Cherchez l[a]’intellectuel

Suchbild mit historischen Karikaturen

Von Michael StarkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Stark

Vorbemerkung der Redaktion: Der Debatten-Beitrag zum Thema „Intellektuelle“ von Sabine Haupt in der September-Ausgabe von literaturkritik.de hat unseren Mitarbeiter Michael Stark zu folgenden Ergänzungen und Hinweisen motiviert. Bereits im Rahmen des Themenschwerpunktes „Intellektuelle“ in der Mai-Ausgabe 2003 hatte sich Michael Stark mit neueren literaturwissenschaftlichen Forschungen zu dem umstrittenen Begriff auseinandergesetzt, später noch einmal in der Juli-Ausgabe 2014. 1982 ist seine Dissertation „Für und wider den Expressionismus. Die Entstehung der Intellektuellendebatte in der deutschen Literaturgeschichte“ (J.B. Metzler) erschienen, 1984 seine Dokumentensammlung „Deutsche Intellektuelle 1910-1933. Aufrufe, Pamphlete, Betrachtungen“ (Lambert Schneider).

Frauen blieben sowohl bei der systematischen Analyse von Intellektuellendiskursen als auch in Darstellungen zur Geschichte der Intellektuellen in Deutschland und in der Revue großer intellektueller Figuren lange ganz ausgeblendet. Auch das methodische ‚update‘ im Feld der Sprach- und Literaturwissenschaft Ende der 1970er Jahre unter dem Vorzeichen, die Wort-, Begriffs- und Sachgeschichte des/der Intellektuellen als Teilagenda der facheigenen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit fortzusetzen[1], ließ die Frage nach Künstlerinnen und Schriftstellerinnen in der Rolle als öffentlich engagierte Intellektuelle und Fragen nach spezifisch weiblichen Interventionsstrategien weithin außen vor. Ohne Zweifel hat dieses frag- wie merkwürdige Defizit zu einer teils durch die philosophische Postmoderne-Debatte, teils durch die Frauen- und Genderforschung inspirierten Problematisierung des Rollenprofils und der Sozialgestalt ‚Intellektuelle/r‘ überhaupt beigetragen.

Im Nachgang zu den Essays Tombeau de l’intellectuel et autres papiers von Jean-François Lyotard[2] vor allem wurden allerhand Totenscheine ausgestellt und die Geschichte der Intellektuellen in Deutschland per Forschungsreferat als Geschichte eines gescheiterten narzisstischen, autoritär-patriarchalen und pubertär-virilen Projekts gedeutet. Feministische Verve sprach sich zur Millenniumswende darin gar für terminologische Entsorgung aus: „Auf dem Boden der existentiellen Tatsachen erweist sich letztlich der im Reich der dünnen Lüfte beheimatete heimatlose Begriff ‚Intellektuelle‘ als ein von keiner Ideologie mehr getragenes Schlagwort, das, sofern es literarische Ahnen aufweisen kann, in den Büchmann eingehen und dort liegen bleiben kann als ein funktionsuntüchtiges, museales geflügeltes Wort ohne Flügel.“[3] Ungut provokativ formuliert, schien dieses Votum nicht nur abermals Theodor W. Adornos Sentenz zu bestätigen, Fremdwörter würden hierzulande wie die Juden der Sprache behandelt, sondern der Intellektuellendiskurs und seine deutsch-jüdische Tradition wurden darüber hinaus als antiquierte Bagatelle abgetan. Wie autonom und unpolitisch es auf dem existentiellen Boden der Wissenschaften zugeht und wie es um die Geschichte der Sprecherrolle von Wissenschaftlerinnen als Intellektuelle steht, wurde dagegen nicht recherchiert; weder die Ausgrenzung der Frauen als Autorinnen und Intellektuelle in der Literatur- und Intellektuellengeschichte noch die subtileren Barrieren im facheigenen Berufs- und Karrierefeld fanden in der Forschung angemessene Beachtung.[4]

Ein Jahrzehnt später nannte Barbara Vinken in einem dem Thema ungleicher Präsenz von Frauen in den Wissenschaften gewidmeten Artikel mit dem Titel Die Intellektuelle: gestern, heute, morgen vier Vorurteile, mit denen sich männliche ‚Lufthoheit‘ immunisiert: Erstens sei im Szientifischen die Geschlechterdifferenz nicht einschlägig relevant, sondern reiner Zufall, dass in professoraler Funktion überwiegend Männer tätig wären, oder es handle sich lediglich um eine normale sozial bedingte Präferenz. Zweitens werde historisch argumentiert: Bis die Frauenemanzipation zu völliger praktizierter Gleichheit gelange, bedürfe es auch in Forschungseinrichtungen und Universitäten eben der Geduld weiblicher Akademiker: „Eines Tages werde es auch bei den Intellektuellen dazu kommen.“ Drittens werde mitunter noch das biologistische Ressentiment gepflegt, die „Gehirnstruktur der Frauen“ sei einfach anders und daher nicht für alle Disziplinen geeignet. Viertens sei die psychische Konstitution der Frauen angeblich zu der für wissenschaftliche Leistungsakribie notwendigen Sublimation unfähig. „Der Intellektuelle“, lautete das Resümee dieser sanften Polemik, „ist nicht bloß dem grammatischen Geschlecht nach männlich“; und Beiträge über „feministische Intellektuelle“ sind nötig, solange sich Projektionen der gender anxiety und Praktiken misogyner ‚Männlichkeit‘ der Emanzipation der Frauen entgegensetzen.[5]

Pure ‚Männersache‘ freilich waren gerade Intellektuellendebatten und kritisch eingreifende Publizistik nie, und das Rollenfach zumal in Friedens-, Frauen-, Arbeiterbewegung und zivilgesellschaftlichen Organisationen war meist bestens besetzt. Ebenso dürfte das Etikett ‚Intellektuelle‘ heute kaum mehr dominant männlich konnotiert sein. Einen kleinen Unterschied verzeichnet der Duden online semantisch nach wie vor: Während der/die ‚Intellektuelle‘ in deskriptiver Erstbedeutung gleichlautend als eine männliche oder weibliche Person erläutert wird, „die wissenschaftlich [oder künstlerisch] gebildet ist und geistig arbeitet“, ist ‚Intellektueller‘ in der zweiten, abwertend gemeinten Bedeutung neutral und ohne Zusatz als „Verstandesmensch“ erläutert, die ‚Intellektuelle‘ jedoch anders als eine „weibliche Person, deren Verhalten [übermäßig] vom Verstand bestimmt wird.“ (https://www.duden.de/rechtschreibung/Intellektuelle) Der referierte allgemeine Sprachgebrauch scheint demnach die Meinung als populär widerzuspiegeln, dass es oft besser sei, dem ‚Bauchgefühl‘ zu folgen als den Einsichten des eigenen Intellekts.

Ohne Referenz auf das Genderproblem, offenbar auch kaum gestört durch das narrative Modell von Aufstieg und Untergang, Geburt und Tod, Größe und Verfall der Intellektuellen, aber in Kenntnis der programmatischen Versuche, die Rolle des/der Intellektuellen zeitgemäß zu formatieren, stellt Sabine Haupt im Titel ihres Debatten-Beitrags zur September-Ausgabe von literaturkritik.de  die Frage Sind Intellektuelle eine bedrohte Spezies? und widmete dieser „Spezies“ mit Sympathie und viel Sinn für Ironie einen Essay zur ideengeschichtlichen Inventur. Tatsächlich ist ja in den letzten zehn Jahren weder das Forschungsinteresse am Gegenstand versiegt[6] noch die Absenz typischer Intellektuellendiskurse zu berichten. Selbstreflexionen über die Rolle als ‚Intellektuelle‘ im digitalen Zeitalter zum Beispiel oder Debatten über brisante Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Kultur finden öffentliches Interesse. Und ungeachtet zutreffender Analysen zu veränderten medialen Bedingungen für erfolgreiche intellektuelle Interventionen wirkt die Cicero-Rangliste der einflussreichsten Intellektuellen nicht gerade wie ein Red Data Book für aussterbende Arten. (https://www.cicero.de/kultur/peter-sloterdijk-deutschland-wichtigster-intellektueller-liste-500) An wissenschaftlich, künstlerisch, philosophisch, religiös, literarisch oder journalistisch tätigen Menschen, die in ihrem jeweiligen Arbeitsbereich ausgewiesene Kompetenzen erworben haben und in öffentlichen Kontroversen kritisch oder affirmativ Stellung nehmen, besteht wirklich kein Mangel. Unter den wichtigsten weiblichen Intellektuellen prominierten zuletzt die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die Feministin Alice Schwarzer und die Schriftstellerin Juli Zeh auf den Plätzen 7, 9 und 11. Evaluiert durch die Präsenz in 160 deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften, die Anzahl von Zitationen im Internet, Treffern in der wissenschaftlichen Literaturrecherche Google Scholar und anhand der Querverweise im biografischen Archiv Munzinger führt Peter Sloterdijk, ein philosophischer Autor germanistischer Provenienz immerhin, vor dem Grandseigneur Jürgen Habermas das Ranking an. Aber zugegeben: Viele Germanisten sind nicht darunter.

Fluchtpunkt der Überlegungen zum „ambivalenten Image“, zum derzeitigen Hype-Thema „Populismus und Intellektuelle“, zur Dekonstruktion hybrider Ansprüche der Intellektuellen, zu Aspekten des Versagens und Glaubwürdigkeitsverlustes sowie zu der für eingreifendes Denken erforderlichen Paarung von wissenschaftlicher Kompetenz mit sozialer Empathie ist natürlich auch im genannten Essay die Frage nach der zunehmend limitierten Reichweite kritisch-libertärer Streitkultur, die mit den Resonanzräumen der ‚sozialen‘ IT-Medien nur sehr bedingt konkurrieren kann und sicherlich nicht das breite Publikum hat, das beispielsweise der eingangs des Essays erwähnte Song des Liedermachers Reinhard Mey zur Intellektuellenfrage im Jahre 1972 erreichte. Vielleicht sollte man den Text des Chansons ganz kennen, um einerseits seinen Erfolg und andererseits die damalige Kritik an ihm als krudem Gesinnungsgesang angemessen einschätzen zu können: „Annabelle, ach Annabelle / Du bist so herrlich unkonventionell / Du bist so wunderbar negativ / Und so erfrischend destruktiv / Annabelle, ach Annabelle / Du bist so herrlich intellektuell / Ich bitte dich, komm sei so gut / Mach meine heile Welt kaputt! / Früher war ich ahnungslos wie ein Huhn / Doch sie erweitert mein Bewusstsein nun / Und diese Bewusstseinserweiterung / Ist für mich die schönste Erheiterung / Seit ich auf ihrem Bettvorleger schlief / Da bin ich ungeheuer progressiv / Ich übe den Fortschritt und das nicht faul / Nehme zwei Schritt auf einmal und fall‘ aufs Maul.“ [Refrain] (https://www.songtexte.com/songtext/reinhard-mey/annabelle-53da07f5.html) Seinerzeit wurde kritisiert, dass diese Satire auf die Studentenbewegung aus dem ohnehin weitverbreiteten „Unmut gegen linksintellektuelle 68er“ habe Kapital schlagen wollen. Man mag solche Texte nach epigonaler Resteverwertung zum ‚linksgrün versifften‘ Feindbild im rechtspopulistischen Jargon noch einmal in anderem Licht lesen. Dass sich die satirische Intention an einer weiblichen Vertreterin des karikierten Milieus abreagierte, ist der Punkt, um den es hier geht. Im Jahr 1977 übrigens, als der RZ- und RAF-Terrorismus die Republik herausforderte, lösten sich in einem parodistischen Song des Schweizer Liedermachers Stephan Sulke als zeittypisch angesetzte intellektuelle Kommunikation und politisches Räsonnement in unverbindliches, wohl ebenso eher als weiblich assoziiertes WG-‚Blabla‘ auf: „Die Intellektuellen / Die hören gerne Blues / Bei denen tanzen die Forellen / Im selbstgemachten Apfelmus / Ja also wenn Sie sich die Esoterik der Tiefe der Seele betrachten / Sie das war eben ein doppelter Genitiv das ist natürlich nicht sehr gut / Was heißt hier nicht sehr gut / Na ja Sie müssen das nicht so esoterisch sehn Also ich würd doch / sagen daß / wirtschaftspolitisch die Welt der Ameise natürlich auch eine gewisse Hintergründigkeit hat / Was heißt hier Politik Mensch / Sie haben wohl nen kleinen Tick / Übrigens wollen Sie noch nen Whisky / Ja gerne Mensch / Was würde die Welt ohne uns machen / Die Intellektuellen.“ [Refrain] (https://www.flashlyrics.com/lyrics/stephan-sulke/die-intellektuellen-84)

Nur kurz soll am Beispiel historischer Karikaturen darauf aufmerksam gemacht werden, dass sich das Intellektuellen-Bashing schon seit der Dreyfus-Affäre[7] in der scheinbar humoristischen Bildpublizistik diverser Männlichkeitsphantasien bediente, die gleichermaßen gegen Frauenemanzipation wie gegen die Rolle des/der Intellektuellen gerichtet waren. Dass intellektuelle Frauen dabei als maskulin und unattraktiv lächerlich gemacht werden sollten, wäre zu ergänzen. In emblematischer Deutung sind die meisten Karikaturen als semantischer Cluster von Inscriptio (Überschrift), Pictura (bildlicher Darstellung) und Subscriptio (Unterschrift) zu verstehen.

Abbildung 1

 

Caran d’Ache [d.i. Emmanuel Poiré]: Bei den „Intellektuellen“. In: Jugend. Münchner Illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben. Jg. 4, 1899, Bd. 1, Nr. 4, S. 63. Nachdruck.   

Die propagandistische Botschaft der Karikatur ist klar: Die Pictura zeigt gelangweilte Damen im Outfit des Fin-de-Siècle in Erwartung einer Aufforderung zum Tanz aufgereiht, indes die Männer unter sich bleiben und, durch die Inscriptio „Bei den ‚Intellektuellen‘“ als Anhänger der Dreyfus-Partei kenntlich gemacht, erregt diskutieren, statt sich um das weibliche Geschlecht zu kümmern. Die Subscriptio „Chor der Damen: ‚Ein Königreich für einen Lieutenant!‘“ unterstreicht die Absicht des russisch-französischen Karikaturisten E. Poiré (* 1858 vel 1859–1909), ein Antidreyfusard und Mitherausgeber der Pariser Zeitschrift „Le Psst…!“, die vom 5. Februar 1898 bis 16. September1899 wöchentlich erschien, nicht allein für das Militär Partei zu ergreifen, sondern die Mitstreiter Émile Zolas als Gegner bloßzustellen, die für weibliche Wünsche und Reize nicht viel übrig haben. Wer meint, dieses Stereotyp habe sich nach mehr als einem Jahrhundert erledigt, wird durch den Pop-Literaten und Medienintellektuellen Joachim Lottmann eines sozusagen Schlechteren belehrt. Anlässlich der Verleihung des Deutsch-Französischen Medienpreises am 4. Juli 2018 war tags darauf in Welt kolportiert und als kritischer Kommentar folgendes gedruckt:

Es ist auch gerade Fashion Week in Berlin, zudem lädt die französische Botschaft zum anschließenden Empfang, und so mischen sich auch einige irritierend schöne Französinnen unter die alten, mächtigen, weisen Männer und Frauen. Françoise Hardy in jung. Man hat ganz vergessen, dass Frauen so aussehen können, so zeitlos chic. Jürgen Habermas, so wird sich noch zeigen, hat kein Auge für sie. Er scheint geradezu der Prototyp des weltfremden, abgehobenen, sich unverständlich ausdrückenden Professors zu sein, der die Freuden und Leiden der Normalsterblichen nicht kennt und nicht kennen will. (https://www.welt.de/kultur/article178840510/Juergen-Habermas-Die-Mitveranwortung-linker-Denker-am-Rechtsruck-in-Deutschland.html)

Die Ehrung erfuhr Habermas nicht zuletzt für seine politischen Essays und eine Publizistik, die den eigenen Definitionen der Rolle der/des Intellektuellen in der Demokratie entspricht:

Die Intellektuellen wenden sich, wenn sie sich mit rhetorisch zugespitzten Argumenten für verletzte Rechte und unterdrückte Wahrheiten, für fällige Neuerungen und verzögerte Fortschritte einsetzen, an eine resonanzfähige, wache und informierte Öffentlichkeit; sie rechnen mit der Anerkennung universalistischer Werte, sie verlassen sich auf einen halbwegs funktionierenden Rechtsstaat und auf eine Demokratie, die ihrerseits nur durch das Engagement der ebenso mißtrauischen wie streitbaren Bürger am Leben bleibt. Nach seinem normativen Selbstverständnis gehört dieser Typus in eine Welt, in der Politik nicht auf Staatstätigkeit zusammenschrumpft; in der Welt des Intellektuellen ergänzt eine politische Kultur des Widerspruchs die Institutionen des Staates.[8]

 Abbildung 2

 

Erich Schilling: Die Intellektuellen. In: Simplicissimus. München. Jg. 26, Heft 1, 1. April 1921, S. 4.

Die Subscriptio lautet: „Mit diesem Maier läßt sich’s schlecht über Erotik und sexuelle Fragen sprechen. Der Bengel wird gleich aktiv.“ Urheber der Karikatur ist der dem Jugendstil und Art Déco affine Zeichner Erich Schilling (1885 – 1945). Die Inscriptio lautet „Die Intellektuellen“, im damals populären ,framing‘, d.h. in der rahmensetzenden Ligatur von Begriff und Wertung, längst schon ein überwiegend pejoratives Schlagwort mit negativen Konnotationen. Die Pictura zeigt leger, nicht unbedingt formbetont gekleidete, von der beengenden Korsetage der Wilhelminischen Kaiserzeit befreite Damen mit modischem Bubikopf. Nach dem mythologischen Modell der Grazien sind es deren drei; Pfeife oder Zigarette und Kaffee gehören zur weiteren Genderperformance. Zweifellos befindet man sich im Atelier eines Künstlers, den angedeuteten Bildern nach, die an Kandinsky, Jawlensky, Marc bzw. Macke erinnern sollen, ist der abwesende Herr ganz offenkundig ein Expressionist und womöglich Sexist in Zeiten, die noch keine MeeTo-Bewegung kannten. Rätsel gibt die mediale Botschaft der Karikatur kaum auf: Intellektuelle überhaupt, der Expressionismus als intellektuelle Kunst und die intellektuell emanzipierte Frau werden karikierend so miteinander verschaltet, dass sich abschätzige Konnotationen gegenseitig überlagern. Am Ende stand die nur scheinbar witzige semantische Interferenz der NS-Propaganda zu Gebote, um die Ausbürgerung kritischer Intellektueller, die Denunziation sogenannter ‚Entarteter Kunst‘ und die Rückkehr vom ‚undeutschen‘ Bubikopf zum ‚deutschen‘ Gretchenzopf populistisch zu normalisieren.

Abbildung 3

Alois Florath: Intellektuelle. In: Lachen links. Berlin. Jg.3, Nr. 15. vom 9. April 1926, S. 170.

Zur Pictura: Unter einer Birke, Symbol der wiedererwachenden Natur und des Frühlings, der Jugendlichkeit, und als Maibaum noch heute als beliebte Dekoration abgeholzt, beobachten fünf Frauen, die durch Accessoires wie Brille, Kurzhaarschnitt und Krawatte als weibliche Intellektuelle mit geringem Körperkapital signalisiert sind, ein eventuell verliebtes Pärchen in der Ferne. Alois Florath (?–1944), von dem die Karikatur stammt, war Pressezeichner, Sozialdemokrat und später Antifaschist. Eher humoristisch und wohl nicht denunziativ gemeint, erscheint aber dennoch das angeblich lebensfremde, verkopfte, an Natur und Erotik zwar interessierte, aber unnatürliche Wesen weiblicher Intellektueller nachgerade altmodisch.

Abbildung 4

Oskar Garvens: Die Extreme. In: Kladderadatsch. Berlin. Jg. 86, Nr. 14, 2. April 1933, S. 212.

Obwohl zweideutig „Die Extreme“ betitelt, d.h. vorgeblich zwei gegensätzliche weibliche Rollenkonzepte als gleichermaßen übertrieben zu entlarven, zielt die Synthese aus Subscriptio („Schreckliche Vision einer Emanzipierten“) und Bildinhalt auf die intellektuelle Frau als den eigentlich extremen Phänotyp. Das Zerrbild der domestizierten Hausfrau und Mutter existiert nämlich nur als fremde Chimäre und verraucht im Zigarettenqualm der mit Attributen wie Monokel, Scheitelfrisur, Sakko, Stehkragen und Krawatte als androgyn und luxurierend dargestellten Intellektuellen. Der Bildhauer, Zeichner und Karikaturist Oskar Garvens (1874-1951) verbreitete schon vor der Machtübernahme im Kladderadatsch antisemitische sowie fremden- und menschenfeindliche politische Karikaturen im Sinne der NS-Ideologie. Wo rechtspopulistische Propaganda angeblicher ‚Umvolkung‘ und Manipulation diffuser Ängste vor Fremden und Flüchtenden ihr Vorbild hat, macht beispielsweise Garvens Karikatur mit der Überschrift „Europas drohende Vernegerung“ evident (In: Kladderadatsch. Berlin. Jg. 86, Nr. 44, 29. Oktober 1933, S. 697). Die Subscriptio kontrastiert den Wahlspruch der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!“ und fünf gereimte Vierzeiler mit dem Titel „Der gleiche Schritt und Tritt“, die den Austritt aus dem Völkerbund poetisch ratifizieren. In der Pictura steigt ein nur leicht bekleideter, bewaffneter, riesenhaft und als kriegslüstern karikierter schwarzer Mann mit sinnlichen Lippen vom afrikanischen Kontinent ins Mittelmeer, während Frau Europa auf dem Stier und in einem mit „Liberalismus“ beschriebenen Sattelzeug am gegenüberliegenden Ufer verzückt die Arme zum herzlichen Empfang ausbreitet.

Es verwundert nicht, dass noch in den 1960er Jahren und vor der Protestkultur der 68er-Generation heteronormatives Denken absolut vorherrschte, man die Geschlechter dual in Frau und Mann einteilte und häufig noch einmütig in der Überzeugung war, dass Intellektuelle als problematische Sozialerscheinung, Vertreterinnen der Rolle jedoch als seltener Sonderfall eigener Betrachtung bedürfen. Davon zeugt u.a. der Artikel Die Intellektuellen – unsympathisch (In: Die Zeit, Nr. 45,  5. November 1965) von Gerd Rinck (1910 – 2007), einem Juristen und CDU-Politiker, der von 1953 bis 1958 als Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz tätig war und danach an der Georg-August-Universität Göttingen als ordentlicher Professor an der Juristischen Fakultät lehrte. In Duktus und Argumentation zeitsymptomatisch und durchaus aufschlussreich für die Frage nach der Wiederkehr pseudoliberaler und restaurativer Tendenzen, sei die Passage über „Charmante, radikale Frauen“ aus einer Zeit mitgeteilt, in der man noch wenig Aufhebens von fehlender politischer Korrektheit machte:

Unsere Väter hatten einen Abscheu vor der intellektuellen Frau. Sie war der Blaustrumpf: unelegant, muffig, ohne Charme, nur fachlich ansprechbar. Glücklicherweise ist diese Figur fast verschwunden. Die berufstätigen Frauen haben vorzüglich gelernt, attraktiv und charmant zu sein. Wir danken es ihnen – manchmal sogar auf den Knien. Heute ist die intellektuelle Frau also charmant, wenn sie sich nicht gerade an Kreise verliert, in denen auch die Männer es für wesentlich halten, ungepflegt und verlebt auszusehen. Das tut man aber nur in recht jungen Jahren. Reife kommt später.

Die intellektuelle Frau genießt vor allem einen Zug des Intellektuellen, nämlich den Radikalismus. Ohnehin ist das Abwägen und Maßhalten nicht die stärkste Seite der weiblichen Psyche. So tut die intellektuelle Frau offenbar leicht den Schritt vom Eros zum Sexus – jedenfalls wenn man einer Kronzeugin der intellektuellen Frau, Simone de Beauvoir, etwas glauben darf.

Die Gleichberechtigung und das Überangebot an Arbeitsplätzen öffnen der Frau heute den Zugang zu allen Berufen, auch zu jeder intellektuellen Wirksamkeit. Trotzdem ist die Zahl der intellektuellen Frauen gering. Das liegt nun keineswegs daran, daß es den Frauen an geistigen Gaben, an Logik und Gedankenschärfe fehlte. Diese Fähigkeiten sind vielleicht nicht voll ausgebildet, in der Anlage sind sie aber vorhanden. Ein Blick auf Stamm- und Skattische, eine Analyse der Illustrierten-Leser und Fernseh-Hörigen beiderlei Geschlechts wird ergeben, daß es ebensoviel stumpfe Männer wie Frauen gibt.

Die Minderzahl der intellektuellen Frauen erklärt sich daraus, daß viele Frauen, auch sehr intelligente Frauen, ihr Leben mit Haus und Kindern, vielleicht sogar mit ihrem Mann ausfüllen können und dabei glücklich sind. Gott sei Dank. Sie haben die Intelligenz, machen aber wenig Gebrauch davon. Sie sind vielleicht zu bescheiden. Leider.

(https://www.zeit.de/1965/45/die-intellektuellen-unsympathisch/komplettansicht)

Für Intellektuelle beiderlei Geschlechts gilt als Fazit: Wir brauchen die Intellektuellen ebenso wie Frauen, d.h. nicht an erster, sondern immer an zweiter Stelle. Sie sollten raten, nicht entscheiden.

Festzuhalten wäre abschließend vielleicht, dass die als forschungsgeschichtliches Resultat ausgegebene These, der Intellektuellendiskurs in Deutschland sei exklusiv von Männern für Männer geführt worden, auf einer ‚Augentäuschung‘ derer beruhte, die sie in den Diskurs lanciert hatten. Im Rollenfach des öffentlichen Intellektuellen finden sich viele Frauen: Hannah Arendt, Hanne-Margret Birckenbach, Margret Boveri, Elsbeth Margarete Buber-Neumann, Elsbeth Bruck, Carolin Emcke, Marion Gräfin Dönhoff, Hedwig Dohm, Grete Meisel-Hess, Marie Holzer, Ursula von Kardorff, Annette Kolb, Käthe Kollwitz, Annette Kuhn, Rosa Luxemburg, Erika Mann, Elisabeth Noelle-Neumann, Eva-Maria Quistorp, Iris von Roten, Bertha von Suttner, Marianne Weber, um einige zu nennen.[9] In der Historiographie mag dieses Faktum noch nicht hinreichend zur Geltung gebracht sein.

In Anlehnung an entsprechende Überlegungen des Soziologen Hartmut Rosa zur Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses empfiehlt Sabine Haupt diesem, das „Rollenfach des öffentlich agierenden Intellektuellen“ beherzt wahrzunehmen: „Es vakant zu lassen, wäre nicht nur jammerschade, sondern vermutlich auch ein gravierender politischer Fehler.“ Die dabei unvermeidliche „Gratwanderung“ wäre vermutlich weniger prekär, wenn man im Sinne Michel Foucaults im intellektuellen Engagement die jeweils erworbenen akademischen Kernkompetenzen und im Sinne Pierre Bourdieus kollektiv und korporativ nutzen kann. Sollen Internet und Straße wieder für zivilgesellschaftlichen Ton und Anstand frei werden, können Sprach- und Literaturwissenschaftler konkret z.B. die Sprache und Kommunikationsstrategien rechtsalternativer Polit-Propaganda analysieren.[10] Klar sollte markiert und wahrzunehmen sein, wann man als Fachexpertin bzw. Fachexperte spricht und wann in der Rolle des/der Intellektuellen, die nie emotionslos oder apolitisch sein kann, sondern eben immer geprüftes Wissen mit existentiellen Interessen verbindet. Übrigens hat Reinhard Mey in dem Song Der Biker (1998) Annabelle um Entschuldigung gebeten: „Der Biker ist ‚ne Bikerin, der Kerl ist weiblich, / Hey, ist das nicht meine alte Freundin Annabelle! // Annabelle, diesmal machen wir zwei es richtig,/ Was mal schiefgegangen ist, ist nicht so wichtig, / Diesmal Annabelle, diesmal treiben wir’s bunt! / Vergiß meine Wortspiele mit deinem Namen, / Mach mir noch ein paar Erste-Hilfe-Maßnahmen / Dann beatme mich noch etwas Mund-zu-Mund!“ (https://www.songtexte.com/songtext/reinhard-mey/der-biker-3bda04a0.html)

Anmerkungen

[1] Dietz Bering: Die Epoche der Intellektuellen 1898-2001. Geburt – Begriff – Grabmal. Berlin 2010; Erweiterung von: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. Stuttgart: 1978.

[2] Paris: Éditions Galilée 1984, deutsch: Grabmal des Intellektuellen. Wien, Graz: Böhlau 1985. 2., überarb. Aufl. Wien: Passagen Verlag 2007. Zur Kontinuierung der Forschung siehe bes.: Christophe Charle: Les intellectuels en Europe au XIXème siècle. Essai d’histoire comparée. Paris 1996; dt.: Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2001; Gangolf Hübinger: Die politischen Rollen europäischer Intellektueller. In: Ders./Thomas Hertfelder (Hg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik. Stuttgart 2000, S.  30–44; Ders.: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte.

[3] Jutta Schlich: Geschichte(n) des Begriffs ‚Intellektuelle‘. In: Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat. Hg. von Jutta Schlich. Tübingen: Niemeyer 2000. (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 11. Sonderheft), S. 1-109, hier S. 108.

[4] Siehe Barbara Becker-Cantarino: Genderforschung und Germanistik. Perspektiven von der Frühen Neuzeit bis zur Moderne. Berlin 2010 (Germanistische Lehrbuchsammlung Bd. 86).

[5] In: Aus Politik und Zeitgeschichte 40/2010, 4. Oktober, S. 13-18; Zitate hier S. 14 und 18.

[6] Bernd Greiner, Tim B. Müller und Claudia Weber (Hg.): Macht und Geist im Kalten Krieg. Hamburg 2011; Alexander Gallus: Heimat Weltbühne. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert. Göttingen 2012; Daniel Münzner: Kurt Hiller: Der Intellektuelle als Außenseiter. Göttingen 2015; Johannes Tröger: Kulturkritik und Utopie. Das Denken rechter katholischer Intellektueller in Deutschland und Großbritannien 1918-1939. Paderborn 2016; Antonia Grunenberg: Götterdämmerung. Aufstieg und Fall der deutschen Intelligenz 1900-1940. Walter Benjamin und seine Zeit. Freiburg 2018; Hannelore Schlaffer: Rüpel und Rebell. Die Erfolgsgeschichte des Intellektuellen. Springe 2018 (zu Klampen Essays); Ulrich Schödlbauer, Joachim Vahland (Hg.): Das Ende der Kritik. München 2018; Alfons Söllner: Political Scholar. Zur Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts. Hamburg 2018.

[7] Vgl. zuletzt Philippe Oriol: L’histoire de l’Affaire Dreyfus de 1894 à nos jours, 2 Bde., Paris (Les Belles Lettres) 2014.

[8] Jürgen Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland. In: Merkur, Nr. 448, Juni 1986, S. 453 – 468; vgl. auch: Ders.: Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Die Rolle des Intellektuellen und die Sache Europas. In: Ders.: Ach, Europa. (Kleine Politische Schriften XI), Frankfurt/M. 2008, S. 77–87.

[9] Vgl. u.a. Weibliche Intellektuelle im 20. und 21. Jahrhundert, hg. von Ingrid Gilcher-Holtey. Tübingen 2015.

[10] Vgl. Heinrich Detering: Was heißt hier „wir“? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten. Stuttgart 2019; Matthias Heine: Verbrannte Wörter – Wo wir noch reden wie die Nazis und wo nicht. Berlin 2019.