Die absurde Gleichzeitigkeit des modernen Lebens

Wie Lennardt Loß die Ästhetik der Serie – nicht ganz unfallfrei – in die Literatur rücküberführt

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die fruchtbare Verbindung von Literatur und Film ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten insbesondere mit Blick auf die Wirkmächtigkeit amerikanischer Serienformate ausbuchstabiert worden – gerade hinsichtlich der Frage, wie visuelle Medien narrative Techniken aufgreifen und für ein möglicherweise anderes Publikum attraktiv gestalten. Mit Lennart Loßʼ Roman Und andere Formen menschlichen Versagens verfestigt sich jedoch der (zugegebenermaßen erwartbare) Eindruck, dass die Rückwirkungen von Serienästhetiken auf genuin literarischen Formen letztere in einer Weise bearbeiten können, die die kritischen Vertreter eines klassischen Erzählens auf den Plan rufen.

Loßʼ Ansinnen – so muss man fairerweise direkt zu Beginn einräumen – zielt dabei offensichtlich gar nicht erst auf eine Art literarischen Realismus oder die Ausgestaltung einer spezifischen, eng eingrenzbaren Konfliktlage tief und komplex gezeichneter Figuren. Auf 156 leserfreundlich bedruckten Seiten persifliert er fast den im Kern urliterarischen Impuls, einen Möglichkeitsraum zu entwerfen und ein Szenario zu simulieren, zumal seine Geschichte – wie spätestens nach dem zweiten Absatz deutlich wird – früh ins Groteske abdriftet sich mit enormer Geschwindigkeit von Wendung zu Wendung hangelt, wohldosiert mit der unterhaltenden Würze von Sex, Gewalt und Absurdität. Mindestens genauso absurd mutet daher die Absicht an, das ausgebreitete Szenario chronologisch einfangen zu wollen; dennoch sei zumindest angeführt, dass sich der erzählerische Rahmen auf den Flugzeugabsturz eines von Frankfurt am Main Richtung Buenos Aires aufgebrochenen Langstreckenflugzeugs über dem Pazifik konzentriert, bei dem Marina Palm, die Tochter eines „Parkhaus-Unternehmers“ und ehemaligen Bezirksbürgermeisters sowie der einstige RAF-Terrorist Hannes Sohr involviert sind. Angereichert wird das Setting in zeitlich loser Reihenfolge von begleitenden, im nahen und weiten Sinne auf den Absturz und das Verschwinden beider Figuren bezogenen Handlungssträngen, die ihrerseits „Kurzgeschichtenformat“ haben und nicht dazu beitragen, den Realitätsgrad der Erzählung substantiell steigern zu können: Von überaus hohem Unterhaltungswert aber sind die Einblicke in die Leben Acos, eines Nachwuchsboxers, der mit der Geschichte Marinas Geld verdienen will, ihrer exzentrischen Mutter, die seit dem Verschwinden der Tochter an einem blutrünstigen Horrorstreifen über deren Leben arbeitet, welcher bald zum amerikanischen Kultfilm avanciert, oder des seltsamen Jungen Vincent, der bei seinen täglichen Google-Earth-Erkundungen letzte Lebenszeichen der Verschwundenen findet und Jahre später zu ihrer Rettung beiträgt, allerdings schon.

Die von vielen Seiten (insbesondere im Zusammenhang mit dem Bachmannpreis 2018) vorgebrachte Kritik eines über weite Strecken überladenen und zufällig montierten Textes, dem gewissermaßen seine innere Struktur verloren geht, wird verstehbar vor dem Hintergrund und Erwartungshorizont der eingangs dargelegten Position klassischer Erzählweisen. Akzeptiert man jedoch diese – dann aber eher unterhaltungsorientierte und oberflächliche denn tiefschürfende – Ästhetik des Kurzweiligen, kommt man schnell in den Genuss eines gekonnten Erzählens, das ungemein zielsicher Dynamik, Ironie und einen Sinn für Perspektivwechsel kombiniert. Weit weg von einer nur spielerischen Konstruktion eines konsumierbaren Materials öffnet der Text bei genauerem Hinsehen auch Möglichkeiten des Nachdenkens über die Absurdität gegenwärtiger Gleichzeitigkeiten und spielt auf virtuose Art und Weise mit Aspekten der Existentialität: Das eigentlich dramatische Ereignis des Flugzeugabsturzes ist so eingebettet in ökonomische und konsumistische Kalküle, entfaltet darüber seine groteske Färbung und wirkt letztlich doch nicht allzu weit entfernt von der Lebenswirklichkeit des 21. Jahrhunderts.

Titelbild

Lennardt Loß: Und andere Formen menschlichen Versagens.
Weissbooks, Frankfurt am Main 2019.
156 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783863371753

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