Eine kleine Sensation

Unveröffentlichtes von Marcel Proust aus dem Nachlass des Verlegers und Literaturwissenschaftlers Bernard de Fallois

Von Bernd-Jürgen FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd-Jürgen Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

I. Proust avant Proust

Am 9. Oktober 2019 erschien der neueste Proust: Le mysterieux correspondant et autres nouvelles inédits, oder, wie der Titel der zu erwartenden Übersetzung wohl lauten wird: Der mysteriöse Briefeschreiber und andere unveröffentlichte Novellen, im Verlag Bernard de Fallois des kürzlich verstorbenen gleichnamigen Proustforschers und Literaturwissenschaftlers. Es handelt sich im Wesentlichen um den Materialienband zu einem Kapitel der Dissertation de Fallois’, das im Frühjahr 2019 wie jetzt auch die Inédits von dem nicht minder renommierten Proust-Forscher Luc Fraisse unter dem Titel Proust avant Proust – Essai sur Les Plaisirs et les Jours[1] neu herausgegeben und kenntnisreich kommentiert wurde. Das Erstaunliche nun: Dieses Konvolut von Texten aus der Zeit vor dem Erscheinen von Les Plaisirs et les Jours[2], das doch eigentlich zusammen mit der Dissertation hätte vorgelegt werden müssen, ruhte von aller Welt abgeschieden seit den fünfziger Jahren bis zum Tod de Fallois’ in dessen Schreibtischschublade. Eine kleine Sensation also, zumindest in der erlauchten Sphäre der Proustkenner und -liebhaber, die doch noch kaum die Erschütterung über den neu aufgefundenen Fragebogen[3] des jungen Proust überwunden hatten – wobei ich allerdings gleich ein wenig den Spielverderber spielen muss: Einige der Texte waren, dem Anspruch der roten Banderole des Buches zum Trotz, durchaus schon veröffentlicht worden, wenn auch nicht in den Werkausgaben, sondern in dieser und jener Zeitschrift (siehe dazu die jeweiligen Anmerkungen).

Bernard de Fallois (1926–2018), der 1948 sein Diplom in Literaturwissenschaft gemacht hatte, stieß mit seinem Plan, anschließend an der Sorbonne über Proust zu promovieren, auf keine Gegenliebe – Proust war zu der Zeit völlig marginalisiert. Nach der Publikation von André Maurois’ Studie À la recherche de Marcel Proust, étude et biographie littéraire (Éditions Hachette)[4] im Jahr 1949 wandte sich de Fallois an Maurois, der ihn mit der Proustnichte und -erbin Suzy Mante-Proust bekannt machte, die ihm wiederum die Durchsicht der nachgelassenen Papiere[5] Prousts gestattete. Um 1950 dann machte André Maurois in einem Möbellager die sensationelle Entdeckung – dieses Mal eine große Sensation – eines unveröffentlichten Frühwerks von Proust aus der Zeit 1895–1899/1902, das Bernard de Fallois 1952 mit dem Namen des Protagonisten Jean Santeuil[6] als Titel publizierte. 1954 schließlich konnte Fallois obendrein zahlreiche Skizzen und Entwürfe aus dem Archiv Mante-Proust unter dem Titel Contre Sainte-Beuve suivi de Nouveaux mélanges[7] gebündelt veröffentlichen, die allem Anschein nach zum großen Teil zu einem aufgegebenen Projekt „Contre la méthode de Sainte-Beuve“[8] gehörten. Um die jetzt veröffentlichten Texte ranken sich also gleich zwei Geheimnisse: Warum hat Proust sie nicht in seine Essay-Sammlung Les Plaisirs et les Jours aufgenommen, und warum hat de Fallois sie nicht in der Sammlung Contre Sainte-Beuve zumindest unter die Nouveaux mélanges aufgenommen? Beide Fragen mögen dieselbe Antwort haben: Die Texte könnten erotisch, vor allem homoerotisch, zu explizit für ihre Zeit gewesen sein oder jedenfalls in den fraglichen Bänden zu einem so nicht gewünschten Übergewicht der homoerotischen Thematik geführt haben: De Fallois zitiert auf S. 87 seiner Studie ohne Quellenangabe[9] einen Satz, der ursprünglich im Vorwort der Plaisirs gestanden habe und vor der Publikation gestrichen worden sei: „Ich weiß, dass bei der Durchsicht manch einer so sehr schockiert war, dass ich jene [Novelle] zurückziehen musste, auf die ich vielleicht den größten Wert gelegt hatte.“ Vermutlich ist Le Mystérieux correspondant mit „jener“ Novelle gemeint, denn die beiden anderen Opfer der Bedenklichkeit, Avant la nuit und L’Indifférent, die ebenfalls im Entwurf zu Le Château de Reveillon noch enthalten waren[10] – dies der ursprünglich vorgesehene Titel der Plaisirs –, waren bereits 1893 bzw. im März 1896 an anderem Ort erschienen.[11]

Die siebzehnjährige Pause von 1896 bis 1913 zwischen Prousts Erstling Les Plaisirs et les jours und seiner zweiten Buchpublikation, dem ersten Band Du côté de chez Swann der Recherche au temps perdu[12], hatte zu dem Eindruck geführt, dass der wohlhabende Proust sich eine etwas verlängerte Auszeit gegönnt habe (dafür musste man freilich seine anspruchsvollen Ruskin-Übersetzungen[13] außer Acht lassen, aber der Übersetzer galt ja schon damals nicht viel in seinem Lande). Der Einschätzung vom faulenzenden Proust leistete der Autor übrigens selbst noch Vorschub, wenn er in seinem Roman Mutter und Großmutter einträchtig über die Untätigkeit des Erzählers wehklagen lässt (jedoch warnen die Literaturwissenschaftler aus gutem Grund vor einer autobiographischen Lesart der Recherche, aber wer könnte sich ihrer schon erwehren?) und sogar in der unveröffentlichten Skizze Crépuscule[14] den anbrechenden Tag dem Autor Vorwürfe machen lässt, dass er ihn nicht zu nutzen verstehe – wogegen sich Proust später im Auftakt zu dem Artikel Sur la lecture verwahrt, wenn er erklärt: „Es gab vielleicht in unserer Kindheit keine Tage, die wir so gründlich ausgelebt hätten wie jene, die wir verstreichen zu lassen glaubten, ohne sie zu leben, jene nämlich, die wir mit einem bevorzugten Buch verbracht haben.“[15] De Fallois’ Publikation des Jean Santeuil und des Contre Sainte-Beuve räumte jedenfalls mit der Mär vom faulenzenden Marcel gründlich auf. Diese Texte zeigen vielmehr, dass Proust schon früh auf der Suche nach einem Konzept war, das sich in vagen Umrissen bereits in den Plaisirs andeutete, in Jean Santeuil und in Contre Sainte-Beuve in den verschiedensten Richtungen ausgelotet wurde und dann um 1908/10 beim Beginn der Arbeit an der Recherche endgültig Gestalt annahm. Eben deshalb konnte Proust dann auch bei der Arbeit an der Recherche immer wieder auf schon erarbeitete Konzepte oder gar ganze Partien früherer Texte zurückgreifen. Bernard de Fallois sieht in seinem Essay Proust avant Proust auch Les Plaisirs et les Jours als einen Voraustext an, der – im Rückblick jedenfalls – bereits die Recherche erahnen lasse: „Indem Proust uns darin nacheinander jede für sich und unvermengt die Zutaten vorführt, die er in die Komposition seines Werkes eingehen lassen wird, erlaubt uns Les Plaisirs et les Jours, ihre Bedeutung besser zu erfassen. Sie existieren hier in Reinkultur“[16] – allerdings, wie de Fallois auch hervorhebt, in Kontrafaktur: Er zeigt auf, welche Gestalten der Plaisirs welchen Gestalten der Recherche entsprechen und kommt zu dem Fazit: „Die Plaisirs sind optimistischer [als die Recherche], sie setzen in den Menschen eine Grundierung von Güte voraus, ein Feingefühl, das mit dem Alter oder der Berührung mit dem ,Bösen‘ verschwinden mag, das aber Wirklichkeit ist. […] Alles, was Rachel, Odette, Morel an Niedertracht und Bösartigkeit in der Recherche repräsentieren, ist [in den Plaisirs] noch abwesend.“ (S. 77f.). Insbesondere, muss man hinzufügen, ist auch ein Gegenstück zum Baron de Charlus in den Plaisirs abwesend, wird aber ebenfalls bereits in Umrissen in dem Baron de Quélus von Aux enfers (siehe unten) kenntlich.

Man kann sich darüber streiten, wer die Hauptperson der Recherche ist, der Erzähler oder der Baron de Charlus, aber niemand wird dem Baron den zweiten Platz streitig machen wollen. Und schon die erste Begegnung mit ihm in Bd. II, Im Schatten junger Mädchenblüte, stellt für jeden (außer den Erzähler) unmissverständlich klar, dass der Baron im Schatten junger Männerblüte wandelt. Die ausführliche „dissertation“[17] zum Thema dann, die in der Mitte der Recherche, an der Fuge zwischen den Bänden III und IV eingeschaltet ist[18] und eine Brücke zwischen der Welt der Guermantes und der Ebene von Sodom und Gomorrha bietet, räumt den letzten Zweifel daran aus, dass auch das Thema der Homosexualität zentral für den Autor und essentiell für den Roman ist. Im Licht von de Fallois’ Auffassung der Plaisirs et Jours als einem Embryo der Recherche stellt sich damit die Frage, wieso diese „Zutat“ den Plaisirs so fast völlig fehlt und nur durch die lesbisch geprägte und mithin gesellschaftlich akzeptablere Confession d’une jeune fille[19] repräsentiert ist. Hier liefert nun also die neu erschienene Sammlung von Inédits das fehlende Glied und verleiht der Analyse der Plaisirs durch de Fallois erst die rechte Überzeugungskraft. In diesem Zusammenhang müssen insbesondere die nun wiedergefundenen Texte Souvenir d’un capitaine[20] sowie sein lesbisches Gegenstück Le Mysterieux correspondant[21] hervorgehoben werden.

II. Proust inédit

In der Skizze Souvenir d’un capitaine kehrt der Erzähler, ein Hauptmann, für einen Tag in das Garnisonsstädtchen zurück, in dem er als Leutnant ein Jahr lang stationiert gewesen war und wo er sich nun bemüht, die Orte seiner damaligen Unbeschwertheit wiederzufinden. Vor seiner Wiederabreise bittet er seinen einstmaligen Burschen darum, ihm die Bücher nachzuschicken, die er damals in dessen Obhut zurückgelassen hatte. Während sich die beiden Männer am Tor unterhalten, fällt der Blick des Hauptmanns auf einen Unteroffizier der Wache, der gerade seine Zeitung liest, „etwas wunderbar Feines und Sanftes um Mund und Augen“ hat und „auf mich einen ganz rätselhaften Reiz ausübte“. Schließlich erhebt dieser seine „exquisit ruhigen Augen“ zu dem Hauptmann: „Leidenschaftlich begierig (warum?), dass er mich ansehen möge, nahm ich mein Monokel und tat so, als würde ich überall herumschauen, nur nicht in seine Richtung.“ Es kommt dann aber doch zum ,gelungenen Moment‘ des Blickaustauschs, und als der Hauptmann den Salut des Unteroffiziers erwidert, „sagte ich ihm mit meinen Blicken und meinem Lächeln wie einem nunmehr schon alten Freund unendlich zärtliche Dinge.“ In dem Hauptmann klingt der ,effroi de l’amour‘ noch tagelang nach, doch schließlich erinnert er sich dieser Begegnung nur noch wegen „des Mysteriösen und Unvollendeten“, das sie bestimmte.

In Le Mystérieux correspondant erhält Françoise de Lucques sehnsüchtige Liebesbriefe von einem „rätselhaften Briefeschreiber“, behält das aber für sich. Eines Tages kündigt dieser Korrespondent seinen Besuch für den nächsten Abend an. Françoise bittet ihre Freundin Christiane Tavens, die schon seit langem an einer rätselhaften Krankheit leidet, den Abend bei ihr zu verbringen, und die beiden Frauen schließen sich im Speisezimmer ein. Doch der Besucher bleibt aus. Stattdessen entdeckt Françoise einen neuerlichen Brief auf dem Speisetisch, in dem sie um ein privates Gespräch gebeten wird, auf den sie mit der Aufforderung antwortet, ihr fern zu bleiben. Tage später wird Françoise an das Krankenbett ihrer Freundin gerufen und entdeckt dort in einem Medizinschrank ebendiesen Antwortbrief. Ihr Priester, den sie um Rat fragt, ob sie ihrer Freundin zu Gefallen sein solle, weil das die einzige Medizin zu ihrer Rettung sei, erklärt ihr, wie nobel es vielmehr sei, über seine eigenen Leidenschaften siegend zu sterben. – In Avant la nuit, das ebenfalls nicht in Freuden und Tage aufgenommen wurde, jedoch schon im Dezember 1893 in der Revue blache publiziert worden war, ist die homoerotische Komponente ähnlich geschickt versteckt: Françoise (eine andere Françoise), die, seit zwanzig Jahren Witwe und von einer Kugel getroffen, im Sterben liegt, weil sie ihrer lesbischen Neigungen wegen versucht hat, sich umzubringen, macht ihrem Freund Leslie dieses Geständnis, indem sie Leslie daran erinnert, wie er Françoise’ Freundin Dorothy unter Hinweis auf Sokrates’ Plazet („es handelte sich um Männer, aber ist das nicht das Gleiche?“) verteidigt habe, als diese mit einer Opernsängerin ertappt wurde. Auch hier geht es also um die Lüftung eines Geheimnisses („sie sagte zu mir mysteriöserweise[22], […] ,Sie sind sehr großmütig‘“), um das schwierige Geständnis homoerotischer Neigungen, die letztlich zum Tode führen, doch anders als im Mystérieux Correspondant wird in Avant la Nuit nicht verdeutlicht, wie weit ihr Charakter platonischer Natur ist.

Diese drei äußerst konventionellen Texte um das  ,Mysterium‘ gleichgeschlechtlicher Liebe mögen durchaus vom Autor als zu riskant empfunden worden sein; ich halte es allerdings auch für denkbar, dass Proust selbst schließlich die Dürftigkeit seines Plädoyers für bzw. wider den dunklen Engel – vorväterliche Heiterkeit vs. paternalistische Strenge – in diesen beiden Texten aufgefallen ist. Wie Bernard de Fallois hervorhebt[23], spiegeln die drei erwähnten Texte ziemlich getreu das Stadium der libidinösen Entwicklung wieder, in dem sich der damals 20- bis 22-jährige Autor befunden haben dürfte, der zwar nicht mehr im platonischen Alter ist – „Vielleicht hast Du ja recht. Und doch finde ich es immer traurig, die köstliche Blüte nicht zu pflücken, die wir schon bald nicht mehr werden pflücken können. Denn dann wird es bereits die … verbotene … Frucht sein. Du aber siehst sie ja jetzt schon als … vergiftet … an“[24], schrieb der siebzehnjährige Proust an seinen Klassenkameraden Jacques Bizet –, kam dann aber vermutlich bald darauf mit Reynaldo Hahn erstmals in ihren Genuss und servierte schließlich als etwa 40-Jähriger in der Recherche eine üppig gefüllte Compotière vergifteter Früchte, unter denen die – übrigens erfolgreiche – Beziehung zwischen Vinteuils Tochter und deren Freundin schon im ersten Band in aller Körperlichkeit genossen und die männliche – übrigens stets scheiternde – Homosexualität im Wesentlichen auf dem Strich und in Bordells verkostet wird.

Eine souveränere Position findet Proust in Aux Enfers[25], „In der Hölle“, wo Samson die Bekanntschaft des Baron de Quélus macht, „Quélus“ eine alternative, aber seltene Schreibung des Namens „Caylus“ des Lustknaben Heinrichs III., und ihm das misogyne Sprüchlein aufsagt, das Vigny ihm zuschreibt und das Proust als Motto dem Band Sodom und Gomorrha voranstellte: „Des Weibes wird Gomorrha und Sodom des Mannes sein; und sie werden einander von weitem gereizte Blicke zuwerfen, und die beiden Geschlechter werden sterben jedes auf seiner Seite“. Caylus mag sich aber nicht auf Samsons Position einlassen, die ja von Rachegefühlen gegen Dalilah und damit auch wieder nur von der Frau bestimmt ist, er aber habe niemals schlechte Erfahrungen mit Frauen gemacht, und singt im Gegenteil ihr Lob: „Ihre Anmut, ihre Schwäche, ihre Schönheit, ihre Geist haben mich oft berauscht und mit einer Freude erfüllt, die, obwohl sie sich nicht der Sinnlichkeit verdankte, deswegen nicht weniger intensiv und zudem nachhaltiger und reiner war. […] Die Frauen waren für mich zugleich Madonnen und Ammen.“ (S. 95) Ernest Renan, der 1892 verstorbene Altorientalist, Religionsphilosoph und paradigmatische Sorbonnard, dem der Akademiker Brichot der Suche viel zu verdanken hat, gesellt sich hinzu und vertritt die These, dass die Alten, allen voran Sokrates, wohl recht gehabt haben mögen, wenn sie erotische Spiele zwischen Freunden gut hießen, dass sich seitdem jedoch die Frauen weiterentwickelt hätten und es deshalb keinen guten Grund mehr gebe, sie links liegen zu lassen. Jedoch: „Die Frau, ein reichhaltiges Sinnbild für Trost und Begeisterung, hat tatsächlich aus der Liebe eine sublime Krankheit gemacht, die sie nur verharmlosen können, indem Sie diesen Primfaktor herauskürzen, mein lieber Quélus. Der Geschlechtsunterschied ist hier von entscheidender Bedeutung. Wem, wenn nicht der Frau, sollten wir die Stärkung zuschreiben, die wir aus unserer Liebe zu einem Wesen erfahren, das so verschieden von uns ist, eine Stärkung, die vergleichbar zu jenen friedvollen Tagen ist, die ein Städter bei einem Urlaub auf dem Land genießt.“ Renan beendet seinen Monolog schließlich mit den Worten: „Was sollte uns daran hindern, jene zu küssen, die wir in dem Augenblick bewundern. Und dem Verb küssen würde ich noch andere hinzufügen wollen, die womöglich schockieren würden in den Ausführungen eines Philosophen, die ohnehin schon ausführlich genug geraten sind.“ (S. 98f).

Von spezifischem Interesse ist in diesem Kontext der Evaluation der Liebe als einer Krankheit ein kleiner Text über Le Don des Fées[26], „Das Geschenk der Feen“, das in den Freuden und vor allem den Leiden der Liebe besteht, wie der Erzähler sie zu der Gilberte der Champs-Élysées am eigenen Leibe erfährt – und das sich als Danaergeschenk entpuppt: „Wenn gute Gesundheit ihre Schönheit hat, die die Gesunden gar nicht bemerken, so hat die Krankheit ihre Anmut, die du zutiefst auskosten wirst.“ Der kurze Text war ursprünglich auf einen Jungen bezogen und wurde erst nachträglich ins Weibliche transponiert[27]: „In einem Alter, in dem andere Jungen lachen und spielen, wirst du an Regentagen weinen, weil man dich nicht in die Champs-Élysées ausführt, wo du mit einem kleinen Jungen spielen willst, den du lieben und der dich besiegen wird, und an Sonnentagen, an denen ihr euch sehen werdet, wirst du traurig darüber sein, dass du ihn weniger schön findest als zu den Morgenstunden, da du allein in deinem Zimmer darauf wartetest, ihn wiederzusehen. Niemand wird dich jemals trösten und niemand dich jemals lieben können.“ Diese Szene, die aus der Recherche vertraut ist[28], gibt dem Verdacht, hinter Gilberte stehe Jacques Bizet, neue Nahrung, besonders wenn man bedenkt, dass Jacques ab 1886 ,gleich um die Ecke‘ von Marcel wohnte, nämlich am Boulevard Hausmann Nr. 134, während die Prousts am Boulevard Malesherbes Nr. 9 wohnten, beide Adressen in fußläufiger Nähe zu den Champs-Élysées. Auch die andere große Liebe des Erzählers, Albertine, wird ja vielfach für einen kaum verhüllten Alfred Agostinelli gehalten – das Feengeschenk liefert nun eine Art Schlussstein zu dieser Spekulation.

In Pauline de S.[29] erfährt der Erzähler, dass seine alte Freundin Pauline de S. bald an Krebs sterben werde. An dem Tag vor seinem Besuch bei ihr kommt er nicht umhin sich vorzustellen, wie freudlos, dumm und schrecklich bedeutungslos ihr die üblichen Zerstreuungen nunmehr erscheinen müssen. Doch ganz im Gegenteil wirft sie ihn raus, weil sie Gäste erwartet, und bittet ihn, Theaterkarten für eine der nächsten Matineen zu besorgen, „aber nicht Ihre langweiligen Hamlets oder Antigones, etwas Lustiges, vielleicht etwas von Labiche oder sonst eine Operette.“ (S. 37)

In Jacques Lefelde (L’Étranger)[30] fällt dem Erzähler auf, dass sein Bekannter Jacques ihn abschüttelt, um allein im Bois promenieren zu können. Zur Rede gestellt, erklärt er, dass er sich in den Bois verliebt habe und nichts sehnlicher wünsche, als mit ihm allein zu sein. Der ganze Text erinnert ein wenig an die Waldspaziergänge des Erzählers im Abschnitt „Ländliche Namen: Der Name“ der Suche (3. Teil des ersten Bandes).

Après la 8e Symphonie de Beethoven[31] ist eine in überschwängliche Metaphern gekleidete Apotheose der Musik, die sich endlich als die in Klang gekleidete Seele zu erkennen gibt, oder vielmehr als Seelenwanderung vermittels der Klänge.

In La conscience de l’aimer[32] ist der unglücklich verliebte Erzähler zwischen den inneren Monologen „ich werde sie immer …“ und „sie wird mich nimmer …“ gefangen, bis sich ihm eine mysteriöse Katze zugesellt, die seinen Gedanken einen neuen Fokus liefert.

In „C’est ainsi qu’il avait aimé“[33] schließlich argumentiert der Autor sehr überzeugend, dass die Unbeständigkeit des Liebenden gottgewollt sei, weil es sonst nicht auszuhalten wäre.

III. Auf der Suche nach den verlorenen Texten Prousts

Die 174 Seiten der „Inédits“ enthalten eine 22-seitige Einführung von Luc Fraisse, 8 Seiten Faksimiles von Handschriften Prousts, einen 34-seitigen Anhang mit 13 Kurzessays von Luc Fraisse sowie 23 Seiten mit 1- bis 5-seitigen Erläuterungen zu neun Texten Prousts durch Luc Fraisse. Die 57 Seiten mit den Texten Prousts nehmen sich in diesem Mare Fraissium ziemlich verloren aus, zumal ihr Archipel von großzügigen Leerräumen durchschnitten und strikt editorischen Fußnoten Fraisses („eûtes2 2Var.: avez“) weiter atomisiert ist. Die 57.000 Anschläge, die man tatsächlich Proust zuschreiben kann, hätten, legt man einmal den Seitenspiegel etwa der Reclam-Ausgabe der Suche nach der verlorenen Zeit zugrunde, auf 28 Seiten Platz.

Dieser Aufsatz enthält 25.228 Anschläge.

Tant de bruit pour une omelette.

Anmerkungen

[1] Paris: Les Belles Lettres, 2019.

[2] Les Plaisirs et les jours; Paris: Calmann-Lévy, 1896; Neuauflage Paris: Gallimard, 1928. Durchgesehene Neuauflage Paris: Gallimard (La Pléiade), 1971. Dt. Tage der Freuden, übers. von Ernst Weiß; Berlin: Ullstein, 1967. Neuübersetzung von Luzius Keller unter dem Titel Freuden und Tage; Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988.

[3] Siehe Reiner Speck (Hrsg.): Marcel Prousts Fragebogen; Köln: Marcel Proust Gesellschaft, 2019.

[4] Dt. Auf den Spuren von Marcel Proust; übers. von Ruth Uecker-Lutz, Hamburg: Claassen, 1956. Neu herausgegeben Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971.

[5] Heute im Besitz der Bibliothèque nationale de France.

[6] Paris: Gallimard, 1952. Durchgesehene Neuauflage Paris: Gallimard (La Pléiade), 1971. Dt. Jean Santeuil, übers. von Eva Rechel-Mertens; Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1965 [2 Bände]. Neu herausgegeben von Mariolina Bongiovanni Bertini; Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1992 [2 Bände].

[7] Paris: Gallimard 1954. Neu hrsg. von Pierre Clarac und Yves Sandre unter dem Titel Contre Sainte-Beuve. Précédé de Pastiches et mélanges et suivi de Essais et articles bei Gallimard (La Pléiade), 1971. Dt. unter den Titeln Gegen Sainte-Beuve, Nachgeahmtes und Vermischtes bzw. Essays herausgegeben von Luzius Keller; Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, 1989 bzw. 1992.

[8] „Gegen die Methode Sainte-Beuves“. Sainte Beuve pflegte seine Literaturkritiken stark auf eine Evaluation der Person des Autors zu stützen, während Proust der Auffassung war, dass das Werk im Vordergrund stehen müsse.

[9] Jedoch mit Quellenangabe insofern, als an der Stelle, auf die er verweist, S. 8 der Pléiade-Ausgabe, der fragliche Satz tatsächlich nicht steht.

[10] S. Proust avant Proust, S. 182. Das Château de Reveillon ist jenes Schloss an der Marne, auf das Madeleine Lemaire 1894 Proust und Reynaldo Hahn für einige Wochen eingeladen hatte. Der bewunderte Freund von Jean Santeuil in dem gleichnamigen Roman trägt den Namen Henri de Reveillon.

[11] Avant la nuit in La Revue Blanche XXVI, Dezember 1893; L’Indifférent in La Vie contemporaine IX, März 1896. Das Vorwort von Anatol France zu den Plaisirs ist auf den 21. April 1896 datiert. – Avant la nuit wurde in den Anhang zu Les Plaisirs et les Jours der Pléiade-Ausgabe aufgenommen. L’Indifférent war gänzlich in Vergessenheit geraten und wurde erst 1978 von Philip Kolb wiederentdeckt und bei Gallimard erneut publiziert. Dt. beide in Freuden und Tage.

[12] Dt. Auf dem Weg zu Swann, Bd. I von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, übers. von Bernd-Jürgen Fischer; Ditzingen: Reclam, 2013–2016.

[13] John Ruskin: The Bible of Amiens; Sunnyside: George Allen, 1884. Frz. La Bible d‘Amiens; Paris: Mercure de France, 1904. – John Ruskin: Sesame and Lilies – of kings’ treasuries and of queens’ gardens; New York: John Wiley and Son, 1865. Frz. Sésame et les lys – des trésors des rois, des jardins des reines; Paris: Mercure de France, 1906.

[14] „Dämmerung“; zitiert in: Proust avant Proust, S. 126f.

[15] Sur la lecture, in: La Renaissance Latine, 15. Juni 1905; 1906 als Vorwort zu Sésame et les lys erschienen. 1919 unter dem Titel Journées de lecture in Pastiches et mélanges aufgenommen; siehe Clarac/Sandre (Hrsg.): Contre Sainte-Beuve, 1971, S. 160–194. Dt. unter dem Titel Tage des Lesens in Nachgeahmtes und Vermischtes, 1989, S. 220–269.

[16] Proust avant Proust, S. 113.

[17] Ein Vorläufer dieser „dissertation“ (wie frz. Autoren Sodom I gern nennen), La Race des tantes, stammt erst von 1909 und ist damit schon der Recherche zuzurechnen. Sie wurde in Contre Sainte-Beuve mit aufgenommen wurde und demonstriert einmal mehr Prousts akkumulative Schreibtechnik,  unter der seine Skizzen zu den verschiedenen Themen und Eindrücken nicht etwa lose Blätter sind, sondern angefertigt wurden, um sie später, evtl. in modifizierter Form, in den Rahmen der Recherche hineinzucollagieren – wobei Proust gelegentlich vergaß, die Namen dem neuesten Stand anzupassen.

[18] In der Erstausgabe ist dieser Text, der thematisch zum IV. Band gehört, im Anschluss an Der Weg nach Guermantes dem III. Band beigebunden.

[19] Dt. Das Bekenntnis eines jungen Mädchens, in: Plaisirs, S. 117–132. – Hinsichtlich der Repräsentation männlicher Homosexualität könnte man  allenfalls das homoerotisch angehauchte Absätzchen Amitié (dt. Freundschaft, a. a. O. S. 164) anführen.

[20] „Erinnerung eines Hauptmanns“; in: Inédits, S. 71-76.

[21] „Der rätselhafte Briefeschreiber“; in: Inédits, S. 47-64.

[22]  „mysterieusement“.

[23] Proust avant Proust, S. 106.

[24] Zit. nach M. Proust: Les Poèmes – Die Gedichte; Ditzingen: Reclam, 2018. S. 20.

[25] „In der Hölle“, in: Inédits, S. 93-99.

[26] In: Inédits, S. 123-129.

[27] Siehe die Anmerkung 111 zu S. 130 von Luc Fraisse in Proust avant Proust, S. 161, die einen Hinweis von de Fallois wiedergibt.

[28] Siehe Bd. I, S. 542, der Reclam-Ausgabe.

[29] In: Inédits, S. 35-38.

[30] „Jacques Lefelde (Der Fremde)“, in: Inédits, S. 81-85.

[31] „Nach der achten Symphonie von Beethoven“; in: Inédits, S. 105-108.

[32] „Zu wissen, dass man sie liebt“, in: Inédits, S. 113-116.

[33] „‘So sehr hatte er geliebt‘“, in: Inédits, S. 135f.

Titelbild

Marcel Proust: Le Mystérieux Correspondant et autres nouvelles inédites. Suivi de “Aux sources de la Recherche du temps perdu”.
Textes transcrits, annotés et présentés par Luc Fraisse.
Editions de Fallois, Paris 2019.
184 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-13: 9791032102299

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