gelingt diese Reise in die Erinnerung der „Kinder der Toten“ als eine Reise in die Gegenwart, welche ihre Perspektive auf das Leben (mit) der Mutter nutzt, um sich persönlich, kritisch und durchaus politisch des Hier und Jetzt zu vergegenwärtigen. Es ist dieser balancierenden, langweilige Einordnungen vermeidenden Erzählweise zu verdanken, dass in Ma auf die supranationalen Probleme der heutigen Gesellschaften aufmerksam gemacht werden kann: Indem eine Tochter von einer Mutter erzählt und damit viel mehr meint. Und genau so ist Aya Cissoko uns mit jedem Wort präsent.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2019 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2019 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Aya Cissoko: Ma. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Beate Thill.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2017.
191 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783884235720

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