Die Grenze
Ein Gedicht von Christa Kaulfersch – zwei Jahrzehnte vor dem Fall der Mauer geschrieben
Von Redaktion literaturkritik.de
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseChrista Kaulfersch
Die Grenze
Wann werden Mauern fallen,
die sich verbissen krallen
in aufgewühlten Sand?
Wann wird das Gitter brechen,
wo seine Nadeln stechen
ins Herz von Volk und Land?
Wann wird das Eisen sinken –
von seinen scharfen Zinken
zur Erde sickert Blut
aus ungestillten Wunden.
Zerschlagen und zerschunden
sind Leben, Hoffnung, Mut.
Wann wird der Türme Drohen
vergehn in Feuerlohen
auf schweigend öder Flut?
Wann wird die Hand man reichen,
wo jetzt noch Hunde schleichen,
die wittern jede Spur?
Wird je der Tag erscheinen,
da sich in Frieden einen,
die heute sind entzweit?
Wann wird die Sehnsucht enden,
sich unser Schicksal wenden
in einer neuen Zeit?
Wann werden Mauern fallen –
Europas Völkern allen
ist ihr Gesicht bekannt.
Nur, wenn am Todesstreifen
die Deutschen neu begreifen,
wo ihre Wiege stand.
26. April 1969
Hinweis der Redaktion: Bei der Lektüre des 2018 erschienenen Bandes „Im Namen des Herbstes“, in dem Christa Kaulfersch ihre zwischen 1968 und 1983 verfassten Gedichte zusammengestellt hat, fanden wir das vor einem halben Jahrhundert geschriebene Gedicht „Die Grenze“ – ein eindrucksvolles Zeugnis zur Erinnerung an die lange Zeit vor dem Fall der Mauer am 9. November 1989. Wir danken der Autorin für die Genehmigung zur Veröffentlichung in literaturkritik.de.
|
||