Über die Grenzen – zwischen Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft

Das „Duell“ zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki – Erinnerungen 30 Jahre nach dem Mauerfall, 200 Jahre nach Fontanes Geburt und zum Literatur-Nobelpreis

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als vor zwanzig Jahren nicht Peter Handke oder Martin Walser, sondern Günter Grass den Nobelpreis für Literatur erhielt, zeigte sich der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, in einem Spiegel-Gespräch „über sein schwieriges Verhältnis“ zu Grass, immerhin zufrieden: „Nach so vielen Jahren musste endlich ein deutschsprachiger Schriftsteller wieder den Nobelpreis erhalten […]. Stellen Sie sich vor: Martin Walser wäre der Preis zugefallen, das wäre ein schwerer Schlag für mich. Oder gar dem dümmlichen Peter Handke! Eine Katastrophe. In Stockholm ist allerlei möglich. Grass immerhin!“ Ob er sich über die Nachricht gefreut habe, war er vorher gefragt worden. (Der Spiegel, 4. Oktober 1999, Gespräch mit Matthias Schreiber; Nachdruck in Reich-Ranicki: Unser Grass). Schon in seiner Antwort darauf hielt sich die Freude in Grenzen: „Ich habe die Nachricht, dass Grass den Literatur-Nobelpreis erhält, im Taxi vom Züricher Flughafen zum Hotel gehört und habe zu meiner Frau, die neben mir saß, gesagt: Na also, endlich! Es ist gut so, dass er den Preis bekommen hat.“

In einem wenige Wochen später in der österreichischen Wochenzeitschrift Format veröffentlichten Interview (29.11.1999 unter dem Titel Handke spielte keine Rolle; Nachdruck mit anderem Titel in Reich-Ranicki: Aus persönlicher Sicht) klingt die Auskunft über seine Reaktion auf die Nachricht zunächst euphorisch: „Als er den Nobelpreis bekommen hat, war ich glücklich.“ Das Glück bezieht er dann allerdings auf seinen eigenen Erfolg: „Mein persönlicher Sieg. Denn ich habe seit langer Zeit – auch öffentlich im Fernsehen – gesagt: Wenn ein deutscher Schriftsteller den Nobelpreis kriegen soll, dann Günter Grass. Und ich habe, glaube ich, ein klein wenig dazu beigetragen, daß Grass den Preis erhalten hat.“

In dem Jahr, in dem Grass den Nobelpreis erhielt, konnte sich Reich-Ranicki über den größten Buch-Erfolg seines Lebens freuen. Am 15. August 1999 erschien seine Autobiographie Mein Leben. Die Resonanz auf das Buch war überwältigend. Die zahlreichen und ausführlichen Rezensionen, die zum Teil schon vor der Auslieferung des Buches erschienen, zeigten sich zum größten Teil beeindruckt und begeistert. Selbst chronische Gegner des Kritikers bezeugten ihren Respekt. Sieben Wochen nach dem Erscheinen stand das Buch auf Platz eins aller Bestsellerlisten im deutschsprachigen Raum.

Ein Zeichen dafür, welche Bedeutung Günter Grass für sein Leben hatte, setzt Reich-Ranicki hier schon mit der Überschrift des ersten Kapitels: „Wer sind Sie denn eigentlich?“ Eine Frage, die ihm Grass im Oktober 1958 bei einer Tagung der Gruppe 47 stellte – mit dem Zusatz: „ein Pole, ein Deutscher oder wie?“

Die Worte „oder wie“ deuteten wohl noch auf eine dritte Möglichkeit hin. Ich antwortete rasch: „Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude.“ Grass schien überrascht, doch war er offensichtlich zufrieden, ja beinahe entzückt: „Kein Wort mehr, Sie könnten dieses schöne Bonmot nur verderben.“ Auch ich fand meine spontane Äußerung ganz hübsch, aber eben nur hübsch. Denn diese arithmetische Formel war so effektvoll wie unaufrichtig: Hier stimmte kein einziges Wort. Nie war ich ein halber Pole, nie ein halber Deutscher – und ich hatte keinen Zweifel, daß ich es nie werden würde. Ich war auch nie in meinem Leben ein ganzer Jude, ich bin es auch heute nicht.

Grass bleibt eine der Hauptpersonen, auf die sich Mein Leben immer wieder bezieht. Und über die freundschaftliche, doch konfliktreiche Beziehung zwischen dem Schriftsteller und dem Kritiker ist mittlerweile viel geschrieben worden – von diesen selbst und von anderen, von Schriftstellern, Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern (vgl. auch die neuen Beiträge von Julian  Preece und Uwe Neumann in dieser Ausgabe von literaturkritik.de). Uwe Wittstocks inzwischen mehrfach erweiterte Biographie über Reich-Ranicki geht mit sechs Seiten auf diese Beziehung ein. Sie sind im Themenschwerpunkt der April-Ausgabe 2015 von literaturkritik.de zum Tod von Günter Grass noch einmal gesondert veröffentlicht worden. Wittstock weist hier auf den „Schlagabtausch“ im Jahr 1994 hin, bei dem die „Rivalität der beiden Männer“ wohl am deutlichsten hervorgetreten sei:

Grass beklagte damals in einer Rede, dass Kritiker inzwischen größere Aufmerksamkeit genössen als Schriftsteller. Das Rezensionsgewerbe habe sich in der Öffentlichkeit gleichsam vor die zu rezensierenden Bücher gedrängt: „Es herrscht nicht nur vor, es beherrscht den Betrieb.“ Und er verschwieg nicht, welchen Kritiker er bei diesem Angriff vor allem im Sinn hatte: „Der einzelne Entertainer, der sich als Quartett aufspielt, der literarische Stammtisch gibt den Ton an.“ Reich-Ranicki nahm den Fehdehandschuh auf und antwortete mit einer Polemik in der Frankfurter Allgemeinen. Es sei wahr, schrieb er, „dass sich bei uns gelegentlich ein Missverhältnis zwischen dem Primären und dem Sekundären bemerkbar macht. Alle wissen wir, dass nicht nur Grass in eine Krise geraten ist, sondern die ganze deutsche Gegenwartsliteratur. (…) Ein Zeichen der Krise mag es auch sein, dass die deutschen Kritiker bisweilen besser schreiben als die Autoren, mit denen sie sich beschäftigen. Was Grass so ärgert, trifft teilweise zu: Für manche Kritiker interessiert man sich heutzutage mehr als für diesen oder jenen Schriftsteller, der uns in den sechziger, in den siebziger Jahren entzückt hat. So ist das: Wenn Seuchen um sich greifen, werden die Ärzte immer wichtiger.“ Stritten hier zwei Platzhirsche des Literaturbetriebs um die Vorherrschaft im Revier?

In einem Gespräch mit Wittstock machte Grass 2004 auf die grundsätzlichere Bedeutung dieser nicht nur persönlichen Rivalität aufmerksam: „Ich glaube schon, dass er sich als ein Kritiker versteht in der Schlegelschen Tradition: Kritik als Kunstform, gleichberechtigt neben der Literatur, und in dürren Zeiten der Literatur überlegen. Es ist eine gewisse Hybris bei ihm da.“ Wittstock kommentiert die Bemerkung mit den Sätzen:

Zwar hat Reich-Ranicki die betreffenden Thesen Friedrich Schlegels ausdrücklich zurückgewiesen, mehr noch, er hat auch Alfred Kerrs „waghalsigen Versuch, die Kritik zur gleichberechtigten poetischen Gattung zu erheben“, immer wieder abgelehnt und als „Irrweg“ bezeichnet. Doch setzte er in Grass’ Augen die löbliche Absicht, lediglich ein Diener der Literatur sein zu wollen, nicht oft und nicht konsequent genug in die entsprechenden Taten um.

Wie Literatur und Literaturkritik aufeinander angewiesen, wie sie freund- und feindschaftlich, kooperierend und konkurrierend aneinander gebunden sind, dafür liefert die Beziehungsgeschichte zwischen Grass und Reich-Ranicki ein anschauliches und repräsentatives, wenn auch in vieler Hinsicht extremes Beispiel. In einem der Beiträge zum 85. Geburtstag des Kritikers, die Hubert Spiegel 2005 unter dem Titel Begegnungen mit Marcel Reich-Ranicki herausgegeben hat, verglich Grass ihre Beziehung mit einer Ehe:

Es gibt Ehen, die werden auf keinem Standesamt besiegelt und auch von keinem Scheidungsrichter getrennt; keine Kirche gibt ihnen höhere Weihen. In diesem Sinne ist mein Verhältnis zu Marcel Reich-Ranicki zu verstehen: Ich werde ihn nicht los, er wird mich nicht los. Da hat er nun über fünf Jahrzehnte hinweg meine Bücher zumeist verrissen und manchmal gelobt, einmal sogar hat es ihm gefallen, im Dienste des Magazins „Der Spiegel“ auf dem Cover zu agieren, indem er einen Roman von mir mit allerbildlichster Deutlichkeit zerriß; das hat mich, zugegeben, verletzt.

Einiges von dem, was Grass hier über diese „Ehe“ schrieb, zitiert Volker Weidermann gleich einleitend zu seinem kürzlich erschienenen Buch Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. Er erinnert dabei an die bis dahin letzte persönliche Begegnung beider in Lübeck, die diesem freundschaftlichen Geburtstagsbeitrag voranging und auf die er sich mit ihm bezog:

Es ist der Sommer des Jahres 2004. Sie kennen sich schon so lange, beinahe fünfzig Jahre lang. Als sie sich das erste Mal trafen, 1958 im Grandhotel Bristol in Warschau, da hatten sie schon ein ganzes Leben hinter sich. Aber ihre gemeinsame Geschichte, ihr Ruhm, die Romane, die Verrisse, die Liebeserklärungen, die Tränen und die Wut, ihr Leben als untrennbares Paar der deutschen Literatur – das lag alles noch vor ihnen.

Neun Jahre hatten sie sich jetzt wieder nicht gesehen. Der letzte Angriff des Kritikers war zu viel für den Dichter gewesen. […]

Jetzt stehen sie sich hier in Lübeck gegenüber. Der Schriftsteller Günter Grass und der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. „So hängen wir aneinander und tragen uns unsere Zerwürfnisse nach“, wird Grass später über dieses Treffen schreiben. Und bedauernd hinzufügen: „Ich hätte ihn umarmen sollen. Als Marcel Reich-Ranicki das später liest, wird er ausrufen: „Wissen Sie was? Grass hat recht. Wir hätten einander wirklich umarmen sollen.“

Der „letzte Angriff“, der Verriss des Kritikers, der den Schriftsteller zusammen mit dem Titel-Bild des Spiegel so „verletzt“ hatte und den er dem Kritiker über Jahre hinweg so übel nahm, bezog sich auf einen Roman von Grass, an den hier zu erinnern gerade auch im „Fontane-Jahr“ und dreißig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November lohnend ist. Nicht nur der sich nähernde 100. Geburtstag Reich-Ranickis im Juni 2020, sondern auch diese literarischen und politischen Erinnerungsanlässe dürften Volker Weidermann dazu motiviert haben, seine Geschichte dieses „Duells“ zum jetzigen Zeitpunkt zu veröffentlichen.

Der Titel des Romans Ein weites Feld ist eine Anspielung auf Effi Briest. Effis Vater benutzt die Redewendung hier wiederholt, wenn er sich nicht festlegen lassen will – bis zum Ende des Romans: „Ach Luise, laß … das ist ein zu weites Feld.“ Der Protagonist in dem Roman von Grass, dessen Handlung die Zeit nach dem Mauerfall bis zum ersten Jahrestag der Wiedervereinigung im Oktober1991 umfasst, heißt Theo Wuttke, lässt sich gerne Fonty nennen und identifiziert sich mit Fontane und seinem Erleben der deutschen Einheit und Reichsgründung 1870/71. Grass selbst hatte erklärt, es sei ihm vor allem darauf angekommen, „den gegenwärtigen Prozeß der deutschen Einheit vor dem Hintergrund der ersten Einheit von 1870/71 ablaufen zu lassen“. Volker Hage zitiert die Bemerkung in der Einleitung zu Reich-Ranickis Verriss, die ihm im Spiegel vorangestellt wurde – mit dem bezeichnenden Titel Dichter und Kritiker: ein Paar (https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9208330.html). Und er erinnert daran, was Grass vor seinem Roman über die Beziehung zwischen der DDR und der BRD geäußert hatte:

Schon 1967 plädierte er für eine baldige Konföderation beider deutscher Staaten: „Es gilt einen Anfang zu wagen, denn die Zeit arbeitet nicht für uns.“ Und 1970 schien es ihm gewiß zu sein: „Es wird keine Vereinigung der DDR und der Bundesrepublik unter westdeutschen Vorzeichen geben.“ Als dann 1989 die Berliner Mauer geöffnet wurde, fürchtete er öffentlich, daß nun in der Bundesrepublik „das Wiedervereinigungsgeschrei wieder losgeht“.

Je deutlicher die Auflösung der DDR sich abzeichnete, desto schriller wurde die Widerrede von Grass. Zuletzt – 1990 – beschwor er gar Auschwitz als „Ort des Schreckens“, der einen deutschen Einheitsstaat verbiete. Als der dann doch kam, geißelte der Autor das „menschenverachtende“ Treiben der Treuhand.

Wie Hage erinnert jetzt Weidermann an Grass‘ Frankfurter Poetik-Vorlesung, die er 1990 unter dem Titel Schreiben nach Auschwitz gehalten und dabei erklärt hatte, dass „eine der Voraussetzungen für das Ungeheure“, was mit Auschwitz verbunden ist, „ein starkes, das geeinte Deutschland gewesen ist.“ Fonty schreibt in seinem Roman der Enkeltochter: „Alles sagt mir: Nichts wie raus aus dem Land, in dem für alle Zeit Buchenwald nahe Weimar liegt, das nicht mehr meines ist oder sein darf.“ Reich-Ranicki zitiert das, und mehr noch als gegen die Rückgriffe auf Fontane richtet sich der am 21. August 1995 erschienene Verriss des Kritikers gegen die politische Positionierung des Romans zur Wiedervereinigung:

Eine knappe Beurteilung der DDR kann man im „Weiten Feld“ ebenfalls finden: „Was heißt hier Unrechtsstaat! Innerhalb dieser Welt der Mängel lebten wir in einer kommoden Diktatur.“ Auch dies sagt Fonty. Niemand widersetzt sich seiner Ansicht, nirgends wird sie korrigiert. Im Gegenteil, in diesem Roman gibt es zahlreiche, mehr oder weniger beiläufige Äußerungen über die DDR, und sie sind stets von diesem Geist, etwa: So schlimm war es ja wieder nicht, die Leistungen sollte man nicht übersehen, und auch in Wuppertal oder Bonn wird nur mit Wasser gekocht.

Mein lieber Günter Grass: Ich möchte nicht mit Ihnen über Ihre politischen Ansichten, die ich, verzeihen Sie, nicht immer ganz ernst nehmen kann, hier diskutieren. Es ist nicht meine Sache, Sie über die DDR zu belehren. Aber es ist mein Recht, mich zu wundern. Sie wissen so gut wie ich, dass das SED-Regime Millionen Menschen unglücklich gemacht, dass es Unzähligen, darunter, beispielsweise, unseren Kollegen Walter Kempowski und Erich Loest, Jahre ihres Lebens geraubt hat. Sie wissen, besser als ich, dass und wie die Literatur in diesem Land unterdrückt wurde. Sie wissen sehr wohl, dass die DDR ein schrecklicher Staat war, dass hier nichts zu beschönigen ist. Doch Ihr Roman kennt keine Wut und keine Bitterkeit, keinen Zorn und keine Empörung. Ich gebe zu, ich kann das nicht begreifen, es verschlägt mir den Atem.

Und ich kann es um so weniger begreifen, als Sie zur generellen und, wie ich meine, ungeheuerlichen Verurteilung der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung sehr wohl fähig sind.

Die Divergenzen zwischen Grass und Reich-Ranicki in den Einschätzungen der Wiedervereinigung wurden schon 1990 im Zusammenhang mit dem Streit um Christa Wolf im eben vereinten Deutschland (siehe die erneute Veröffentlichung als Sonderausgabe von literaturkritk.de) offen ausgesprochen. Marcel Reich-Ranicki hatte maßgeblichen Anteil an der Initiation des Streits. Er war es in der Tat, der, wie Günter Grass in einem am 16. Juli 1990 veröffentlichten Spiegel-Gespräch feststellte, „das Signal zur Attacke gegen Christa Wolf gab“. Obwohl er „eigentlich von seiner eigenen Biographie her wissen müßte, was Verstrickung im Stalinismus bedeutet“, hielt Grass ihm vor, gab er das Signal „mit der Schärfe und Unbarmherzigkeit des Konvertiten“.

Drei Wochen nach der Öffnung der Grenze, am 30. November 1989, hatte Reich-Ranicki Das Literarische Quartett mit folgenden Worten eingeleitet: „In Deutschland hat eine Revolution stattgefunden. Und wann immer auf dieser Erde eine Revolution stattfindet, erzählen Schriftsteller gern, sie, die Schriftsteller, hätten dazu wesentlich beigetragen. Wie ist das, haben eigentlich in der DDR die Schriftsteller gesiegt oder versagt?“ Die Diskussion zwischen Reich-Ranicki, Klara Obermüller (Weltwoche, Zürich), Sigrid Löffler (Profil, Wien) und Hellmuth Karasek (Spiegel, Hamburg) nahm den wenig später in den Feuilletons ausgetragenen Streit um Christa Wolf in vieler Hinsicht vorweg.

Reich-Ranickis Verriss von Ein weites Feld folgte dann allerdings der von ihm gerne zitierten Devise, die im 18. Jahrhundert Lessing ausgegeben hatte: „Einen elenden Dichter tadelt man gar nicht; mit einem mittelmäßigen verfährt man gelinde; gegen einen großen ist man unerbittlich.“ Die unerbittliche Kritik an dem Roman in Form eines offenen Briefes entspricht dieser Devise insofern ganz ausdrücklich und geradezu programmatisch, als sie gleich zu Beginn die Qualitäten des Dichters hervorhebt. Und schon mit seiner Anrede „Mein lieber Günter Grass“ ist der Verriss zugleich symptomatisch für die extremen Ambivalenzen in Reich-Ranickis Beziehung zu Grass:

Mein lieber Günter Grass, es gehöre „zu den schwierigsten und peinlichsten Aufgaben des Metiers“ – meinte Fontane –, „oft auch Berühmtheiten, ja, was schlimmer ist, auch solchen, die einem selber als Größen und Berühmtheiten gelten, unwillkommene Sachen sagen zu müssen“. Aber – fuhr er fort – „schlecht ist schlecht, und es muß gesagt werden. Hinterher können dann andere mit den Erklärungen und Milderungen kommen“. Das ist, ziemlich genau, meine Situation.

Ich halte Sie für einen außerordentlichen Schriftsteller, mehr noch: Ich bewundere Sie – nach wie vor. Doch muss ich sagen, was ich nicht verheimlichen kann: dass ich Ihren Roman „Ein weites Feld“ ganz und gar missraten finde. Das ist, Sie können es mir glauben, auch für mich sehr schmerzhaft. Sie haben ja in dieses Buch mehrere Jahre schwerer und gewiss auch qualvoller Arbeit investiert. Sie haben, das ist unverkennbar, alles aufs Spiel gesetzt: Es ist das umfangreichste Werk Ihres Lebens geworden. Was soll ich also tun? Den totalen Fehlschlag nur andeuten und Sie schonen, Sie also wie einen „matten Pilger“ (auch ein Fontane-Wort!) behandeln? Nein, das nun doch nicht. Nur eins verspreche ich Ihnen: Wer hier auf boshafte Witze und auf hämische Seitenhiebe wartet, der soll nicht auf seine Rechnung kommen. Denn schließlich geht es um eine todernste Sache – jedenfalls für Sie.

Der Brief endet mit entsprechender Zwiespältigkeit so:

Aber dass ich es nicht vergesse. Da gibt es in Ihrem Buch eine Episode, die völlig aus dem Rahmen fällt. Sie schildern ein Treffen mit Uwe Johnson. Sie schildern es wunderbar. Das kann keiner besser als Sie. Aber es sind nur fünf Seiten von 781.

Es grüßt Sie in alter Herzlichkeit

Ihr Marcel Reich-Ranicki

Wie gespalten und wechselhaft der Kritiker in seiner Beziehung zu Grass war, zeigt auch die unmittelbare Vorgeschichte zu dem Verriss, über die Volker Weidermann ausführlich berichtet. Er zitiert dabei Teile eines Briefes, in dem Reich-Ranicki den Autor über die vorgesehene Lesung aus seinem angekündigten, doch noch nicht erschienen Roman informiert. Der vollständige Brief vom 25. Februar 1995 hat folgenden Wortlaut:

Mein lieber Günter Grass,

der Steidl Verlag bittet mich, Ihnen einige Details bezüglich Ihrer Lesung am 25. April in Frankfurt mitzuteilen. Also:

1. Die Veranstaltung findet im Jüdischen Gemeindezentrum in Frankfurt/M., Savignystraße 66, am 25. April um 20.00 Uhr statt.

2. Auf den Plakaten und Einladungen soll gedruckt sein: „Günter Grass liest aus seinem neuen Roman“. Oder wünschen Sie es anders? Wollen Sie vielleicht den Titel des Romans angeben? Das hängt natürlich nur von Ihnen ab.

3. Der Verlauf der Veranstaltungen in dieser Serie (sie heißt: „Literaturforum im Jüdischen Gemeindezentrum“) ist schlicht und einfach. Es beginnt mit einer Einführung von mir, die maximal 15 Minuten dauert. Ich kann Sie beruhigen: Über den Gast wird von mir nur Freundliches gesagt. Während dieser meiner Einführung sitzen Sie in der 1. Reihe und können aufmerksam schweigen. Nach meiner Einführung lesen Sie mindestens 60 Minuten, wenn Sie es wünschen, auch 70 oder 80 Minuten. Bei starkem Beifall, den ich als selbstverständlich voraussetze, ist eine Zugabe üblich. Die Zugabe kann ebenfalls aus dem Manuskript Ihres neuen Romans stammen, es kann aber auch eine Episode aus einem früheren Buch sein oder ein Gedicht. Natürlich ist das ganz und gar Ihnen überlassen. Möchten Sie stehend oder sitzend lesen? Im Saal sind etwa 600-700 Plätze, die Akustik ist ganz gut. Wollen Sie mit oder ohne Mikrofon lesen? Vielleicht ist das Beste, daß ein Mikrofon vorbereitet wird und Sie sich dann entscheiden, ob Sie davon Gebrauch machen oder nicht. Ich spreche in diesem Saal in der Regel ohne Mikrofon.

4. Es wird für Sie ein Zimmer im „Frankfurter Hof“ reserviert. Einzelzimmer oder Doppelzimmer?

5. Das Honorar beträgt DM 2.000, – sowie die Flug- und Hotelkosten.

6. Es ist bei dieser Veranstaltung üblich, daß der Autor (evtl. mit Begleitung) um etwa 17.30 Uhr zu mir zum Tee oder Kaffee kommt. Meine Privatadresse steht auf diesem Briefbogen. Die Fahrzeit vom „Frankfurter Hof“ zu mir nach Hause dauert mit dem Taxi maximal 20 Minuten. Bei mir werden noch zwei, drei Personen sein, aber ausschließlich devote Bewunderer Ihres Talents – so wie meine Frau, die Sie insgeheim immer noch liebt. Peter Glotz will zu der Veranstaltung kommen, ich werde ihn auch zu mir nach Hause einladen.

7. Nach der Veranstaltung gemeinsames Essen mit zwei oder drei Herren der Jüdischen Gemeinde (wahrscheinlich auch Bubis) in einem italienischen oder chinesischen Restaurant. Auch das können Sie entscheiden.

Noch nie hat ein Autor vor der Veranstaltung einen so ausführlichen Brief erhalten, aber Ihr Verlag wünscht alle diese Details.

Bitte lassen Sie noch von sich hören. Daß ich mich auf Ihren Besuch außerordentlich freue, ist die pure Wahrheit und nicht übertrieben.

Sehr herzlich / Ihr / Marcel Reich

(zitiert nach den Abdrucken der Briefe in Uwe Neumann: Kein weites Feld. Zum Briefwechsel zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki. In: Freipass. Forum für Literatur, Bildende Kunst und Politik, Bd. 3, 2018, S. 142-195).

Die von Reich-Ranicki moderierte Lesung wurde, wie Weidermann schildert, ein voller Erfolg: Nach der Lesung mit mehr als 700 Zuhörern „tosender Applaus, natürlich Zugabe, Grass liest noch drei Sonette aus ,Novemberland‘, noch mehr Applaus, das Publikum erhebt sich, Reich-Ranicki natürlich auch. Er unterbricht sein Klatschen nur kurz, um dem Dichter herzlich die Hand zu schütteln. Triumph. Versöhnung. Herrlichkeit. Jetzt muss nur noch das Buch erscheinen.“ Als es vier Monate später erscheint, veröffentlicht Der Spiegel den Verriss. „Die Wirkung dieses Textes und der Titelseite war ungeheuer“, so Weidermann. „Zeitungen schrieben von der öffentlichen Hinrichtung eines Autors, sahen eine neue deutsche Bücherverbrennung, eine Machtdemonstration, die Vernichtung eines Autors aus politischen Gründen. Es folgten viele Verrisse des Buches, einige Hymnen – eine Zusammenstellung aller Debattenbeiträge, die das Innsbrucker Zeitungsarchiv kurz darauf erstellte, umfasst 330 Seiten.“

Auch die Literaturwissenschaft war an den Debatten beteiligt. „Wir sollten die Literaturkritik nicht den Feuilletons überlassen“, schrieb die Literaturwissenschaftlerin Jutta Osinski in einem Beitrag für die Fontane-Blätter (62, 1996; veröffentlicht auch in literaturkritik.de 4/2015). „Dort ist der Roman so oft verrissen worden, daß die Rezensionen wohl viele potentielle Leser, wenigstens in den alten Bundesländern, von der Lektüre abgehalten haben. Deshalb will ich ihn zunächst vorstellen, um dann über eine Kritik der Kritik zu den Aspekten der Fontane-Rezeption zu kommen, welche mir die ästhetische Qualität des Romans auszumachen scheinen.“ Die literaturwissenschaftliche Kritik an der Kritik des Romans in den Feuilletons richtete sich natürlich in erster Linie gegen Reich-Ranicki. Doch steht sein Verriss nach Osinski für die Einstellung, mit der im Westen Deutschlands der Roman generell „niedergemacht“ wurde, während in den neuen Bundesländern der Roman „begeistert gelesen und sein Autor gefeiert“ wird.

Reich-Ranicki begehe den Fehler, die Perspektive des Protagonisten mit der des Autors gleichzusetzen, und verkenne das Spiel des Romans mit Fiktion und Faktischem. Aus den vielfältigen „Perspektiven der Romanfiguren“ entsteht im Roman „ein mosaikartiges Gesamtbild, das die deutsche Einheit als nicht geglückt vorführt“.

Der Streit um den Roman und seine Kritiker wurde über das Duell zwischen Reich-Ranicki und Grass hinaus auch auf Konflikte zwischen Literatur, Kritik und Literaturwissenschaft ausgeweitet. Die Literaturwissenschaft ist übrigens ihrerseits in dem Roman ebenfalls ein Thema, das mit satirischem Gestus behandelt wird. Osinki weist darauf hin. Mit „der Figur der Kölner Studentin Martina Grundmann“ werde „ein hübscher satirischer Seitenhieb auf die westdeutsche Literaturwissenschaft geführt“. Die Studentin hat nichts von Fontane gelesen, erklärt aber: „Sekundärliteratur kriegen wir mit, jedenfalls so viel, daß man den Durchblick hat und ihn einordnen kann, wie unser Prof. sagt, ungefähr zwischen Raabe und Keller“.

Etwas von den Konflikten zwischen Literatur, Literaturkritik und Literaturwissenschaft, in deren Grenzbereichen sich Weidermanns Buch selbst bewegt, wird auch an den zum Teil sehr kritischen Reaktionen auf seine „Geschichte“ erkennbar (siehe die Hinweise auf der Seite https://literaturkritik.de/public/buecher/Buch-Info.php?buch_id=49190). Einige Rezensionen bemängelten, dass Nichts daran „neu oder auch nur neu gesehen“ sei und Weidermann auf Reflexionen zur Literaturkritik verzichte. Oder dass Weidermann Grass einen Monolog und dem Ehepaar Ranicki Empfindungen andichtet, obwohl er über die inneren Vorgänge seiner Protagonisten doch eigentlich nichts wissen kann. Auch das Fehlen von Fußnoten oder eines Registers wird beanstandet. Hinweise auf den 2007 in Tel Aviv eingerichteten „Marcel-Reich-Ranicki-Lehrstuhl für Deutsche Literatur“, die 2010 an der Universität Marburg eröffnete „Arbeitsstelle Marcel Reich-Ranicki für Literaturkritik in Deutschland“ oder die Betreuung von Nachlassbeständen am Deutsche Literaturarchiv in Marbach legen nahe, dass Weidermanns Geschichte mit akademischen Ansprüchen konfrontiert ist, denen sie nicht entspricht.

Welche Kriterien bei der Bewertung von Weidermanns Buch (un)angemessen sind, wäre unter literarischen, literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten gleichmaßen bedenkenswert. Eine literaturwissenschaftliche Kritik an seiner 2017 erschienene Darstellung der Revolution von 1918 Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen war in literaturkritik.de (1/2018) schon einmal ein Anlass, sich damit auseinanderzusetzen. Auch hier ging es um den Vorwurf, nichts Neues zu bieten und zugunsten eines unterhaltsamen Erzählens den literaturwissenschaftlichen Ansprüchen an den Umgang mit den Quellen nicht zu entsprechen.

Dass die von Weidermann erzählte „Geschichte“ mehr ist als eine bereits Bekanntes kompilierende, paraphrasierende oder zitierende „Doppelbiographie“, signalisieren schon die ersten beiden Kapitel-Überschriften „Peer Gynt in Włocławek“ und „Peer Gynt in Danzig“ in mehrfacher Hinsicht. Weidermann betreibt ein kompositorisches, literarisch ambitioniertes Spiel mit Ähnlichkeiten, Kontrasten, Leitmotiven und Metaphern – von Beginn an, zu dem auch schon das Titelbild mit der Weichsel gehört, bis zum Ende. Die bisherigen Rezensionen gehen nur vage oder gar nicht darauf ein.  „Peer Gynt“, der Geschichtenerfinder, in literarischen, oft traumartigen Phantasiewelten lebend, auf der Flucht aus der vielfach unerträglich werdenden Realität, wird nicht einmal erwähnt. Die Mutter von Grass, hebt Weidermann hervor, heißt wie die von Reich-Ranicki Helene, liebt Bücher und nennt ihren Sohn „meinen kleinen Peer Gynt“. Reich-Ranicki erinnert sich in Mein Leben an Griegs „Peer Gynt“-Suiten, die der musikverliebte Vater in seiner Schallplattensammlung hatte.

„Die zwei Peer Gynts im Traumreich der Literatur, einst losgeschickt von ihren Müttern. Heute ineinander verhakt, einander antreibend, inspirierend, fürchtend, bewundernd.“ Die Doppelbiographie Weidermanns über die „öffentliche Zwillingsfeindschaft“ der beiden ist kompositorisch grundiert durch die fortwährende Konzentration auf die Gemeinsamkeiten des „Paares“: die starke Mutterbindung der beiden in polnischen Städten an der Weichsel geborenen Söhne, ihre Liebe zur Literatur und Musik (Reich-Ranicki) oder Malerei (Grass), ihre öffentliche Resonanz, ihr mächtiger Einfluss und ihr Ruhm im weiten Feld der Literatur, ihre Ehrendoktorwürden (Grass ohne Abitur, Reich-Ranicki ohne Studium), die großen Sympathien beider mit Willy Brandt und das lange Schweigen der sonst so lautstarken Männer über vergangene Lebensepisoden. „Der eine sprach viele Jahre lang nicht über sein Überleben im Getto, weil er von beinahe niemandem gefragt wurde, auch weil er nicht stören, endlich dazugehören wollte. Sprach auch viele Jahre nicht über seine Tätigkeit für den polnischen Geheimdienst. Der andere schwieg beinahe ein Leben lang von seiner Mitgliedschaft in der SS.“

Weidermanns Geschichte über die beiden „Zwillingsfeinde“ endet mit einem Gedicht aus dem Band Letzte Tänze. Gedichte und Bilder, das Reich-Ranicki in seiner letzten Rezension, die er über ein Buch von Grass geschrieben hat, einem hymnischen Loblied auf den Lyriker (nachzulesen auch in literaturkritik.de 4/2015 zum Tod von Grass) im Jahr 2003, abschließend besonders positiv hervorhebt:

Vielleicht ist das schönste Gedicht des Bandes eines, das ohne Menschen auskommt und bloß von zwei Buchen erzählt: „Die Stämme glatt und nah bei nah, / daß grad ein Luftzug / die Haut noch streichelt. / Erst im Geäst sind sie behende, / nackt winterlich verzweigt / vor leergeräumtem Himmel.“

Die letzte Zeile lautet: „Zwei Buchen tanzen auf der Stelle.“ Dieses Gedicht, „Zum Paar gefügt“, beschert uns eine Erschütterung der reinsten Art. Es wird uns, vermute ich, überleben.

Neben tanzenden Paaren oder auch Zwillingen und ihrem langen Schweigen über Vergangenes sind Fragen des Überlebens zentrale, sich kontinuierlich wiederholende Motive in Weidermanns Geschichte. Das betrifft vor allem auch die Titel-Metapher „Das Duell“. Reich-Ranicki hat gelegentlich auf „Duelle“ in Erzählungen und Romanen anderer Autoren hingewiesen, 1963 in seinem Buch Deutsche Literatur in West und Ost auf den Roman Duell mit dem Schatten seines Freundes Siegfried Lenz oder 1966 in der Zeit auf die Erzählung Das Duell von Anna Seghers. Und 1988 hat er selbst die Beziehung zwischen Kritiker und kritisiertem Autor als Duell veranschaulicht. In einer Vorbemerkung zu seiner Rezension des Romans Die schöne Frau Seidenman von Andrzej Szczypiorski über das Prestige von Romanen im Literaturbetrieb schrieb er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Und wenn man einem deutschen Schriftsteller nachrühmt, er sei ein Meister der Novelle und der Short-Story, doch nicht unbedingt des Romans, muß man mit einer Aufforderung zum Duell rechnen, jedenfalls mit einer Beleidigungsklage.“ Eine Anspielung auf Günter Grass, dessen Novellen Katz und Maus oder Im Krebsgang er weit mehr gelobt hatte als die meisten Romane des Autors? „Duell“ ist in dieser Bemerkung gewiss ein übertriebenes Bild. Ein Kampf um Leben und Tod war hier nicht gemeint. Weidermann nimmt die Metapher ernster. Und was er dazu erzählt, ist keineswegs altbekannt, sondern gehört zu den Neuigkeiten, die seine „Geschichte“ durchaus auch zu bieten hat.

Es „geht es um eine todernste Sache – jedenfalls für Sie“, hatte Reich-Ranicki in seinem Verriss von Ein weites Feld geschrieben. Der damalige Spiegel-Redakteur Volker Hage, der Weidermann seine Notizen und Tagebucheinträge über Reich-Ranicki anvertraute, informierte diesen darüber, dass Reich-Ranicki „einen Selbstmord von Grass“, den das Schreiben an dem umfangreichen Roman mitten in einer existentiellen Lebenskrise an den Rand seiner Kräfte gebracht hatte, bei einem Misserfolg „für denkbar hielt“. Als Reich-Ranicki fast zwei Jahrzehnte später, 91 Jahre alt, nach dem Tod seiner Frau Tosia mit Angst dem eigenen Tod entgegensieht, erscheint am 4. April 2012 das (auch in literaturkritik.de 5/2012) heftig umstrittene Gedicht Was gesagt werden muß, in dem Grass die Rüstungs- und militärische Abschreckungspolitik der israelischen Regierung als Gefährdung für den „ohnehin brüchigen Weltfrieden“ anprangert. Auch wenn Reich-Ranicki das Gedicht nicht wie viele andere als antisemitisch einschätzt, provoziert es ihn zu einem neuen, letzten „Duell“ mit dem Autor. Schreiben will er über das „ekelhafte Gedicht“ nicht, aber reden – mit Volker Weidermann, der das Gespräch dann am 8. April 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung veröffentlicht. Allerdings ohne die letzte Frage, die er ihm stellte und über die er jetzt in seinem Buch erzählt:

Und ganz zum Schluss, auf die allerletzte Frage, worauf er noch warte oder hoffe, sagt er: „Auf die Nachricht vom Tod von Günter Grass.“

Das Schweigen danach. Was hat er da gesagt? Wie hat er das gemeint? Wünscht er ihm, dem anderen, wirklich den Tod?

Nein, das wohl nicht. Aber er hat wohl ihre gemeinsame Geschichte wirklich als ein Duell gesehen, als einen Zweikampf zwischen dem einen repräsentativen großen deutschen Dichter seiner Epoche, der damals, in seiner Jugend, auf der anderen Seite stand, als die Deutschen ihn aus dem Land warfen, seine Familie töteten und auch ihn töten wollten, ihn und seine Frau. Und ihm, dem Überlebenden. Er wollte übrig bleiben, als Letzter. Und einen Nachruf schreiben, auf ihn, den anderen.

Das konnte er nicht mehr. Er starb am 18. September 2013, der etliche Jahre jüngere Grass anderthalb Jahre später. Einen Nachruf auf seinen „Zwillingsfeind“ hat auch er nicht geschrieben. Aber aus seinem letzten, posthum erschienen Gedichtband Vonne Endlichkait zitiert Weidermann die Verse über „telegene Scharfrichter, denen – ihr ahnt es – das letzte Wort versagt bleibt.“ Und bemerkt dazu: „Der Kampf hörte auch nach dem Tod des anderen nicht auf.“

Als Grass zum 85. Geburtstag Reich-Ranickis die Beziehung zwischen ihnen als Ehe beschrieb, „die auf keinem Standesamt besiegelt und auch von keinem Scheidungsrichter getrennt“ wird, und von ihrem letzten Treffen erzählte, bei dem sie, „ihrer wechselseitigen Abhängigkeit bewußt“, „schonend miteinander“ umgingen, beendete er seine Ausführungen dazu mit dem Satz: „Noch haben wir Zeit für weitere Mißverständnisse und Liebesbeteuerungen.“ Inzwischen ist die Zeit der beiden vorbei. Aber die wechselseitigen Abhängigkeiten, für die sie stehen, die von Literatur und Literaturkritik, leben weiter. Und die Literaturwissenschaft ist in diese Zwillingsfreundschaften und -feindschaften involviert. Ihre gegenseitigen Abhängigkeiten und Abgrenzungen, ihre Affinitäten und Animositäten genauer zu analysieren würde sich lohnen. Und es bliebe noch viel Zeit dazu. Doch schon jetzt könnten die drei bei aller kritischen Distanz zueinander schonend und konstruktiv miteinander umgehen. Nicht schaden dürften dabei Versuche der Beteiligten, gelegentlich die Rollen zu wechseln, die Grenzen ihrer Arbeit zu überschreiten oder zu öffnen – in ein weiteres Feld.

Titelbild

Volker Weidermann: Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
309 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051094

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch