Alptraum Venezuela

In „Nacht in Caracas“ erzählt Karina Sainz Borgo von der Zerstörung ihres Heimatlandes und der Flucht als einzigem Ausweg aus der Logik des Terrors

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Venezuela ist in einer paradoxen Situation gefangen: Das Land besitzt die größten Erdölreserven der Welt, aber die Menschen suchen im Müll nach Essbarem und stehen stundenlang vor leergefegten Apotheken und Supermärkten, in der Hoffnung, doch etwas Reis oder Mehl, Öl, Klopapier oder Antibiotika kaufen zu können. Der Schwarzmarkt floriert, das Papier der Banknoten ist mehr wert als die Währung selbst, sodass nach Kolumbien geflüchtete Venezolanerinnen und Venezolaner die Scheine als Origamikunst auf der Straße feilbieten. Hilfslieferungen aus dem Ausland befeuern den Wettstreit des selbsternannten Interimspräsidenten Juan Guaidó und Präsident Nicolás Maduro, aber bisher hungern die Menschen weiterhin: Durch die prekäre Lage haben die Venezolanerinnen und Venezolaner im vergangenen Jahr durchschnittlich acht Kilogramm Körpergewicht verloren – die „Maduro-Diät“ heißt es im Volksmund. Zudem lässt Maduro die Bevölkerung von bewaffneten Parteimilizen kontrollieren, denn niemand soll schlecht über ihn – den Präsidenten – reden. Sein Volk soll ihn ehren und seine Regierung durch Denunziation von Oppositionellen im Kampf gegen Guaidó unterstützen.

Außerdem sind die Wasserversorgung und der Energiesektor durch jahrelange Misswirtschaft zusammengebrochen: Immer wieder liegt Caracas vollständig im Dunkeln, zahlreiche Menschen sterben in den Krankenhäusern, weil die Geräte, an die sie angeschlossen sind, nicht mehr mit Strom versorgt werden. Am 7. März diesen Jahres, als der Roman von Karina Sainz Borgo in Spanien veröffentlicht wurde, erlebte das Land den größten Blackout seiner Geschichte. Caracas lag in vollkommener Dunkelheit, die Trinkwasserversorgung fiel aus und die Kriminalität griff wie ein Lauffeuer um sich. Bereits im Jahr 2017 wurden in Venezuela zahlreiche Demonstranten – vorwiegend Jugendliche und Studenten – bei Protesten gezielt getötet: mit einem Schuss in die Brust, mit einem Schuss in den Kopf.

Dies ist das Panorama, vor dem sich der Debütroman Nacht in Caracas der venezolanischen Journalistin Karina Sainz Borgo abspielt, die vor dreizehn Jahren Venezuela verließ, um nach Spanien zu gehen, und nun mit diesem Roman einen Welterfolg landete. Der Text konfrontiert uns mit folgenden Fragen: Was bedeutet es heute in Venezuela zu leben? Wozu hat das Schrecken- und Angstregime von Maduro geführt? Was bleibt von den Venezolanerinnen und Venezolanern übrig, wenn sie ins Ausland fliehen, da sie im eigenen Land nicht mehr leben können? „Es ist die Geschichte eines Todes, des großen venezolanischen Todes…“ sagte Sainz Borgo in einem Interview mit Blickpunkt Lateinamerika über ihren Roman und in der spanischen Sendung Al Sur erklärte sie, dass alles, was im Roman geschehe, allegorisch zu verstehen sei. Und es stimmt: Mit Nacht in Caracas hat die Autorin eine tiefschürfende Allegorie über das heutige Venezuela geschrieben, die auch auf unserer Haut Narben hinterlässt. Anhand der Einnahme eines Wohnhauses in der venezolanischen Hauptstadt zeigt sie, wie Repression, Folter und Terror immer tiefer ins Leben der Menschen in diesem lateinamerikanischen Land eindringen, das die derzeit drittgrößte Flüchtlingskrise der Welt erlebt.

Die goldenen Zeiten, in denen Menschen aus Europa nach Venezuela auf der Suche nach einem besseren Leben kamen, sind in der Jetzt-Zeit der Handlung eindeutig vorbei. Einzig die Erinnerungen von Adelaida Falcón, der Protagonistin aus Nacht in Caracas, erzählen noch von Frühstücken mit Schweineschwarten, Tomaten, Avocado und Kaffee mit Zuckerrohrsaft und Zimt. Denn nun regieren Angst vor Entführungen, Folter, Ermordung sowie Hunger und Elend das Land. Der Terror macht auch vor den Häusern und Wohnungen der Menschen nicht Halt. Als Adelaida eines Tages von der Bäckerei zurückkommt, ist das Schloss ihrer Wohnungstür ausgewechselt – eine Gruppe jener Frauen, die dank der Krise einigermaßen lukrativen Handel mit den Lebensmittelkartons der Regierung treiben, hat ihre Wohnung besetzt. Mit einem Schlag haben sie ihr alles genommen, was ihr nach dem Tod ihrer Mutter noch geblieben war: das Keramikgeschirr mit bordeauxrotem Rand und einem Landschaftsbild in der Mitte, ihre Kleidung, ihren Pass – alles. In der Wohnung ihrer toten Nachbarin, die sie kurzerhand über den Balkon wirft, um sich ihres Leichnams zu entledigen, findet Adelaida schließlich Unterschlupf.

Doch schon bald muss sie die Wohnung mit dem jüngeren Bruder ihrer Freundin teilen, der vom Militärgeheimdienst bei einer Demonstration verhaftet, in weißgetünchten Räumen gefoltert und anschließend dazu gezwungen wurde, sich dem Kollektiv “Herederos de la Lucha Armada” anzuschließen, den Erben des bewaffneten Kampfes. Aber dann kommt Adelaida die zündende Idee: Wenn sie überleben will, muss sie sich langsam in ihre Nachbarin verwandeln, ihre Kleidung anziehen, den Pass fälschen, um als die „Tochter der Spanierin“ Venezuela in Richtung Europa zu verlassen. So wie Sainz Borgo selbst 2006 Venezuela hinter sich gelassen hat, um in Spanien ein neues Leben zu beginnen, so lässt Adelaida nun ihr Leben und ihre Identität zurück, um an der Tür einer Unbekannten zu klingeln und sich als deren Verwandte auszugeben.

Mit Nacht in Caracas hat Sainz Borgo ein wichtiges Zeitdokument der derzeitigen Situation in Venezuela verfasst. Wie fest die Logik von Terror, Angst und Schrecken die Menschen in ihre Mangel nehmen muss, damit die Flucht ins Unbekannte zum einzigen Ausweg wird, zeigt sie uns allegorisch anhand der Einnahme des Wohnhauses auf, in dem selbst Schlösser und Riegel keinen Schutz des Privaten und des eigenen Lebens mehr bieten. Der Terror dringt den Menschen in die Eingeweide, macht sie verrückt und paranoid: Die Wände haben Ohren, hinter jedem Fremden verbirgt sich ein potenzieller Mörder. Was mit einem Land passiert, in dem keiner dem anderen mehr trauen kann, sodass sogar hinter Geschenken Unheil und Gefahr vermutet werden muss, zeigt dieser eindrückliche Debütroman. Mit Nacht in Caracas zieht Sainz Borgo uns hinein in das dunkle Zentrum Venezuelas; dem Land, das derzeit tausende Menschen verlassen, weil nur eines gefährlicher ist als fortzugehen: zu bleiben.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Karina Sainz Borgo: Nacht in Caracas. Roman.
Aus dem Spanischen übersetzt von Susanne Lange.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
220 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974614

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