„Romanul adolescentului miop”

Mircea Eliades ‚Roman des kurzsichtigen Jungen‘

Von Nicoleta EnciuRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicoleta Enciu

Der Debütroman Mircea Eliades handelt in Tagebuchform von der Adoleszenz eines frühreifen und literarisch ambitionierten Jugendlichen. Wir haben es mit einem autobiographischen Werk zu tun. Mircea Eliade (1907, Bukarest – 1987, Chicago) gilt bis heute als einer der wichtigsten Religionswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Manche sagen auch: Religionsphilosoph. Sich selbst bezeichnete er als Religionshistoriker. Sein umfangreiches literarisches Werk ist jedoch im Westen weniger bekannt. Als Eliade 1924 seinen ersten Roman schrieb, war er gerade 17 Jahre jung und Schüler des Spiru-Haret-Gymnasiums in Bukarest. Im erst 1989 veröffentlichten „Roman des kurzsichtigen Jungen“ (im rumänischen Original Romanul adolescentului miop) lässt Eliade den Jugendlichen sprechen. Der Autor behauptet in seinen 1966 veröffentlichten Erinnerungen sogar, „zum ersten Mal würde jetzt ein Jugendlicher über seine Schulzeit schreiben und sich dabei auf „Dokumente“ stützen“. Dabei ist der „Roman des kurzsichtigen Jungen“ – anders als die Erinnerungen, in denen der erwachsene Autor aus einer reiferen, von unvermeidlicher jugendlicher Selbstüberhöhung befreiten Sichtweise zu Wort kommt – mehr als die Autobiographie einer Zeitperiode. Nicht nur gewährt er als Geschichte der Selbstbildung einen tiefen Einblick in das Seelenleben eines außergewöhnlichen Heranwachsenden, sondern ermöglicht vor allem, den intellektuellen Werdegang eines der größten rumänischen Schriftsteller zu verstehen.

Seinem ersten Roman schrieb Eliade eine Vorbildfunktion zu: „Es sollte nicht nur ein autobiographischer Roman werden, sondern gleichzeitig ein exemplarisches Dokument jugendlicher Entwicklung“ (Erinnerungen). Eliade scheint damit Recht zu haben, denn tatsächlich gilt er als einer der wichtigsten Vertreter seiner Generation – nämlich der „Generation 1927“. Mit seinem Roman evoziert Eliade das Lebensgefühl der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, als die politischen Grenzen Rumäniens und die der rumänischen Nation zum ersten Mal übereinstimmten. Die Generation dieser Wendezeit wuchs unter völlig anderen Bedingungen als die vorherigen Generationen auf, da sowohl die tradierten Parteien und kulturellen Muster als auch die sozialen und familiären Konventionen plötzlich als veraltet galten. Die neu gewonnene Freiheit erklärt den Wissensdurst, der diese Generation kennzeichnete. Man las mit einem heutzutage erstaunlichen Impetus. Eliade und seine Kameraden interessierten sich für unterschiedliche Wissensbereiche und insbesondere für Literatur, sie veranstalteten Theateraufführungen und lebten in einem ständigen kulturellen Enthusiasmus. Das Politische war für die junge Generation jedoch nicht von zentralem Interesse.

Eliade versteht die Adoleszenz „als eine Epoche geistiger Entdeckungen und nicht als psychologische oder emotionale Krise“ (Erinnerungen). Dem kurzsichtigen Jugendlichen war seit früher Kindheit die eigene geistige Prävalenz bewusst. Der stets in sich gekehrte Blick des halbwüchsigen Protagonisten, der sich allen anderen überlegen fühlt, würde zuweilen egozentrisch und arrogant wirken, wenn man diese Haltung nicht durch die Errungenschaften in seinem späteren Leben bestätigt wüsste. Dem Schweizer Ethnologen und Psychoanalytiker Mario Erdheim zufolge sind die sogenannten „Größen- und Allmachtsphantasien“, ohne die es keine Kulturgeschichte gäbe, der treibende Motor der Entwicklung in der Adoleszenz. Und doch sind dem jungen Protagonisten im „Roman des kurzsichtigen Jungen“ die üblichen Sorgen des Jugendalters (erste Liebe, schulische Kümmernisse und Misserfolge und Anfälle von Wehmut und Selbstmitleid, Kameradschaft und Desillusionierung) keineswegs fremd. Trotzdem bleiben diese eher im Hintergrund. Der Erzähler wird durch seine Wissbegierde und seinen Intellekt abgesondert. Nur er hat sich durch Beharrlichkeit und Nüchternheit systematisch modelliert bzw. perfektioniert – durch Versuche des Schlafentzugs, Vereinsamung, Selbstbestrafung, Unterdrückung der Triebe und Versuchungen aller Art. Hinzu kamen verschiedene spirituelle Techniken. Diese Verfahren und Übungen dienten der Ausbildung seiner „Persönlichkeit“ – ein Begriff, den Eliade als Kern seines Denkens sieht. Sein Persönlichkeitskonzept besteht auf allumfassendem Wissen, starkem Willen und geistiger Freiheit. Was er unter dem Begriff „Freiheit“ versteht, präzisiert er in den Erinnerungen:

Die Freiheit, die ich erringen wollte, indem ich das Gegenteil des „Normalen“ tat, bedeutete die Überwindung meiner historischen, sozialen und kulturellen Bedingtheit. In gewisser Weise war ich dann nicht mehr vorbestimmt durch die Tatsache, dass ich als Rumäne geboren war, also einer provinziellen Kultur mit einer bestimmten Tradition angehörte, in der sich römische, griechische, slavische und, in neuerer Zeit, westliche Elemente mischten. Ich fühlte mich frei für jedes beliebige Abenteuer geistiger oder gar exotischer Art. […] Im Grunde widersetzte ich mich instinktiv jedem Versuch, nach gängigen Mustern geformt zu werden.

Man muss betonen, dass die identitäre Frage eines der wichtigsten Themen des Romans darstellt. Den Heranwachsenden beschäftigt besonders das Spannungsverhältnis zwischen wirklicher und vorgetäuschter Identität, zwischen Sein und Schein. Der Ich-Erzähler ist zugleich der Freund seiner Figuren und deren aufmerksamer Beobachter, der immer wieder feststellen muss, dass kaum jemand dem eigenen Wunschbild von sich gerecht wird. Diese Entdeckung führt zu rigorosen Selbstanalysen, die das ganze Spektrum der jugendlichen Widersprüche aufzeigen: Er schwankt zwischen der Überzeugung, anders zu sein bzw. anders werden zu müssen, und der Einsicht in seine Unzulänglichkeit und Unfähigkeit.

Er ist ein schüchterner, kurzsichtiger Junge, der seine Kameraden in intellektuellen Gesprächen überflügelt, jedoch sozial ungeschickt ist – mit spöttisch-ironischem Blick registriert er die Makel seiner Mitschüler und seiner Lehrer, sehnt sich aber zugleich nach Nähe und Anerkennung: Eliade komprimiert das Selbstbild des Heranwachsenden im von ihm gewählten Romantitel. Er sieht sich, oder besser gesagt, er glaubt, man würde ihn als einen Jungen sehen, der allein durch seine Kurzsichtigkeit gekennzeichnet wird. Dem Leser begegnet jedoch ein Protagonist, dessen wachsamer Blick die Welt und die Menschen beobachtet und zu verstehen vermag. Dieses alternierende Verhältnis von Selbstbild-Wunschbild-Fremdbild prägt das Seelenleben des Jugendlichen, der in dieser unauflöslichen Mischung aus Ungereimtheiten und Gegensätzen den Weg zum „wahren Ich“ sucht. Das Streben nach Authentizität fällt auch auf metaliterarischer Ebene auf: Der rote Faden des Textes ist der Plan des Ich-Erzählers, den „Roman des kurzsichtigen Jungen“, dessen Protagonist er selbst sein sollte, zu verfassen. Sollte dann die Gattungseinordnung aus dem Titel mehr als das Vorhaben des Protagonisten interpretiert werden als dass sie ein direkter Bezug auf den Text wäre? Auch wenn der Titel des Buches darauf hinweist, dass es sich um einen Roman handele, präsentiert der Erzähler den Text als gescheiterten Versuch, einen Roman zu schreiben. Man liest ihn mit der Erwartungshaltung, der eigentliche Roman werde gleich beginnen. Umso größer gestaltet sich die Überraschung am Ende des Textes, wenn man das Tagebuch zu Ende gelesen hat und feststellen muss, dass all dies schon der geplante Roman ist. Gattungs- und strukturmäßig erweist sich Eliades Roman als eine paradoxe Konstruktion, die gleichzeitig skizzenhaft und abgeschlossen, strukturiert und chaotisch erscheint.

Da der als Tagebuch getarnte Text den Eindruck erweckt, etliche Passagen seien lediglich Rohstoff für einen geplanten Roman, kann er auch als Metaroman gelesen und interpretiert werden. Der Ich-Erzähler übernimmt dabei die Rolle eines Metaerzählers, der über seine Figuren nachdenkt, ihnen verschiedene Eigenschaften zuschreibt. Er verfasst Portraits seiner Freunde, die er als potentielle Helden seines zukünftigen Werks betrachtet, und führt Dokumentationsgespräche mit seiner Cousine. Der ständige Wechsel zwischen den Erscheinungsweisen des Erzählers – dem Ich- und Meta-Erzähler – bedingt auch einen häufigen Wechsel in Stil und Ton. Wie der Autor später selbst erkennt, ist der „Roman des kurzsichtigen Jungen“ ein Mischgewebe aus verschiedenen Stilen: „[E]inige [Kapitel] waren lyrisch und furchtbar traurig, andere fast humoristisch und wieder andere hart, vehement“. Dies hängt selbstverständlich auch mit dem Prozess der Selbst(er)findung des Jugendlichen zusammen. Der Kontrast zwischen dem scheinbar Unfertigen und dem Fertigen, das Spiel mit mehreren Genres und mit unterschiedlichen gattungsspezifischen Schreibweisen, der manchmal ungeschliffene und teils naive Stil – all diese Texteigenschaften korrelieren mit dem Wesen des Heranwachsenden, mit dem Rauen und Unvollendeten, das die Adoleszenz allgemein kennzeichnet.  

Die im „Roman des kurzsichtigen Jungen“ behandelte Thematik legt einen Vergleich dieser rumänischen Geschichte mit deutschen Schulgeschichten der Jahrhundertwende nahe. Unzählige Romane befassen sich mit der Jugend als ausschlaggebender Lebensphase – um nur einige zu nennen: Unterm Rad (1906) und Demian (1919) von Hermann Hesse, Freund Hein (1902) von Emil Strauß, Der Schüler Gerber (1930) von Friedrich Torberg. Diese Titel schreiben sich in die literarische Tradition des Jugend- und Adoleszenzromans ein, der sich Anfang des 20. Jahrhunderts als eigenständiges Genre in der deutschen Literatur etabliert hat. Der wesentliche Unterschied zwischen Eliades „Roman des kurzsichtigen Jungen“ und dem deutschen Jugendbild, das beispielsweise in Freund Hein und Der Schüler Gerber verhandelt wird, ist die bewusste und konsequente Ablehnung der Feinfühligkeit als Merkmal der Adoleszenz. Der Kampf gegen die gelegentlichen Krisen der Melancholie als Schwächesymptom und Zeichen der Willenlosigkeit gehörte zu dem größeren „Projekt“ Eliades, nämlich der Persönlichkeitsbildung.

Mehr als 60 Jahre blieb der „Roman eines kurzsichtigen Jungen“ als Manuskript liegen und wurde erst zwischen 1983 und 1987 bruchstückhaft in diversen Zeitschriften veröffentlicht. Die ersten Leser gehörten der Generation der 1990er-Jahre an, die an der Revolution im Dezember 1989 beteiligt waren. Deren Jugend wurde, ähnlich wie die der „Generation 1927“ in den 1920er-Jahren, durch einen allgemeinen Werteumbruch gekennzeichnet, der alle Lebensbereiche erfasste. Liviu Bordaș, Philosoph am „New Europe College“ in Bukarest, behauptet, der „Roman des kurzsichtigen Jungen“ habe, auch wenn er ein völlig apolitisches Werk sei, nicht nur die existentielle, sondern auch – direkt oder indirekt – die politische Orientierung der Generation der 1990er-Jahre beeinflusst. Vor dem Hintergrund der Auflagenhöhen kann man Bordaș‘ These bestätigt sehen. Der Erfolg des Romans ließe sich dann dadurch erklären, dass sein Protagonist ein völlig anderes Bild von Adoleszenz bietet als das moralisierende oder das empfindsame aus den schulischen Lektüren. Sorin Alexandrescu, renommierter rumänischer Literaturkritiker, attestiert Eliades Werk als „Roman der Selbstfindung einer neuen Generation in einem neuen Land“ heutzutage sogar ein höheres Aktualitätspotential als zur Zeit seiner Veröffentlichung – denn als Mitglied der Europäischen Union erlebt Rumänien gerade wieder eine Periode der Wandlung und Erneuerung.

Literatur:

Eliade, Mircea: Romanul adolescentului miop. Chişinău 2016.

Eliade, Mircea: Diary of a short-sighted adolescent. Aus dem Rumänischen von Christopher Moncrieff. London 2016.

Eliade, Mircea: Erinnerungen 1907-1937. Aus dem Rumänischen von Ilina Gregori und Heinz Hermann. Frankfurt a.M. 1991.

Reschika, Richard: Mircea Eliade interkulturell gelesen. Nordhausen 2006.

Weblinks (zuletzt eingesehen 11/2017): 

https://vorbeste-romaneste.ro/web/vrcontent/opere/romanul-adolescentului-miop-2.pdf

https://www.observatorcultural.ro/articol/un-miop-neobisnuit/

http://jurnalul.ro/cultura/arte-vizuale/un-roman-a-carui-lectura-poate-forma-personalitati-518843.html

http://jurnalul.ro/cultura/arte-vizuale/eliade-calea-regala-a-propriului-destin-518963.html

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen