Wie man Bücher rezensiert, die man nicht gelesen hat

Eine Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Literaturjournalismus

Von Herbert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Hoven

und Studierenden des Fachs Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Mainz

Dass Bücher rezensiert werden, die nicht oder nur ausschnittweise gelesen werden, ist nicht neu. Die prekäre Situation vor allem der freien Kulturjournalisten zwingt diese geradezu, oberflächlich zu arbeiten bzw. auf die Promotion-Angebote der Verlage zurückzugreifen. Vor allem das Engagement der Verlage in den sozialen Medien ist für viele freie Journalisten verlockend.

Der nachfolgende Text geht zurück auf ein Seminar im WS 2018 / 19 im Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Mainz: „Kritik von wem – für wen – wie. Content Marketing“. Die Studierenden sollten einen Roman rezensieren, den sie nicht gelesen hatten. Ihnen war freigestellt, welchen aktuellen Titel sie rezensieren. Ein Experiment. Ein Werkstattbericht.

„Als jemand, der an der Universität Literatur unterrichtet, kann ich mich der Verpflichtung, Bücher zu kommentieren, die ich in den meisten Fällen gar nicht aufgeschlagen habe, nur schwer entziehen. Das Gleiche trifft zwar auch auf die Mehrheit meiner Studierenden zu, doch es muss nur ein Einziger von ihnen den Text, über den ich rede, gelesen haben, schon hat das Auswirkungen auf meine Vorlesung, und ich kann von einem Moment auf den andern in Verlegenheit geraten.“
[Pierre Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat]

Wer ein Buch rezensiert, muss dieses nicht unbedingt gelesen haben. Das war schon immer so, aber heutzutage kann der Kritiker auf ein umfangreicheres Promotion-Angebot der Verlage zurückgreifen als jemals zuvor: auf Lese- und Hörproben; auf Text-, Audio- und Video-Interviews mit dem Autor; auf Buchtrailer, Werkstattgespräche und Newsletter. Die Verlage sind auf Twitter, Facebook und Instagram aktiv und inzwischen betreiben einige Publikumsverlage einen eigenen Youtube-Kanal. Auch die Zusammenarbeit der Verlage mit Literaturblogs wird immer selbstverständlicher. Kurz: Die Verlage bieten ein crossmediales Angebot für Hörfunk, Fernsehen, Internet und Printmedien an.

Noch vor 20 bis 30 Jahren sah das anders aus. Zweimal im Jahr kam per Post der Verlagskatalog ins Haus. Wer zu den privilegierten Rezensenten gehörte, bekam vorab ein Leseexemplar zugeschickt und erhielt, zum Beispiel aus dem Haus Hanser, das „Hanser Bulletin“. Bisweilen erinnerte der Verlag die Literaturkritiker per Fax an das bevorstehende Erscheinungsdatum des Buches und verschickte eine Auswahl von (positiven) Rezensionen zu früheren Büchern des Schriftstellers.

Heutzutage bieten die Verlage umfangreichen „Content“ an, um ihre Produkte erfolgreich am Markt zu platzieren. Es gibt unterschiedliche Definitionen, was genau „Content Marketing“ ist. Lutz Frühbrodt, Professor für Fachjournalismus und Unternehmenskommunikation an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt, beschäftigt sich mit den „Schnittstellen und Konflikten zwischen kommerzieller und journalistischer Kommunikation“:

„Bei Content Marketing setzen Organisationen (Unternehmen) eigene digitale Medien ein, um mit nichtwerblichen, werthaltigen Inhalten die Aufmerksamkeit und das Vertrauen potenzieller Kunden zu gewinnen. Die informierenden, beratenden oder unterhaltenden Inhalte sind in ihrer äußeren Form wie journalistische Angebote aufbereitet, sind jedoch im Gegensatz zum Journalismus inhaltlich nicht unabhängig, sondern eindeutig interessengeleitet.“
[Frübrodt, Der Boom des Content Marketing]

Wer will es den freien Kritikern verdenken, dass sie aus dem Content-Angebot der Verlage ihre Rezensionen synthetisieren, zumal sie nicht nach Arbeitsaufwand, sondern bestenfalls nach Tarif bezahlt werden, dessen Entgelt aber immer öfter unter dem des gesetzlichen Mindestlohns liegt.

„Dieser außergewöhnliche Stil, der zwischen schreiender Komik und abgrundtiefer Melancholie wechselt, macht auch dieses Buch zu einem ‘echten Houellebecq’“, leitet Ann-Katrin Schafhauser ihre Rezension des Romans Serotonin ein. Sie zitiert Dirk Fuhrig, dessen Buchkritik drei Tage vor Erscheinen des Romans in Deutschlandfunk Kultur ausgestrahlt wurde und die der DuMont Buchverlag auf seiner Website verlinkt hat. Ein griffiges Zitat am Anfang einer Buchbesprechung ist ganz nach dem Geschmack vieler Literaturredakteure. Bestens geeignet etwa für einen Hörfunkbeitrag, weil die Eingangszeilen sich durch eine Zitat-Stimme besonders herausstellen lassen. Fuhrigs Resümee stellt Schafhauser an den Anfang ihrer Rezension. Des Weiteren greift sie auf Kritiken von Alex Rühle („Hormone und Kummer“, Süddeutsche Zeitung vom 05.01.2019) und Sascha Seiler („Zwischen Hass und Nostalgie“, literaturkritik.de von Februar 2019) zurück und synthetisiert:

„Houellebecq schafft nicht nur Romanfiguren, er schafft auch einen Skandalautor: Sich selbst. Und das sehr bemüht: anhaltende nationale Klischees, homophobe Äußerungen und antifeministische Grundhaltungen charakterisieren seine Romanfiguren.“

Außerdem bezieht sie sich auf verschiedene Interviews mit Houellebecq, die auf Youtube aufgerufen werden können sowie auf einen Artikel in Die Welt (25.09.2018): „Die Hochzeit des Monsieur Houellebecq“ und schreibt:

„Nur eines scheint diesmal anders und zwar die Fotos, die pünktlich zum Roman von ihm erscheinen. Diesmal sieht man ihn nicht unfrisiert im gewohnten Parka, sondern herausgeputzt in Anzug und Zylinder. Er heiratete kürzlich die Chinesin Qfianyum Lysis Li. Vielleicht mag das der Grund für die romantischere Lesart sein, die mancher ihm in Serotonin attestiert.“

Damit spielt Schafhauser auf Houellbecqs gekonntes Rollenspiel an, darauf, dass er sich immer wieder neu erfindet, was auch Sascha Seiler in seiner Rezension betont. Schafhauser kommt zu dem Schluss: „Provozieren aus Prinzip scheint so oder so das Mittel der Marketingwahl zu sein.“

Selina Muir rezensiert Nele Neuhausens Taunuskrimi Muttertag. Die Bausteine ihrer Rezension stammen aus einem ausführlichen Interview Neuhausens mit dem Regionalsender FFH aus Bad Vilbel, diversen Leserinnen-Stimmen von LovelyBooks.de (die Website gehört zur Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, zu der u.a. die Verlage Rowohlt, S. Fischer und Kiepenheuer & Witsch gehören) sowie von Amazon. Viele positive Bewertungen verkehrt sie für ihre Rezension ins Gegenteil und liefert einen klassischen Verriss. Der Roman beschäftige sich mit den „Abgründen der Seele“, mit dem „Innenleben von Psychopathen und Serienkillern“. Sie kritisiert, dass der „Paratext Muttertag selbstredend“ sei und der Roman im Großen und Ganzen aus Klischees bestehe. Zum Beispiel, wenn sich ein „traumatisiertes Kind“ zum „psychopathischen Erwachsenen“ entwickle: „Neue Erkenntnisse über die menschliche Psyche bringt dieser Einblick in die Gedankenwelt eines Mörders leider nicht.“

Des Weiteren kritisiert Muir die „häufige Nennung und auffälligen Andeutungen von Markennamen“, was sie auf Nele Neuhausens Tätigkeit in einer Werbeagentur zurückführt, um dann die Werbestrategie des Ullstein Verlags aufzuspießen, der ankündigt, im „Sinne der Umwelt ein Zeichen“ setzen zu wollen. Der Verlag bietet den Roman nicht in „Plastikfolie“ verschweißt an, sondern ein „Siegel“ soll das Buch vor dem zu eifrigen däumeln der Kunden in den Buchhandlungen schützen.

“Eine gute Idee. Noch besser wäre es, gleich auf den Druck des Krimis zu verzichten. Denn während der Verpackungsmüll reduziert wird, wird bei der Umwerbung von Markenprodukten nicht gespart. Und so zeigt sich der neue Krimi Muttertag zwar in einem neuen, müllreduzierten Gewand, jedoch ist neben der Verpackung nichts Innovatives an diesem Krimi: Immer an Muttertag wird eine weibliche Person getötet.“

Kurz: Dem Roman fehle es an „Spannung und neuen Ideen“.

Zahlreiche Alumniportale weisen Studierende daraufhin, dass ein Studium der Literaturwissenschaft „vielfältige Berufschancen“ eröffne. Eben nicht nur Deutsch- und Englischlehrer oder Lehrer für Deutsch als Fremdsprache, sondern Lektor, Übersetzer, Regieassistemt beim Theater, Programmgestalter bei Literaturfestivals, in der Öffentlichkeitsarbeit oder in PR-Agenturen. Neben dem Redakteur rangiert der (freie) Journalist in solchen Aufzählungen ganz weit vorne.

Wer mit dem Beruf des freien Literaturkritikers liebäugelt, dem ergeht es ähnlich wie jenen gut ausgebildeten jungen Menschen, die Film-, Musik-, Kunst- oder Theaterkritiker werden möchten: Man muss sich diesen Beruf leisten können. Entweder finanziert man seine freiberufliche Kritkertätigkeit durch andere Jobs oder hat „Sicherheitsgaranten, die dafür einstehen, dass der Journalist sich arrangiert mit seinen unsicheren Arbeitsbedingungen“, wie Thomas Schnedler untersucht hat. Er verweist auf „Eltern, Großeltern, vielleicht auch ein Lebenspartner, ein Ehemann, eine Ehefrau“. [Schnedler, Prekäres Arbeiten in den Medien]

Die Studierenden wissen in aller Regel um das finanzielle Risiko, das sie nach abgeschlossenem Studium eingehen, wenn sie sich für den Journalismus entscheiden. Ein Blick auf ihren Kontoauszug wird sie dazu zwingen, ihr Arbeitspensum deutlich zu erhöhen und sie als Literaturkritiker dazu verleiten, auf die großzügigen Content-Angebote der Verlage zurückzugreifen.

„George Saunders hat zahlreiche Kurzgeschichten mit seinem experimentierfreudigen und bisweilen eigenwilligen Erzählstil geprägt. Diese Linie scheint der 60-jährige in seinem ersten Roman weiter verfolgt zu haben.“

Schreibt Claire Manning über George Saunders Roman Lincoln im Bardo und hebt seinen „wilden, galoppierenden Erzählstil“ hervor: „Der Text springt von eleganten Briefen des 19. Jahrhunderts über trockene, sachliche Lehrbucheinträge zu obszönen Monologen“. Erster Zugriff für ihre Rezension waren die Verlagsseiten von Saunders deutschem Verlag, Luchterhand und Penguin Random House aus den USA. Die mehr als 10 Links, die die Verlage auf ihren Websites anbieten, leiteten Manning dann unter anderem zu: „George Saunders beantwortet Fragen seines Lektors“; „Leseprobe: Lincoln im Bardo“; „Leserstimmen zu Lincoln im Bardo“; „George Saunders on Writing Lincoln in the Bardo“, ein Video, oder „Lincoln in the Bardo Readers Guide – Questions and Topics for Discussion“. Aus diesen Quellen speist sie ihre Rezension:

Lincoln im Bardo ist ein Text über Geschichte – und was ist Geschichte außer einer Ansammlung von Stimmen, die alle um Gehör kämpfen? Die Stimmen in Saunders Roman mit ihren eigenen, einzigartigen Meinungen und Erfahrungen, präsentieren eine neue Sicht auf die polarisierte Figur von Abraham Lincoln. Die Geschichte der Menschheit ist ein buntes Durcheinander von Widersprüchen, Eindrücken und Perspektiven: So sehr, dass selbst die Stimme einer wichtigen Persönlichkeit, wie die des Präsidenten der Vereinigten Staaten, auf eine unter Tausenden reduziert wird.“

Lincoln im Bardo hat 480 Seiten. Wer als freier Autor ein Buch dieses Umfangs rezensiert, erhält ein Honorar, das unter dem des gesetzlichen Mindestlohns liegt. Die Rechnung, bezogen auf den Honorarrahmen des WDR, sähe zum Beispiel so aus: 480 Seiten wollen sorgfältig gelesen sein. Hörfunksprecher und Schauspieler rechnen mit 20 Seiten pro Stunde, was eine Lesedauer von 24 Stunden ergibt. Die Rezensionen im Magazin Bücher im 5. Hörfunkprogramm des WDR haben eine Sendelänge von fünf bis sieben Minuten. Ein geübter Handwerker benötigt für seine Ausarbeitung etwa vier Stunden. Damit summieren sich die Arbeitsstunden auf 28. Zwei weitere Stunden, was eher knapp bemessen ist, kommen für Recherchen hinzu: biografische Angaben zum Autor, frühere Bücher des Autors, sein Stellenwert in der Literatur und so weiter.

Inzwischen sind wir bei 30 Arbeitsstunden. Nach Rücksprache mit der Redaktion erfolgt die Korrektur des Manuskripts; es folgen Sprachaufnahme und Schnitt des Beitrags; das Schreiben einer Anmoderation schließt sich an, verlangt wird ein Text von circa einer Seite fürs Internet. Veranschlagt man für diesen ungeliebten Kleinkram noch einmal vier Stunden, so ergibt sich ein Zeitaufwand von 34 Arbeitsstunden. Eine Rezension von 7 Minuten Länge wird laut WDR-Honorarrahmen mit 297,67 € (Honorarrahmen WDR 2018) vergütet. Das entspricht einem Stundenlohn von 8,75 € brutto. Davon abzuziehen sind 7% Umsatzsteuer. Denn das unterscheidet den freien Autor vom niedergelassenen Arzt, der von der Umsatzsteuer befreit ist. Mit jetzt 8,14 € liegt der Stundenlohn unter dem gesetzlichen Mindestlohn von aktuell 9,19 €. Wenn der Hörfunkbeitrag im Internet nachzuhören ist, zahlt der WDR auf das ursprüngliche Honorar einen Internetzuschlag von 4,5 Prozent.

Der Deutschlandfunk zahlt für eine Rezension von sieben Minuten aktuell 473,00 € (Honorarrahmen DeutschlandRadio 2018). 15% „Eigenproduktionszuschlag“ erhalten jene Autoreninnen und Autoren, die ihren Beitrag zu Hause ins Mikrofon sprechen, ihn am eigenen Rechner schneiden und dann in den Sender schicken.

Bei Tageszeitungen mit einer Auflage von über 100.000 Exemplaren wird die gedruckte Zeile mit 159 Cent vergütet. Bei einer Auflage von 50.000 Exemplaren sollte (!) das Zeilenhonorar 106 Cent betragen. Aber gerade bei Regional- und Lokalzeitungen liegen die Honorare oft deutlich darunter. In vielen Fällen und trotz Tarifvertrags werden die von den Tarifparteien (Gewerkschaften und Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger) vereinbarten Honorare für freie Mitarbeiter zwischen diesen und der Redaktion ausgehandelt. Meistens zu Ungunsten der Freien. Dass ein Honorar über dem des Mindesthonorars gezahlt wird, ist eher selten und hängt im Wesentlichen von der starken Position des Autors ab, ob dieser prominent ist oder ein Thema anzubieten hat, das besonders exklusiv bzw. spektakulär ist.

„Genauso bewusst, wie ich mich für den Journalismus entschieden habe“, schreibt Nele Günther, „entscheide ich mich jetzt dagegen und laufe in die offenen Arme der PR.“ – Seit Anfang 2019 heißt es für sie „Agenturbusiness“ statt Journalismus. Als freie Autorin bei einer Regionalzeitung im Schwäbischen hat sie sich nach hartem „Feilschen“ mit der Chefredaktion auf 40 Cent pro gedruckter Zeile geeinigt. Finanziell konnte das nicht gutgehen und als sie bei sich und anderen freien Kolleginnen und Kollegen bemerkte, dass häufig „Überschriften kopiert“ und „ganze Textpassagen abgekupfert“ wurden, war für sie Schluss. [Günther, Die Wahrheit unter Zeitdruck]

Wer sich sicher im Netz bewegt, was man der heutigen Generation unterstellen darf, hat keine Schwierigkeiten, seine Bausteine für eine Rezension so zu organisieren und in angemessener Zeit zu schreiben, dass diese sich nicht wesentlich von anderen (professionellen) Buchkritiken unterscheidet.

„Anja Kampmanns Wie hoch die Wasser steigen stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sie veröffentlichte in Zeitschriften und im Jahrbuch der Lyrik. 2013 wurde sie mit dem MDR Literaturpreis und 2015 mit dem Wolfgang Weyrauch-Förderpreis ausgezeichnet. Ein Jahr später erschien ihr Gedichtband Proben von Stein und Licht. Viele ihrer Gedichte thematisieren Fremdheit und Vertrautheit. Auch in ihrem gerade erschienenen Debütroman spielt erstere eine wichtige Rolle.“

Beginnt Daniela Stübs ihre Rezension. Sie trifft damit genau den Ton einer Anmoderation eines Kulturmagazins in Hörfunk oder Fernsehen. An diese Moderation schließt sich dann nahtlos die vorproduzierte Kritik an: „Biografisches Erzählen interessiert sie nicht. Daher spiegelt Anja Kampmanns Debütroman, im Gegensatz zu vielen anderen, nicht ihren Lebenslauf.“  Und so weiter. Aus 11 Quellen synthetisiert Stübs ihre Buchkritik.

Einen moderierenden Einstieg wählt auch Viola Fei Gresik für ihre Rezension des Romans Nichts weniger als ein Wunder von Markus Zusak. „Das Warten hat ein Ende“, greift sie ein Zitat aus der New York Times auf und fährt dann fort:

„Es war ein langes Warten. 13 Jahre sind vergangen, seit der Australier mit deutschen Wurzeln sein letztes Buch veröffentlicht hat. Der Roman Die Bücherdiebin machte Markus Zusak zu einem gefeierten Autor. Inzwischen ist der Roman zu einem hochkarätig besetzten Hollywood-Blockbuster adaptiert und in über 40 Sprachen übersetzt.“

Auch bei ihr schlösse sich die Rezension übergangslos an die Anmoderation an.

Die Bausteine, aus denen die Studierenden ihre Rezensionen zusammengesetzt haben, sind im Internet und auf den Websites der Verlage frei verfügbar. Im Unterschied zu den etablierten Kolleginnen und Kollegen wird das Gros der freien Literaturkritiker nicht zu Pressekonferenzen eingeladen, ist von Gruppeninterviews ausgeschlossen und an ein exklusives Interview mit einem Autor ist gar nicht zu denken. Statt auf ein Leseexemplar (haptisch oder als Download) greifen sie auf die Leseproben auf den Verlagsseiten zurück und zitieren aus diesen Versatzstücken. Auf den ersten Blick sind das Einschränkungen, aber die Marketingabteilungen der Verlage sorgen mit immer mehr Content dafür, dass dieses Manko nicht ins Gewicht fällt.

„Im Leben von Georgina landet das sprichwörtliche Brötchen ausnahmslos immer auf der Butterseite, besonders, wenn sie in Tagträumen von ihrem Traumprinzen versunken ist. [Buchtrailer] Ganz nach dem Motto ‚Wenn, dann richtig‘, verliert Georgina zuerst ihren Job als Kellnerin und dann ihren Freund Robin, den sie in flagranti mit einer anderen erwischt.“ [Verlag]

Viktoria Güdelhöfer rezensiert Mhairi McFarlanes Roman Sowas kann auch nur mir passieren. Zwei ausführliche Interviews der sehr auskunftsfreudigen Autorin sowie ein gezeichneter Buchtrailer (nur mit Musik unterlegt), der die Essenz des Romans in wenigen Sequenzen zusammenfasst, reichen ihr aus.

„Kein Klischee der Alltagskatastrophen wird ausgelassen: So fährt ein Auto durch eine Regenpfütze und spritzt die vorbeigehende Georgina von oben bis unten nass. [Buchtrailer] Während einer Shoppingtour stolpert sie, fällt zu Boden und wird unter ihren Einkaufstüten begraben. [Buchtrailer] McFarlanes Romanheldin ist keine makellose, erfolgreiche „Superwoman“, sondern eine authentische Frau [Interview], mit der sich die Leserinnen identifizieren können, was mit Sicherheit ein Grund für den Erfolg ihrer Romane ist. [Interview] Ganz gleich, wie tief Georgina fällt – mit bewundernswertem Charme bewältigt diese Alltagsheldin alle Situationen. Die Situationskomik bringt den Leser zum Schmunzeln, auch weil man die eine oder andere unangenehme Situation vielleicht sogar selbst schon erlebt hat. Dennoch lässt sich kaum die Konstruiertheit dieser Katastrophenszenarien [Hervorhebung H.H.] bestreiten, die sich aneinanderreihen bis zum erwarteten Happy End.“

„Die kleinen Katastrophen zur großen Liebe“, heißt denn auch der Titel des Buchtrailers zu Mhairi McFarlanes Roman.

Sarah Touihrat bespricht Juli Zehs Roman Neujahr. Wie sie aus wenigen Bausteinen ihre Buchkritik zusammensetzt, dokumentiert eine längere, zusammenhängende Passage im Anhang.

Schon vor über 30 Jahren hat Hans-Magnus Enzensberger einen Abgesang auf den Beruf des Kritikers geschrieben. An seine Stelle sei der „Zirkulationsagent“ getreten und zwar jener, der „überwiegend der Sphäre der freien Marktwirtschaft“ angehöre.

„Lapidare Textsorten ersetzen die Rezension: der Klappentext, der Buch-Tip, die Bestseller-Liste, der Werbespot. An die Stelle des Rezensenten, der immer noch liest und schreibt, obwohl ihm weder das eine noch das andere gelingen will, treten andere Zirkulationsagenten, denen diese Qual erspart bleibt, als da sind: Medienkontakter, Showmaster, Videodesigner – Leute, die instinktiv erkannt haben, was das Störende, das eigentlich Lästige im Literaturgeschäft ist, nämlich er Text, das Buch, die Literatur.“
[Enzensberger, Rezensenten-Dämmerung, S. 59]

Und wie zur Bestätigung von Enzensbergers Diktum treiben die Verlage ihre „kommerzielle Kommunikation“, ihr Content Marketing konsequent und zügig voran. Im April dieses Jahres startete der Hanser Verlag den Literatur-Podcast Hanser Rauschen. – „Lektorinnen und Lektoren“ des Verlags unterhalten sich mit „Autoren und Menschen aus der Welt der Bücher“. In der ersten Folge spricht der Hanser-Lektor Piero Salabé mit seinem Autor T.C. Boyle. Im Mai folgte ein Gespräch mit Karen Köhler, deren Roman Miroloi der Hanser Verlag für August angekündigt hatte. DuMont auf Sendung – Der Podcast mit Büchern heißt es alle vier Wochen beim DuMont Buchverlag. Moderiert wird der Podcast von Tabea Soergel und Martin Becker und produziert von ihrer eigenen Agentur „Gold und Silber“.

Die Podcasts der Verlage sind klassische „Werkstattgespräche“. Aufgepimpt für das Zeitalter des Internets stellen sie eine weitere Marketingstrategie der Verlage dar, auf die die freien Rezensenten in ihrer prekären Lage gerne zurückgreifen werden.

„Nicht, daß es unter den Rezensenten Trottel und Schwätzer gibt, ist der springende Punkt, sondern daß die Form der Rezension als solche offenbar nicht mehr zu retten ist.“
[Enzensberger, S. 59]

So resümiert Enzensberger zu einer Zeit, als der Begriff Content-Marketing in Deutschland noch weitgehend unbekannt war. Unter den sozialen und ökonomischen Bedingungen, unter denen freie Literaturktitiker arbeiten, werden sie die Rezension im Verständnis Enzensbergers nicht retten. Sie sind und bleiben die „schlecht bezahlten armen Teufel“. [Enzensberger, S. 57]

Unabhängig machen von der „kommerziellen Kommunikation“ der Verlage könnten sich die festangestellten und gut besoldeten Literaturredakteure. In erster Linie jene Redakteurinnen und Redakteure, die in den öffentlich-rechtlichen Medien arbeiten. Denn anders als ihre Kolleginnen und Kollegen bei Tageszeitungen, Zeitschriften oder Magazinen, beim privaten Hörfunk und Fernsehen, sind ARD, ZDF und DeutschlandRadio keine Tendenzbetriebe. Inwieweit deren Kulturredakteure allerdings unbeeinflusst von den Einflüsterungen der Verlage urteilen, wäre anhand ihrer Beiträge zu überprüfen.

Dagegen könnten die „sozialen Anlässe“ [Bayard, S. 85] sprechen, bei denen sich Verlagsvertreter, Kulturredakteure, Schriftsteller und Agenten ständig begegnen. Als da wären: Buchmessen, Literaturfestivals, Jubiläen, Preisverleihungen sowie Verlags- und Presseempfänge. Die Akteurinnen und Akteure des Gewerbes sitzen zusammen auf blauen, roten oder karierten Sofas. Sie interviewen sich gegenseitig, laudatieren einander und zeigen mit dem Finger auf eine Buzzi-Buzzi-Gesellschaft, obwohl sie selber mittendrin stecken bzw. sich ihre eigene geschlossene Gesellschaft geschaffen haben. Pierre Bayard spricht in diesem Zusammenhang von der „Enge des Milieus“, das einem ein Korsett anlege. [Bayard, S. 114]

Hohes Ziel des Content Marketings ist es, direkt den Konsumenten anzusprechen und da stört die Instanz des Journalisten nur. Waren in der „klassischen Medienwelt“ die Journalisten noch „Gatekeeper“, wie Uwe Krüger diagnostiziert, die weitgehend „konkurrenzlos darüber entschieden, welche Themen und Meinungen überhaupt in die öffentliche Arena kamen“, so seien sie heute nur noch „Gatewatcher“: „Kuratoren eines unendlichen Stroms an Informationen, Daten, Berichten und Informationen im World Wide Web.“ [Krüger, Strukturwandel der Öffentlichkeit]

P.S.: Keiner, so ein Kollege in Festanstellung, sei gezwungen als freier Journalist zu arbeiten. Das stimmt. Es wird auch niemand gezwungen, als Redakteur zu arbeiten. Dann möchte man aber auch nicht mehr deren Gejammer über verdichtete Arbeitszeiten, schlechte Tariflöhne und abgespeckte Sozialleistungen hören.

Anhang: Auszug aus Sarah Touihrats Rezension zu Juli Zehs „Neujahr“

Die Geschichte selbst ist sehr nah an Zehs eigener Lebenswelt. Wie bereits Nullzeit (2012) spielt ihr aktueller Roman auf Lanzarote, eine Insel, die sie sehr häufig besucht hat. Während eines Winterurlaubs hat sie ihren neuen Roman auch dort geschrieben. Auf Lanzarote fühlt sie sich zuhause, in Ruhe gelassen und mit dem Wunder des menschlichen Lebens [Youtube] verbunden. Nur der Horror, der die Erzählerin befällt, die Angst, allein zurückgelassen worden zu sein, ist fiktiv, auch wenn Juli Zeh selbst das Problem der Panikattacken sehr gut kennt. Sie selbst hat zwei kleine Kinder und Vieles von dem, was sie sich von der Seele schreibt, kommt vor allem jungen Eltern bekannt vor. [DF]

Nicht nur werden in Neujahr Fragen nach den neuen Geschlechterrollen und der eigenen, individualisierten Identität gestellt, sondern der Leser wird auch mit den Schattenseiten einer emanzipierten, modernen Familie konfrontiert. Diese funktioniert nicht mehr als Rückzugsort, sondern birgt erhebliches Konfliktpotenzial. [DF]

Ihr Zwang zur Perfektion und damit einhergehend die Angst, die Kindererziehung völlig falsch anzugehen, ist auch deshalb zentral, weil Henning, Partner und Vater ihrer Kinder, ein notorischer Perfektionist ist, wodurch er sein ständiges Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit immer weiter verstärkt. „Erster-Erster, Erster-Erster, er skandiert es innerlich bei jedem Tritt in die Pedale.“ – Nicht einmal die zur Entspannung unternommene Fahrradtour bringt ihn aus diesem Trott. In Henning spiegelt Juli Zeh die personifizierte moderne Überforderung. [Hessenschau] [Read-n-go]

So zeigt Neujahr dem Leser auf subtil unsubtile Weise, wie sehr man sich heute selbst überfordern kann, ohne dass die Autorin gleich mit dem didaktischen Fingerzeig, „so aber nicht!“, daherkommt. Der Leser fragt sich, ob es ihm selbst nicht allzu bekannt vorkommt, diese Situation aus alten Ängsten und neuem Stress.
[Hervorhebungen die Autorin]

Literatur

Bayard, Pierre: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Übersetzt von Lis Künzli. München 2007.

Enzensberger, Hans-Magnus: Rezensenten-Dämmerung. In: Ders.: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt am Main 1988. S. 53-60.

Frühbrodt, Lutz: Der Boom des Content Marketing. Gefährliche Konkurrenz für den Technikjournalismus? In: Hooffacker, Gabriele / Wolf, Cornelia (Hgg.): Technische Innovationen – Medieninnovationen. Herausforderungen für Kommunikatoren, Konzepte und Nutzerforschung. Wiesbaden 2017. S. 191-204.

Günther, Nele: Die Wahrheit unter Zeitdruck. In: KONTEXT Wochenzeitung. Ausgabe 419. 10.04.2019. [Beilage TAZ, ebd.]

Hoven, Herbert: Zu Recht neidisch – Reden wir übers Geld: Ein Vortrag über den Beruf des freien Hörfunkautors. In: Medienkorrespondenz. Nr. 21. 14.10.2016. S. 52-55.

Krüger, Uwe: Strukturwandel der Öffentlichkeit: Von der Mediendemokratie zur Internetdemokratie. https://www.bpb.de/politik/wirtschaft/lobbyismus/286817/strukturwandel-der-oeffentlichkeit-von-der-mediendemokratie-zur-internetdemokratie [08.10.2019].

Schnedler, Thomas: Prekäres Arbeiten in den Medien. Gespräch mit Isabelle Klein. In: Deutschlandfunk [@mediasres]. https://www.deutschlandfunk.de/prekaeres-arbeiten-in-den-medien-gefahr-dass-journalismus.2907.de.html?dram:article_id=427828 [08.10.2019]. [Das Interview basiert auf Thomas Schnedlers Dissertation Prekäre Arbeit im Journalismus]

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz