Ledas Vertreibung aus dem Paradies

In Elena Ferrantes drittem Roman verleitet eine Hochschullehrerin eine junge Mutter zum Spiel mit dem Feuer

Von Christiane WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christiane Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was bringt eine akademisch gebildete Frau dazu, einem kleinen Mädchen die geliebte Puppe zu stehlen? Und vor allem: Wozu tut sie es? Von den spärlichen Deutungshinweisen, die die italienische Autorin Elena Ferrante aus der Unsichtbarkeit heraus ihren Werken mitgibt, beziehen sich einige auf Leda, die Hauptfigur ihres dritten, nun auf Deutsch bei Suhrkamp erschienenen, von Anja Nattefort übersetzen Romans Frau im Dunkeln. Im Brief an eine Namensbase der fiktiven Leda, die in Neapel lebt, wie diese Anglistik lehrt und die, ebenfalls brieflich, ihre Verblüffung über die Koinzidenz zum Ausdruck bringt, lenkt Ferrante das Augenmerk auf eine Variante des griechischen Mythos, in der Leda über Helenas Herkunft im Unklaren gewesen sei, diese aber „wie ihre eigene Tochter aufgezogen habe“.

Der Titel der Originalausgabe La figlia oscura (erschienen 2006 bei edizioni e/o, Rom) akzentuiert eben jenes Dunkle, Unbekannte, ja, Zweifelhafte der Abstammung und richtet dadurch den Fokus auf die Ungewissheit der Überlieferung. Er impliziert mithin die Frage, von wo eine Geschichte sich herschreibt. Weckt die deutsche Fassung zunächst die Vorstellung einer Frau, die im Verborgenen agiert, so lässt diese zwar zutreffende Assoziation jedoch die Komponente der Provenienz außer Acht. Diese aber ist wesentlich, wenn es darum geht, einen lebensgeschichtlichen „Scherbenhaufen“, welchen die Leda des Romans heraufbeschwören wird, nicht ausschließlich als zusammenhangloses Trümmerfeld und heilloses Durcheinander wahrzunehmen, sondern ihm Hinweise auf ein mutmaßliches Ganzes zu entnehmen, welches, wie vage auch immer, ihm noch als Sehnsucht, womöglich als Verheißung, innewohnt. Infolge der Erosion herkömmlicher Rollenbilder sind die Heldinnen in Ferrantes Romanen sämtlich mit dem Zusammenstürzen fundamentaler Gewissheiten konfrontiert und auf der verzweifelten Suche nach dem unsichtbaren Substrat zu deren Restitution. So leidvoll diese Recherche ist, als Akt der Selbstvergewisserung im Sinne eines Stirb und werde – wie anders ließe sich der Schlusssatz des Romans verstehen – wird sie schließlich gelingen und hat doch ihren Preis.

Sechs Jahre vor dem Erscheinen ihres vierbändigen Welterfolgs mit dem Auftaktband Meine geniale Freundin, worin Ferrante die Mühsal und Strapazen von Selbstbestimmung und Fremdbestimmtheit in dem Freundinnenpaar Lenù und Lila kontrastiert, stellt die Autorin bereits hier einer klugen, kultiviert auftretenden, doch alles in allem konventionell lebenden Ich-Erzählerin, Leda, als Komplementärfigur eine ungewöhnliche Frau von großer Ausstrahlungskraft, Nina, an die Seite. Im Spiegel der Authentizität ihrer Antipodin muss Leda es hinnehmen, dass die eigenen Fehler und Schwächen umso auffälliger hervortreten; sie  muss sich wohl oder übel an der Entschlossenheit und Unbestechlichkeit der anderen messen lassen – und sie misst sich daran, geradezu zwanghaft, tatsächlich selbst. Dabei erweisen sich ihre expliziten Überlegungen bloß bedingt als verlässliche Quelle zur Erklärung der Ereignisse. Nur wer das dynamische Spannungsverhältnis beider Figuren fortlaufend gegenwärtig hält, findet Anhaltspunkte für seine Bedeutung. Man „muss nur zuhören, das Unausgesprochene ist vielsagender als das Gesagte“, heißt es an einer Stelle des Romans. Dazu gehört – und dies wird in der ambivalenten Beziehung zwischen Lenù und Lila später noch deutlich werden – der verborgene Fingerzeig, dass der menschliche Eigensinn sich außer Konkurrenz bewegt.

Verglichen mit der Sogwirkung, die die berückende, kraftvolle Erzählweise der Tetralogie auszeichnet, wirken die Vorgänge in Frau im Dunkeln hier und da etwas zu ausgeklügelt und konstruiert, fehlt der Dramaturgie die atemberaubende Zwangsläufigkeit, mangelt es den Personen ein wenig an Fleisch und Blut und Wahrhaftigkeit. Auch die Dingsymbole wie zum Beispiel ein alter, vom Wind davongetragener – wieder eingefangener –, erneut davonstiebender und abermals wieder erhaschter Hut sowie ein neuer samt Hutnadel und Schlüssel wirken eine Spur zu plakativ. Legt man die knapp 200 Seiten jedoch als Folie unter Ferrantes großartigen Romanzyklus, ist der Aufschluss durch Querverweise und Bezüge, die sich unversehens einstellen, beträchtlich. So hat die Autorin schon in der nach außen hin angepasst scheinenden Anglistikprofessorin Leda eine Figur kreiert, die charakteristische Züge von Lilas dem Anschein nach braver und gefälliger, wissensbeflissener und pflichteifriger Freundin, der Ich-Erzählerin Elena, vorwegnimmt. Dieser gelingt es oft nur mühsam, ihre Ressentiments zu verbergen. Trotz aller Kontrolliertheit gewinnen Neid, Missgunst und Eifersucht, die evidenten Manifestationen der unteren Begehrungsvermögen, in Elenas Gemütshaushalt immer wieder die Oberhand. Auf mysteriöse, doch zuletzt allzu menschliche Weise kreuzen sich in ihr wie auch in Leda impulsgelenkte Fehlbarkeit und kenntnisreiche Gelehrtheit.

Der Konflikt unserer leiblichen Natur mit unserer geistigen spitzt sich für Frauen, so Ferrante, durch die Erfahrungen von Schwangerschaft und Mutterschaft auf existenzielle Weise zu. Sie werden in den Werken der italienischen Autorin zu einer Lebensmetapher für die „Instabilität der Formen“ überhaupt, wie Ferrante in einer Interviewantwort in ihrer autobiografischen Publikation Frantumaglia. Mein geschriebenes Leben betont. Immer wieder führt sie uns in ihren Texten beeindruckend vor Augen, wie Stoff- und Formtrieb sich aneinander abarbeiten; sie zeigt, wie der Konflikt von lustgesteuertem Begehren, das auf Gegenleistungen spekuliert, mit uneingeschränkter Zuneigung, die auf bedingungslosem Vertrauen beruht, ihren Kunstfiguren zusetzt. Auf der einen Seite nötigen sie Emotionalität und Sinnlichkeit – die Unbeständigkeit physischer Begierden – auf der anderen Seite pochen Intelligenz und Erkenntnisvermögen – die nicht verhandelbare Verlässlichkeit immaterieller Zusagen – auf ihr Recht. Dabei wetterleuchtet in Ferrantes Texten bei genauem Hinsehen tatsächlich ein vermittelndes Drittes, das weder bloß rücksichts- und ruhelos auf Lustgewinn, rastlos auf Neuerung aus ist noch starr und unbeugsam Prinzipien reitet und rigoros jeglichen Wandel ausschließt. Dieses Dritte erinnert an Friedrich Schillers Spieltrieb ebenso wie an die produktive Einbildungskraft Immanuel Kants. Doch einerlei, ob man den Schritt in die Dialektik der deutschen idealistischen Ästhetik letztlich mitvollzieht oder nicht, unverkennbar ringt in Ferrantes Protagonistinnen das Bewusstsein des Ausgeliefertseins an gesellschaftliche Zwänge, an die Vergänglichkeit des Leiblichen und unsere Abhängigkeit von ihm mit der Selbstermächtigung, das eigene Schicksal in Freiheit selbst zu lenken. Die Autorin selbst spricht im oben erwähnten Interview vom spezifisch weiblichen „Kontakt mit der Materie“, vom „Abstoßenden des Fleisches“ und von der „Animalität unseres eigenen Körpers“ in den Gestalten der Fortpflanzung als „Bereichen, wo die Vermittlung durch Sprache verblasst“.

Dabei lässt der Kunstgriff einer auf den ersten Blick vernünftig-analytischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, welche Ferrante ihren durchweg scharfsinnigen Ich-Erzählerinnen überträgt, deren rätselhafte, bisweilen unlautere Motive erst spät zutage treten. Dies macht zweifellos einen Teil der Faszination aus, mit der die Autorin ihr Publikum in den Bann schlägt, zumal diese weiblichen Akteure aus der Deckung gebildeter, intellektueller Reflektiertheit heraus argumentieren, welche stets ein verstecktes Schuldbewusstsein einschließt. Allerdings ist es gerade diese Reflexion, die im Gleichnis der Genesis, als Sündenfall die Verbannung aus dem ursprünglichen bonum, in welchem vormals das Wissen um Richtig und Falsch, Gut und Böse entbehrlich war, bedingt.

Im Wesen paradiesischer Zustände liegt es indessen, dass sie nicht von Dauer sind. Wären sie es, Geschichte – als eine Erzählung mit unberechenbaren Akteuren und unbekanntem Verlauf – wäre von vorneherein vereitelt oder aber bereits an ein Ende gelangt. Denn in einem Garten Eden ist das einträchtige Zusammenleben der Arten immerwährend besiegelt, ist die natürliche Abfolge der Geschlechter nicht anders als die zyklische der Jahreszeiten wiederkehrend vorgegeben. Damit kann sich jedoch das sich selbst und seiner Freiheit bewusste Individuum nicht zufrieden geben. Es will nicht nur die Wahl haben, es will fortan selbst schicksalsmächtig ins Geschehen eingreifen.

Und genau dies tut Leda. Sie wird zur Unruhestifterin, und nimmt auf diese Weise die Vertreibung aus dem (Urlaubs-)Paradies selbst in die Hand – sie wird zu Eva. Die Leda der griechischen Sage ist noch der Inbegriff nicht wollenden Wollens, ganz wie es sich bis zu diesem Sommerurlaub auch im Leben der Protagonistin abbildete. In der Leda des Mythos manifestieren sich exemplarisch Determiniertheit und Fatalismus des antiken Welt- und Menschenbilds, wonach dem von den Göttern über den Menschen verhängten Geschick nicht zu entrinnen ist. Ledas Fügung ins Unabänderliche wird im biblischen Mythos konterkariert von Evas Widersetzlichkeit, ihrem Regelverstoß. Diese macht als Erste von der menschlichsten aller Eigenschaften, der Freiheit, Gebrauch. Sie bringt durch ihr Vergehen auf unumkehrbare Weise Geschichte ins Rollen. Nichts anderes betreibt Leda im Roman. Ihre scheinbar vernunftwidrige Tat bringt die Hintergangene auf den Gedanken, aus den Gleisen des Althergebrachten ausbrechen zu können. Die jähe Einsicht, sich fortan entscheiden zu können, ist freilich irreversibel. Sie birgt zwar das Risiko des Schuldigwerdens oder Scheiterns und ist nur um den Preis des möglichen Irrens und des ungewissen Ausgangs zu haben. Die Kehrseite dieser Erkenntnis aber durchschaut sofort feinfühlig Übergriffe auf die Souveränität der eigenen Person. Sie bringt überdies im Umkehrschluss das unbedingte Einstehen für eine Überzeugung mit sich – eine Rückhaltlosigkeit, die der Ich-Erzählerin in letzter Konsequenz abgeht, die ihre heimliche Kontrahentin dagegen umso deutlicher offenbart.

Das Motiv des (Un)Gehorsams führt die Autorin gleich auf der ersten Romanseite ein: Der Einstieg in medias res, die Schilderung eines rätselhaften, bedrohlich wirkenden Geschehens, auf dessen Auflösung sich von nun an die Leseerwartung richtet, wird abrupt durchbrochen von einer Kindheitserinnerung, als Verbote noch zu Ledas Schutz erlassen waren: „Leda“, hatte sie die Mutter früher gewarnt, „du darfst niemals schwimmen gehen, wenn die rote Fahne weht. Dann ist das Meer sehr aufgebracht, und du kannst ertrinken.“ Als Kind gehorchte Leda nicht aus Einsicht, sondern aus Angst – zwei Empfindungen, die seither in ihr widerstreiten. Genauso unstimmig erscheinen ihr auch noch rückblickend die Beweggründe, die sie jetzt, Jahrzehnte später, am Badestrand im Süden Italiens, der Heimat ihrer Familie, zu ihrer scheinbar „sinnlosen“ Tat führten, aufgrund derer sie soeben in einem Krankensaal aufwacht.

Doch ist die Tat wirklich „sinnlos“? Auch wenn Leda sich nun anschickt, das ihr selbst Unverständliche, das sie nicht einmal ihren nächsten Angehörigen anvertraut, aufzuschreiben und damit „zu erzählen“, kann es letztlich nicht zweifelsfrei erklärt werden. Nur eingebettet in den Zusammenhang einer Lebensgeschichte lässt es sich herleiten und näherungsweise erschließen.

Folgerichtig beginnt ihr mit Retrospektiven gespicktes Bekenntnis an einem nicht lange zurückliegenden Wendepunkt in Ledas Leben, von dem an ihre beiden erwachsenen Töchter endgültig zum Vater zogen und sich mit ihr innerlich wie äußerlich eine Wandlung hin zu ihrer früheren, ja, ihrer ursprünglichen Gestalt vollzieht, welche sie lange genug unter Verschluss gehalten hat. Wider Erwarten fühlt sie sich nun „erleichtert“ und „befreit“: wie sich selbst, ihrem eigentlichen – durchaus defizitären – Wesen zurückgegeben. Derart „frei“ und gänzlich ohne „Schuldgefühle“ tritt sie den Urlaub an. Doch überkommt sie auf halber Strecke ein „ungutes Gefühl“. Von Anfang an verzahnt der Text geschickt das Motiv der von ihm geschürten Lesererwartung, welche sich auf die Aufklärung von Ledas Verletzung und ihrer angeblich sinnlosen Tat richtet, mit der Lebensthematik nicht oder negativ eingelöster beziehungsweise enttäuschter Erwartungen, für welche er gleich zu Beginn überdeutliche Bilder findet. Nicht nur lauern unter der spiegelglatten Meeresoberfläche ungeahnte Gefahren, worauf das Kind noch die rote Fahne hinwies; jegliches Äußere kann ein Schein sein, der trügt: In der eben betretenen Ferienwohnung erweisen sich die Früchte in der „wie in einem Stillleben glänzenden“ Obstschale bei genauer Betrachtung als faulig, und beim Zubettgehen sitzt „auf dem strahlend weißen Kopfkissenbezug“ ein ekelerregendes parasitäres Insekt, dem womöglich „der Hinterleib geplatzt“ ist. Die Erzählerin spielt virtuos auf der Klaviatur von Spannungserzeugung durch das Anfachen von Neugier, Befürchtungen, Skepsis, Zweifeln und Hoffnungen – alles wertende Synonyme des neutralen Erwartungsbegriffs –, welche sie routiniert lenkt, umlenkt, unterläuft oder übertrifft. Auf dieselbe Weise, wie Leda später buchstäblich das Innere der eigentlich hässlichen Puppe, des Objekts ihrer unklaren Begierde, untersucht und von dort etwas Ekliges zutage fördert, geht sie im Text in einer Art Lebensbeichte ihren eigenen verworrenen, auch wohl unansehnlichen Handlungsmotiven auf den Grund.

Alles, was Leda vom ersten Tag des Urlaubs an begegnet, gereicht dem Roman zur Metapher. Um vom Parkplatz aus zum Ziel, nämlich zu jenem Strand zu gelangen, an dem sich später ihr unerhörter Übergriff ereignen wird, muss sie jedes Mal ein Hindernis überwinden. Das tägliche Klettern über die Leitplanke besagt immer aufs Neue ein beschwerliches sich Hinwegsetzen über eine künstlich errichtete Begrenzung. Es wird bald zur Gewohnheit, gleichsam zu einem Training zum bevorstehenden Übertreten einer Verhaltensregel. Überdies muss sie auf dem Weg zum Meer regelmäßig einen Pinienwald durchqueren, was eine Mixtur aus behaglichen und beunruhigenden Gefühlen und Stimmungen in ihr freisetzt. Kindheitserinnerungen sind mit Vorahnungen durchmischt: Wohltuende Gerüche und Geräusche sind überlagert von furchteinflößenden und ekligen. Selbst „die Baumstämme“ werden zu Vorboten, sie „schienen jeden Moment hintenüberzukippen aus Schreck vor irgendetwas, das vom Meer kam“. Auf Schritt und Tritt muss Leda von jetzt an auf das Unabsehbare gefasst sein, auf den Einbruch sowohl des Zufälligen, Hässlichen, Abscheulichen als auch der eigenen Irrationalität in die Vorhersehbarkeit ihres Lebens. Oft genug hatte sie sich früher überredet, einer Norm zu genügen. Zwar hatte sie einmal ein ungeschriebenes Gesetz gebrochen und ihre junge Familie verlassen, war aber wieder zurückgekehrt und entsprach seitdem den Erwartungen vor allem ihrer Töchter bereitwilliger denn je. In der Ausnahmesituation der ersten Ferien aber, die sie nun unweit von Neapel allein verbringt und umgeben von einheimischen Urlaubern, dem bunten, doch banalen Treiben einer Großfamilie, die sie konfrontiert mit der Gewöhnlichkeit, bisweilen mit der Vulgarität der eigenen Herkunft, räumt Leda plötzlich den bequemen voyeuristischen Beobachterposten auf der Liege im Schutz ihres Sonnenschirms und wird zur Saboteurin der natürlichen Ordnung der Dinge: Sie lässt die Puppe der kleinen Tochter Ninas, eben jener jungen Frau, von deren Ausstrahlung sie sich geheimnisvoll angezogen fühlt, verschwinden und kappt auf diese Weise mutwillig die symbiotische Ursprungsbeziehung zwischen der blutjungen Mutter und der kleinen Elena.

Der Verlust des Spielzeugs bringt nicht nur die Welt des Kindes ins Wanken; er wird zum Auslöser einer Verkettung von Handlungen, die vor allem die Welt seiner Mutter in Scherben legen. „Meine Mutter“, erklärt später Leda Nina, „benutzte dafür das Wort frantumaglia, Scherbenhaufen“. An ihm lässt sich nicht mehr ohne weiteres die Kontinuität einer in sich geschlossenen Erzählung ablesen, die über kurz oder lang wie selbstverständlich ein abgerundetes Ganzes ergibt. Dabei ist die über Generationen hinweg offenbar munter sich fortpflanzende Großfamilie, der Nina angehört, durchaus noch ein derartig homogener und regelkonform funktionierender Organismus. Dieser gehorcht tradierten Verhaltensmustern genauso notorisch wie den biologischen Gesetzmäßigkeiten zur Erhaltung der Art, die sich in den vielfältigen Verwandtschaftsverhältnissen sinnfällig abzeichnen. Im Mikrokosmos von Mutter und Tochter formt das monotone Spiel mit Meerwasser und Sand, dem beide sich wie mechanisch, in vollkommener Selbstzufriedenheit hingeben, diese endlose Wiederholung des Nämlichen gleichnishaft nach: immer „derselbe Weg, dieselbe Anstrengung, dasselbe Spiel“, gipfelnd darin, dass beide einander imitieren und so tun, als würden sie „mit einer einzigen Stimme, aus einer einzigen Kehle […] sprechen, die in Wirklichkeit einem stummen Gegenstand [gemeint ist die Puppe] gehörte“. Das erscheint Leda als eine „Verfehlung, etwas in [ihr] schrie danach, dass sie sich entschieden und der Puppe eine eindeutige, beständige Stimme gaben, entweder die der Mutter oder die der Tochter, sie sollten aufhören, so zu tun, als wären sie eine und dieselbe“. Nach Ledas Ansicht wissen beide nicht, wie man „richtig“ spielt. Denn in der mimetischen Reproduktion ist den Mitwirkenden ein für alle Mal ihre Position zugewiesen. Ganz analog wiegen sie sich ihren Platz im Leben betreffend bedenkenlos in Sicherheit. Abweichungen davon sind unerbeten, Selbständigkeit wirkt störend, Neugestaltung ist schlechterdings nicht vorgesehen. Die missvergnügte Zuschauerin unterbricht das im wahrsten Sinne eintönige, unschöpferische Spiel: Soll Veränderung möglich sein, muss konsequenterweise zuerst einmal dasjenige Bindeglied, welches vormals die nahezu identische Kopie der Kopie gewährleistet hat, verloren gehen.

So erweist sich das anthropologisch wohl älteste Spielzeug als verlängerte Nabelschnur, Metapher für jenes sowohl molekularbiologische als auch soziokulturelle Konstituens, worin der vorgezeichnete Lebensweg nach Maßgabe der genetischen Abstammung beschlossen liegt. Das Festhalten an ihm stabilisiert ein vorgeformtes Ordnungsgefüge, dem sich alle Beteiligten unhinterfragt eingliedern. Zweifel am Woher und Wohin bleiben in ihm ausgespart. Fehlt aber dieses stoffliche Bindemittel, das die Prädisponiertheit unserer DNS ebenso sicherstellt wie das vorgeprägte Erbteil der tradierten Bindungen, in die wir hineingeboren sind, so ist der ewigen Wiederkehr des Gleichen einstweilen Einhalt geboten. Durch die Lücke, die die Einbuße der Puppe reißt, hat Leda-Eva nicht nur ein Einfallstor für Irritationen geschaffen, sondern es ist nun auch Phantasie gefragt, um das verlorengegangene Archaisch-Selbstverständliche durch eigene Ideen zu ersetzen. Das „richtige“ Spielen funktioniert demnach nicht mittels Nachahmung, sondern nur als Wagnis von etwas Neuem und Aufbruch ins Unbekannte. Statt in einer Endlosschleife vorgezeichneten, ausgetretenen Pfaden zu folgen, erfordert es geistige Unabhängigkeit, Vitalität der Einbildungskraft und regen Einfallsreichtum. Es lässt und schafft Raum für (noch) nicht genutzte Möglichkeiten; Wünsche, Hoffnungen, Träume einschließlich ihrer Abgründe, welche fortan nicht nur die junge Mutter, sondern die auch Leda selbst rückblickend umtreiben, deren Verwirklichung zuvor unerreichbar schien, die aber Gestalt annehmen, sobald ein immaterielles Bindeglied das augenfällige Scharnierstück vertritt: Dieses unstoffliche Substrat wirkt zunächst bezaubernd als Sympathie.

Wie die geheime Anziehungskraft einer „Wahlverwandtschaft“ – die Autorin lässt Leda sicher nicht zufällig die Bezeichnung verwenden, die durch Goethes Romantitel Berühmtheit erlangt hat – ist die Herkunft des sympathetischen Spiels unerforschlich. Doch wären ohne es Freundschaften und Liebesbeziehungen undenkbar. Auf seiner ganz und gar ungegenständlichen Grundlage beruhen vorbehaltlose Zuneigung, bedingungslose Hingabe und unvoreingenommenes Wohlwollen. Diese Offenheit für das Andersartige versetzt in die Lage, Grenzen zu überschreiten – zuvörderst die der eigenen Sippe, ihrer Sitten und Gebräuche, ihrer Denkgewohnheiten. Anders als die Hermetik der Blutsbande besitzt es unendliche Integrationskraft. Die Trennung der Ursprungsverbindung birgt somit die Chance auf einen Kontakt, der dem wägbar Ererbten in nichts nachsteht, der aber gleichermaßen substanziell ist. Die Fragen, die Nina Leda stellt, hatten ihre eigenen Töchter nie an sie gerichtet. An Nina nun versucht sie weiterzugeben, was sie sich lebenslang als Erfahrungsschatz denkend angeeignet hat. Das, was jenseits unserer physischen Existenz überliefert wird, ist mithin Erzähltes, ist mit Worten gestifteter Sinn. Es ist auch solcher Sinn, der sich mitteilt in originellen Wortschöpfungen wie es frantumaglia eine ist. Zu deren Verständnis ist nicht die abstrakte Rationalität logischen Denkens vonnöten, sondern vielmehr sprachliches Einfühlungsvermögen. Dieses lässt „das Gefühl hinter [einem solchen] Wort gut nachempfinden“ und wird so den Gesichtskreis unserer Begriffe und unseres Unterscheidens neu justieren und erweitern. Es geht hier um ein Verstehen über den Buchstabensinn hinaus, das sich nirgendwo als in Rede und Gegenrede enthüllt, sich im lebendigen Gespräch entfaltet.

Als Leda schließlich den Betrug aufdeckt und sich als Verführerin zu erkennen gibt, entlässt sie Nina aus ihrer besitzergreifenden Bevormundung. Sie hat sich mit einer List in ihr Vertrauen geschlichen, was zwar persönlich unverzeihlich ist, sie hat sie jedoch dadurch in Versuchung geführt, was lebensgeschichtlich entscheidend ist. Nun gibt sie sie frei und stellt sie erst tatsächlich vor die Wahl: Ninas Entschluss darf sich nicht einer Täuschung verdanken, er soll davon unabhängig geschehen. Die Heftigkeit ihrer Reaktion spricht für Ninas Eigenständigkeit und Hellsicht. Ganz gleich, wie die junge Frau sich diesmal entscheidet – in ihrem Leben hat Leda bereits eine Spur hinterlassen und so vice versa: Leda hat in Nina als einer Ziehtochter das Bewusstsein für das, was sein könnte, ja was sein sollte, geweckt, welches daraus nun nicht mehr zu tilgen ist. Nina, indem sie ihrem Eigensinn treu bleibt, hat Leda auf die eigenen Wurzeln, die Tragfähigkeit des eigenen Stammbaums zurückverwiesen, ihr zu einer Wiedergeburt verholfen. So ist, was die Anstifterin letztlich stiftet, wenn nicht geistige Nachkommenschaft, so doch lebendiger Beziehungssinn. Denn der bewegliche Gedanke, sobald er einmal in der Welt ist, ist auf seiner Suche nach der Form weder stillzustellen geschweige denn zum Verschwinden zu bringen. Er ist nicht, wie das genealogische Erbe, vorherbestimmt, auf alle Zeit festgelegt, unanfechtbar. Vielmehr ist sein Vermächtnis ein problematisches, mitunter fragwürdig, womöglich zweifelhaft, beständig neu auszuhandeln – gerade deshalb aber weltzugewandt, wissbegierig, nicht(s) ausschließend. Seinem Wesen nach ist er immerzu um begriffliche Klarheit, Resonanz und Übereinkunft bemüht. Dergestalt vermag er es, Bezüge in alle Richtungen zu knüpfen. Nicht genauso eindeutig wie jenes vorgegebene Erbgut familiärer Prägung, richtet sich sein kontinuierliches Interesse auf diskursive Gestaltung, welche, ein Leben lang diskussionswürdig, fortdauernd im Werden begriffen ist.

Frau im Dunkeln, äußerte Elena Ferrante im Gespräch mit ihren Verlegern, sei dasjenige ihrer veröffentlichten Bücher, dem sie „am schmerzlichsten verbunden“ sei, und das in ihr „die meisten Schuldgefühle ausgelöst“ habe. Der „Sinn“ von Ledas „unüberlegte[r] Geste“, dem „Herzstück des Romans“, liege „nicht nur für sie selbst im Dunkeln“, sondern könne „auch vom Leser nicht entziffert werden […], wenn man in den Grenzen ihrer Erzählung bleibt“. In Frau im Dunkeln steht keine Zeile beziehungslos zwischen anderen. Seine vollständige Wirkung entfaltet Elena Ferrantes dritter Roman jedoch erst im lebendigen Austausch mit den vielgestaltigen Denktraditionen und Überlieferungen und nicht zuletzt mit Ferrantes eigenem vierbändigen Meisterwerk.

Titelbild

Elena Ferrante: Frau im Dunkeln. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Anja Nattefort.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
188 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428702

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