Bollwerk der Ruhe?

Thomas Girst versammelt in „Alle Zeit der Welt“ Geschichten über Dinge, die viel Zeit brauchen

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kommt uns die Zeit abhanden? Einige Kulturwissenschaftler glauben das inzwischen. Für sie führt das digitale Dauerbombardement an Push-Nachrichten und Twitterfeeds dazu, dass in unserer Wahrnehmung Vergangenheit und Gegenwart zu einem einzigen wabernden Jetzt verschwimmen, einem rasenden Stillstand. Aber auch um die Zukunft ist es nicht gut bestellt. Sie erscheint uns angesichts von Klimawandel und schwindenden Ressourcen tagtäglich unvorstellbarer.

Da tut es gut, daran erinnert zu werden, wie wertvoll die Zeit ist – und zwar gerade als Voraussetzung dafür, dass Bedeutendes entstehen kann. Man denke nur an Schriftsteller wie Marcel Proust oder Robert Musil, die viele Jahre lang an ihren großen Werken schrieben. Thomas Girst hat nun zahlreiche weitere Dinge zusammengetragen, die viel Zeit brauchen oder gebraucht haben, aus ganz unterschiedlichen Bereichen wie Wissenschaft, Ökonomie, Kultur oder Kunst. Manches ist einfach nur verblüffend wie das tausendjährige Ei der chinesischen Küche. Oder ein im Jahr 2016 entdeckter Grönlandhai, der schon durchs Meer schwamm, als Shakespeare seine Stücke schrieb. Anderes dagegen erscheint dem Leser so atemberaubend-verrückt wie John Cageʼ Orgelstück Organ2. Dessen Aufführung in einer Halberstädter Kirche wird nämlich erst im Jahr 2640 beendet sein. Wobei die Anweisung, es so langsam wie möglich zu spielen, dafür sorgt, dass Besucher kaum mehr als ein waberndes Vibrieren hören können, berichtet Girst. Der nächste Tonwechsel ist erst fürs kommende Jahr angekündigt: „In den leisen Tönen und nicht im lauten Poltern, in der Ruhe und in der Stille, in der Konzentration und nicht in der hyperventilierenden Hetze, die tagtäglich an uns zerrt, offenbart sich zumeist das Schöne im Menschen, all jenes, das wir eben auch zu vollbringen imstande sind. Gut Ding will bekanntlich Weile haben.“

Gleich zu Beginn erinnert Girst an den französischen Landbriefträger Ferdinand Cheval. Über drei Jahrzehnte lang, bis zu seinem Tod 1924, hat Cheval auf seinen Wegen Steine und Muscheln aufgesammelt. Mit ihnen hat er in seinem Gemüsegarten nach und nach einen gigantischen Fantasiepalast errichtet, der umgehend zu einer Pilgerstätte avancierte, zuerst für surrealistische Künstler, später für Touristen. Beispiele wie Chevals Palais idéal, glaubt Thomas Girst, können uns ein notwendiges Gegengewicht in einem Leben bieten, das immer mehr unter dem Diktat des Tempos steht.

Alle Zeit der Welt darf daher ruhig als Trost- und Besinnungsbüchlein bezeichnet werden – das natürlich von all den immer neuen Gegentrends zum sich ewig drehenden Hamsterrad profitiert. Der Autor weiß das selbst, distanziert sich aber zugleich vom Hype um Slow Food, Hygge-Heimeligkeit oder Entspannungs-Apps. Denn deren Heilsversprechen könnten am Ende doch nur enttäuschen, glaubt er. Oft reiche es dagegen schon, sich beim Gang durch die Stadt einmal nicht von Google Maps leiten zu lassen, sondern vom Zufallsprinzip – um so überraschende Entdeckungen möglich werden zu lassen.

So weit, so sympathisch und anregend. Doch wer seinen Lesern ein „Bollwerk der Ruhe“ verspricht, sollte auch über die entsprechenden formalen Mittel verfügen. Und da ist bei dem Münchner Kulturmanager, vorsichtig formuliert, Luft nach oben. Nicht nur, weil manche von Girsts Einsichten an Kalendersprüche erinnern: „Bei allem, wofür wir uns Zeit nehmen, stehen wir auf den Schultern von Giganten, in Bibliotheken finden sich ganze Armeen uns zugewandter Menschen Seite an Seite, und Bücher können lebenslange Freunde sein.“

Das eigentliche Problem ist vielmehr, dass dieses Buch auf weniger als 200 Seiten 28 Kapitel enthält. In ihnen geht es mal um historische Speisen, mal um das Holz für Stradivaris Geigen, mal um die gesammelten Erfahrungen von Wirtschaftskapitänen. Da überrascht es nicht, dass die Lektüre automatisch auf eine Art Lese-Zapping hinausläuft. Zumal gerade die reportagehaften Einsprengsel an banalen Häppchenjournalismus erinnern, wie man ihn im Hanser Verlag eher nicht vermutet hätte. Wie Girsts Begegnung mit dem Fotokünstler Michael Ruetz, der seit Jahren ein und dasselbe Alpenpanorama unter immer neuen Wetterverhältnissen festhält. Alle Zeit der Welt bietet deshalb deutlich mehr Unterhaltung als Kontemplation. Was durchaus schade ist – kaum auszudenken, was ein Schriftsteller wie, sagen wir, Gerhard Roth aus der Geschichte um Chevals Phantasiepalast hätten machen können.

Titelbild

Thomas Girst: Alle Zeit der Welt.
Carl Hanser Verlag, München 2019.
208 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783446261877

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