Wer passt auf uns auf?

Die Geschichten von Line Madsen Simenstad balancieren am Rande des Abgrundes

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Kommt, reden wir zusammen / wer redet, ist nicht tot.“ In der zweiten von fünf Geschichten erzählt Line Madsen Simenstad, wie Vater und Tochter „die Musik für seine Beerdigung“ aussuchen. Der Vater ist auf den Tod krank, der Leser erfährt weder, wie alt er ist, woran er erkrankt ist, noch das Alter seiner Tochter oder das seiner Lebensgefährtin Tone. Wie in Gottfried Benns Gedicht Kommt, kann die Tochter mit ihrem Vater reden, er ist noch nicht gestorben. Und sogar lachen, als der Vater Candle in the Wind vorschlägt: „Da kann ich nicht mehr an mich halten, ich fange an zu lachen.“ Auch der Vater muss lachen, was zu einem heftigen Hustenanfall führt. Der Tod kann das Lachen nicht verhindern, und die Tochter muss erkennen, dass er eben keine „Tiefsinnigkeit verleiht.“

Vieles deutet darauf hin, dass sie alkoholabhängig ist: „Wenn ich Alkoholikerin wäre, würde die Flasche Gin nicht immer noch oben auf dem Kühlschrank stehen.“ Als Leser wissen wir nicht, wie es dazu gekommen ist, wie wir auch nichts über die Krankheit des Vaters erfahren. Was wir allerdings deutlich spüren, ist eine intensive Sorge um fast alle Figuren, die in diesen fünf Geschichten wie aus dem Nichts auftauchen, eine Weile präsent sind, um schließlich wieder zu verschwinden. Was soll bloß werden aus dem Jungen und seiner Mutter, die ganz offensichtlich große Probleme mit ihrem Fünfjährigen hat? „Manchmal überkommen die Mutter radikale Gedanken. Ich könnte für den Jungen sterben. Der Junge macht mich verrückt. Wenn er stirbt, kann ich nicht leben. Ohne den Jungen wäre ich glücklich.“ Und dann wieder folgen Szenen voller Zärtlichkeit zwischen Mutter und Sohn; ihr Bemühen, dem Kind gerecht zu werden und das zu sein, was man landläufig eine gute Mutter nennt, ist unübersehbar. Wie die Tabletten: „Die Mutter legt die Tabletten auf einem Teller auf der Anrichte bereit.“ Was, und ob überhaupt etwas mit diesen Tabletten geschieht, bleibt offen, denn wer „nicht schläft, weiß, dass man in der Stunde zwischen fünf und sechs niemals Urteile über das Leben fällen sollte.“

Es bleibt vieles offen in dieser mit zweiundfünfzig Seiten längsten Geschichte des Erzählbandes. Wie überhaupt alle Geschichten ihren ganz besonderen Reiz nicht zuletzt aus dem entfalten, was nicht gesagt und verschwiegen wird. Stimmt etwas mit dem Jungen nicht, warum isoliert sich die Mutter zusehends?

Oder warum schafft es Joe, der amerikanische Vater von Agnes, nicht, bei Klara zu bleiben? Es ist Silvesterabend, Klara bereitet ein festliches Abendessen vor, doch der Abend wird zum Desaster. Auslöser sind die Raketen, die Joe vergessen hat. Seine erste Frau, die Mutter von Agnes, ist gestorben und gerade an dem Abend, als seine Tochter und Mattis, der Sohn von Klara, einander näher kommen, muss er nochmals hinaus, um Raketen zu besorgen. Er ist ein Kindskopf – und doch auch ein liebevoller Vater. Keiner versteht, wie er und Klara – die Leuchtende, die Helle und Klare – haben zusammenkommen können. Auch der Tochter ist das ein Rätsel: „Klara ist rein wie eine Schublade mit Leinentüchern, man zieht sie ohne Widerstand heraus und lässt den Zeigefinger an dem Wäschestapel entlanggleiten.“ Agnes ist aus anderem Holz geschnitzt: „Ich bin eine Nicht-Klara. Holprig und chaotisch, immer ein Loch in der Strumpfhose, Hundehaare auf dem T-Shirt.“ Als Agnes mit Mattis von einem Spaziergang zurückkommt, sitzt der Vater bereits im Auto, abfahrbereit.

Es gibt sie nicht, die heile Welt, aber es gibt die tiefe Empathie mit den Menschen in ihrer Haltlosigkeit. Sie versuchen miteinander zu reden, und manchmal erahnen sie etwas voneinander, aber letztlich gilt, was eine Therapeutin zu Agnes sagt: „Man kann nie wissen, was andere Menschen denken.“

In einem Interview beschreibt Simenstad ihre Arbeitsweise: „Dieses Konzentrierte spricht mich an, und dass die ganze Zeit etwas auf dem Spiel steht. In den Kurzgeschichten, die ich mag, gibt es keine überflüssigen Sätze, und genau so möchte ich auch arbeiten.“ Besser lässt sich ihr Schreiben kaum charakterisieren. Ja, in ihren Geschichten steht die ganze Zeit etwas auf dem Spiel, diese Texte entwickeln fast von der ersten Zeile an eine beunruhigende Spannung, die allerdings meist in lakonischem Erzählton daherkommt.

Der todkranke Vater entscheidet sich schließlich für ein Lied von Leonard Cohen: Hey, that’s no way to say goodbye. Eine Liebe geht zu Ende, eine Trennung steht bevor. Mehrfach setzt Simenstad Musik ein, um die Sprachlosigkeit ihrer Figuren zu überwinden. „Schön, ein tolles Lied, aber kein Beerdigungslied.“, bemerkt die Tochter. Aber ein Abschiedslied an die Tochter und, vielleicht mehr noch, an die Lebensgefährtin Tone. Die Autorin delegiert die großen Gefühle an die Musik, wie sie in der melancholischen Stimme von Leonard Cohen zum Ausdruck kommen können.

Die Mutter des Jungen flieht mit der Musik für Momente in eine Welt jenseits der bedrängenden Gegenwart: „Da klingelt es wieder, aber sie hört es nicht, denn jetzt hat sie das Radio voll aufgedreht, Are you still mine? I need yor love i need your love God speed your love to me.“ Seit 1955 ist dieses Lied in über 200 Versionen gesungen worden, eine Schnulze, vielleicht. Aber Millionen von Menschen haben sich davon berühren lassen.

Nochmals lässt Simenstad die Mutter Musik hören: „Sie nimmt das Glas mit ins Wohnzimmer, legt Fleedwood Mac auf, leise, damit der Junge schlafen kann, und dann tanzt sie durchs Zimmer, kleine Tanzbewegungen nur, sie weiß, dass die Nachbarn hereinschauen können.“ Simenstad erklärt ihren Lesern nicht, um welche Art von Musik es sich jeweils handelt, wie sie ja überhaupt mit Erläuterungen sparsam umgeht. Denn dass wir unser Geschick erklären können, ist eine Illusion.

Zum Abschluss noch eine Bemerkung zur Übersetzung dieses traurig-schönen Buches. Ilona Zuber hat es so übertragen, als sei es im Original auf Deutsch verfasst worden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Line Madsen Simenstad: Königin-Maud-Land ist geheim. Storys.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ilona Zuber.
Mare Verlag, Hamburg 2019.
122 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866486102

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