Erschriebene Überlebenskämpfe

Renate Lachmanns profunde Aufbereitung der Gulag-Erfahrungen im Zeichen des Literarischen

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn geschichtliche Zusammenhänge in der deutschen Fußgängerzone abgefragt werden, bemerkt man nicht selten Unschärfen, Wissenslücken und peinlich berührtes Schweigen. Neben ihrer humoristischen Qualität verweisen diese Einlassungen immer wieder auf gegenwärtige Probleme mit Blick auf die in der Schule beginnende historische Bildung, auf Formen der (verwässernden) Eventisierung von Geschichte beziehungsweise auf die zu starke Konzentration auf bestimmte Themenfelder, etwa mit Blick auf die Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Sorge um das umschriebene Phänomen der Geschichtsvergessenheit wäre wahrscheinlich nicht geringer, wenn man das Thema der stalinistischen Gulags empirisch zur Debatte stellen würde. Unverständlich wäre die gemutmaßte Unkenntnis allein schon deswegen, weil der Gulag als Symbol für die Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts hinsichtlich seiner Grausamkeit in einer Reihe mit den Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki oder den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zu sehen ist: Die gewaltigen Umsiedlungsbewegungen, die Inhaftierung politischer Gefangener in kriminell machtvoll organisierten Lagern, die Maßnahmen der Zwangsarbeit und der stalinistischen Säuberungen als Ausgangspunkt einer „reinen“ sozialistischen Neuordnung der Gesellschaft bildeten gewissermaßen die Eckpfeiler eines totalitären Systems.

Von besonderer Bedeutung ist der Fokus auf den Gulag selbst, gerade in Verbindung mit der – nicht zuletzt durch Alexander Solschenizyns Werk forcierten – Begriffszuweisung des „Archipels“, was das Inselhafte der Lagerexistenz in der Gleichzeitigkeit von ideologischer Eingeschlossenheit (in das politische System der Sowjetunion) und räumlicher Ausgeschlossenheit (als punktuelle Existenz des Lager in einem „ausgedehnten, ungegliederten Raum“) in den Fokus stellt. Das Lager befördert infolgedessen eine systematisch „andere“ Wahrnehmung von Raum und Zeit – wesentlich separiert von der umgebenden Lebenswirklichkeit. Es wird zur eigengesetzlichen Parallelwelt einer desynchronisierten Zeit (zwischen starker Raffung und Dehnung) und eines entkoppelten Raums. Vor dieser Folie fragt Renate Lachmann nach der Wirkmächtigkeit von Literatur im Zeichen der stalinistischen Lagererfahrung – und das nicht ausschließlich mit Blick auf Texte unmittelbarer Zeugenschaft, sondern im Modus einer motivischen und generationenübergreifenden Erfahrung der Auseinandersetzung mit und Reflexion des eigentlich Nicht-Beschreibbaren. In ihrer detailreichen und überaus kundigen Studie ruft sie die literarischen Texte in der Folge in ihrer Eigenständigkeit gewissermaßen als Zeugen des „Zivilisationsbruchs“ (Imre Kertész) an, ohne sie vereinfachend lediglich als inhaltliche Belege des historisch bereits zu Tage geförderten zu reduzieren. Als komplexe literarische Formen veranschaulichen sie das umfassende Programm des stalinistischen Totalitarismus, dessen Zentrum die Entmenschlichung und Entwürdigung des Einzelnen, die Reduktion des Subjekts auf eine „Schwundstufe des Menschseins“ mit der Konsequenz der letztlichen Selbstaufgabe bildete.

Eindrücklich vermittelt eine solche „Poetik des Lagers“ so zuvorderst eine Art strategische, die Isolation des Einzelnen verstärkende Umkehrung der Normalität in Richtung der Normalisierung des Anormalen. Die Textauswahl illustriert auf diese Weise die sukzessive Brüchigkeit von Gemeinschaft und Solidarität durch Freund-Feind-Stigmatisierungen und eine permanente Atmosphäre der Angst und des Verdachts, die zur zermürbenden Grundlage des Lagerlebens wird. Parallel dazu fangen die Texte gerade die allgegenwärtige sprachliche Verrohung durch Obszönitäten und eine starke Umgangssprache ein, die zum Ausgangspunkt der letztlich herrschenden moralischen Verrohung der Insassen wird. Die körperliche Härte einer entwerteten Arbeit, die die genuinen Fähigkeiten der Intellektuellen systematisch negiert, wirft die Opfer zuletzt existentiell zurück auf ihre physischen Grundbedürfnisse, die final durch Folter und Hunger angegriffen sind. Der Tod schließlich fixiert das Ende des Individuellen; im Abtransport der Leichenberge erweist sich das Persönliche als unrettbar verloren.

Gegen diesen vehementen Versuch der Entwürdigung des Ich entwerfen die von Lachmann in einen Zusammenhang der „Lagertopik“ gestellten Texte die rebellierende Kraft des Neu-Erschreibens von Menschlichkeit: Fast parallel zum Erschreiben des Holocausts skizzieren sie ein transformiertes, eigenes Erleben als Neuaneignung einer inneren Realität, die in ihrer Eigenlogik die zerstörerische Logik des Lagers bewusst aushebelt – das Schreiben wird auf diese Weise zum moralisch überlegenen Gegenzug in Anbetracht der grassierenden Amoralität des Gegebenen. Zur Grundlage dafür avanciert die literarische Form als Modus der Lebensbewältigung, der unabhängige Sinnzuweisungen ermöglicht, die ästhetische Neuordnung der diffusen Lagerrealität anstrebt und die erlebte Barbarei angreift (exemplarisch hier sichtbar an den Ausführungen Danilo Kiš’). Literatur stellt den Dialog mit einem imaginären Publikum in Anbetracht der um sich greifenden Isolation wieder her und weiß sich zudem verortet in einer Traditionslinie von Kultur und Dichtung, bildet die Eckpfeiler einer umfassenden Erinnerungsbewegung der Selbst-Vergewisserung im Zusammenhang mit dem äußeren Erinnerungs- und Lebensverlust als solches. Von besonderer Bedeutung sind zudem die Konstruktionen von Gegen- und Fluchtorten innerhalb der Literatur; Traum, Natur und Dichtung dienen in einem solchen Sinne als Rückgriffe auf das Verlorene und fungieren als Kompensationen in der Entbehrung.

Dass diese verheißungsvolle Perspektive der Literatur zuletzt radikal getrübt wird durch die verheerenden körperlichen und mentalen Einschreibungen der Lagererfahrung, zeigen die Protagonisten der Texte im Sinne des Ambivalenten schlussendlich auch. Die „unsagbaren Erfahrungen“ des Stalinismus bleiben – trotz der Linderung des Schreibens als Trost und Perspektive – fortwährende und fortwirkend quälende Erinnerungen. Lachmanns Studie über deren verbindende Motivik und den gemeinsamen Bezug auf das Kraftfeld des Ästhetischen im Lageralltag ermöglicht durch ihre vorzügliche Aufbereitung zumindest die gebotene Aufmerksamkeit und den verantwortungsvollen Umgang mit diesem oft unterbelichteten Thema.

Titelbild

Renate Lachmann: Lager und Literatur. Zeugnisse des GULAG.
Konstanz University Press, Konstanz 2019.
500 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835391123

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