Von Wanderern und Weisen weit weg

„Er ging voraus nach Lahasa“: Nicholas Mailänders ausführliche Biografie über Peter Aufschnaiter und dessen Flucht (mit Heinrich Harrer) nach Tibet

Von Carina GrönerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Gröner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nicht nur der Titel der hier vorliegenden Rezension, der durchaus absichtlich so klingt, als könnte er schon vor vielen Jahren verfasst worden sein – dieser leichte Geschmack des längst Vergangenen betrifft oberflächlich betrachtet auch Thema und Inhalt der vorliegenden Biografie über den österreichischen Bergsteiger und Abenteurer Peter Aufschnaiter und seinen Aufenthalt im traditionell geprägten vormodernen Tibet in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts. Dennoch, oder besser genau deswegen, stellt diese akribisch und aufwendig recherchierte und wissenschaftlich gut belegte Dokumentation eine wertvolle Grundlage dar für das Verständnis der Bedeutung von Pionierleistungen von Bergsteigern wie Aufschaiter zu Beginn des 20 Jahrhunderts einerseits und andererseits für die heute noch immer verbreitete und häufig vom postkolonialen Blickwinkel aus historisch verklärte Sicht auf das vormoderne Tibet als Ort des romantisch Fremden. Somit rechtfertigt sich auch der emphatisch bestimmte Artikel im Titel dieser Biographie. Es ist die Biografie Aufschnaiters und eben nicht nur eine Biografie irgendeines Abenteurers und Weltreisenden, wie sie zur Zeit des untergehenden Kolonialismus gerade in Mode waren.

Und so beginnt auch die Lebensbeschreibung des 1899 in Kitzbühl geborenen Peter Aufschnaiter ganz genreuntypisch mit einer narrativ reflektierenden Passage über die Anfänge des alpinen Skitourismus um 1900 aus der Perspektive von Franz Reisch, eines väterlichen Freundes des Protagonisten. Damit ist einer der wichtigsten Fokuspunkte auf die Lebensgeschichte von Petrus Aufschnaiter gesetzt, derjenige des Alpinisten, des Bergsteigers, der jedes Gebirge und jede Landschaft immer auch unter sportlichen Gesichtspunkten betrachtet. Natürlich ist es ebenjene Begeisterung für den Bergsport und den Alpinismus, die den jungen Aufschaiter während seines Studiums dazu bewegt, dem Alpenverein beizutreten und 1929 die erste Expedition zum Himalaya zu unternehmen. Dieses Ziel der Wanderexpedition lenkt den Blick auf den zweiten wichtigen Fokus dieser Biografie, das weit entfernte Land Tibet, das Aufschnaiter zu einer für die Gesamtregion historisch bedeutenden Zeit bereist. Es ist das Ende des britischen Kolonialismus in der Region und für das abgeschiedene Tibet auch das Ende der traditionellen feudalen und monastisch geprägten Herrschaftsform. Der Porträtierte hatte sich schon während seiner Schulzeit sehr für dieses Gebiet, seine Sprache und Kultur interessiert und früh begonnen, Hindi, Nepali und Tibetisch zu lernen.

Zehn Jahre nach der ersten Expedition in den Himalaya trifft Aufschaiter dann bei einem erneuten Expeditionsvorhaben zum Nanga Parbat erstmals auf Heinrich Harrer, mit dem er später aus indischer Kriegsgefangenschaft nach und durch Tibet flieht und der schon bald nach dem Krieg mit seinen autobiografischen Erinnerungen an die Flucht durch Tibet einen international bekannten Bestseller landet.

Aufschnaiters Flucht aus dem indischen Gefangenenlager nach Tibet und die Jahre, die er dort gerne und freiwillig durchaus länger als politisch notwendig verbringt, sei es als Kartograph unbekannter Bergregionen, als Entdecker archäologischer Zeugnisse einer frühen tibetischen Hochkultur, als Entwicklungshelfer und sogar als tibetischer Staatsbeamter oder später im Dienste Nepals, erscheinen in dieser Biografie im Gegensatz zu Harrers Darstellung dokumentarisch ungeschönt teils als Ausweg aus einer im NS-Staat begonnenen und dann durch den verlorenen Weltkrieg gescheiterten Bergsteiger- und Akademikerkarriere, teils als durch eine Aneinanderreihung von Zufällen und Affinitäten begünstigte Schicksalskonstellation. Diese, von sehr persönlichem Interesse geleiteten Motive etwa führen den passionierten Wanderer immer wieder in die Gegenden Tibets, in denen der berühmte Yogi Milarepa lebte und wirkte. Dabei bleiben die in der Biografie zahlreich enthaltenen authentischen Beobachtungen über das Leben und die Kultur im damals noch unabhängigen Tibet stets aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters gestaltet, der nie für oder gegen eine politische oder religiöse Position Partei ergreift. Der Grundton seiner Beschreibungen des Lebens in Tibet vor 1950 aber bleibt von einer tiefen Sympathie geprägt gegenüber der Landschaft, den Menschen und der Kultur. „Nie wieder werde ich ein Land und seine Menschen so mögen, wie ich Tibet gemocht habe“, zitiert ihn Nicholas Mailänder aus einem Brief von 1952 (S. 280).

Die Biografie erzählt das Leben Aufschnaiters lebhaft und bindet zu einem großen Teil Zitate aus dem Nachlass des Protagonisten und Dokumente von Zeitzeugen ein, ohne je an Spannung zu verlieren. Der vorliegende Band ist die Biografie eines Abenteurers, mehr noch aber ist er eine Dokumentation verschiedenster historisch relevanter Aspekte: Nicholas Mailänders Buch Er ging voraus nach Lhasa dokumentiert eines der letzten großen geographischen Vermessungsvorhaben auf dem Dach der Welt und das alltägliche Leben im damals noch traditionell geprägten und unabhängigen Tibet, genauso aber zeigt es die nationalsozialistische Unterwanderung des alpinen Bergsports und eine besondere und doch exemplarische Lebensgeschichte in der Zeit des Zweiten Weltkrieges sowie die Revision der eigenen Überzeugungen darüber hinaus. Damit gelingt es Mailänder das einzulösen, was sich Peter Aufschnaiter kurz vor seinem Tod 1973 gewünscht hatte, nämlich aus dem „rohen Felsklotz“ des gesammelten Materials ein Gesamtkunstwerk, eine Figur, zu gestalten.

Titelbild

Nicholas Mailänder: Er ging voraus nach Lhasa. Peter Aufschnaiter, die Biographie.
Unter Mitarbeit von Otto Kompatscher.
Tyrolia Buchverlag, Innsbruck 2019.
411 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783702236939

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