Bekenntnisse eines Geistesmenschen

Thure Erik Lund brilliert in „Das Grabenereignismysterium“ mit einer sprudelnden Lust an der Sprache

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er sei „der größte Prosaautor seiner Generation“, hat Karl Ove Knausgård über seinen „wilden“ Kollegen Thure Erik Lund geschrieben. Seine Romane würden irgendwo beginnen und völlig anderswo enden. Knausgårds Wort zählt, das beweist die erste Übersetzung eines Buches von Lund auf Deutsch. Es heißt Das Grabenereignismysterium und signalisiert bereits im Titel, dass es sich dabei um eine bemerkenswerte, schräge Literatur handelt. Der Ich-Erzähler Tomas Olsen Myrbråten ist ein räsonierender Exzentriker, der seinen spleenigen Gedankenkonstrukten auch handwerklich Nachdruck verleiht. Auf dem entlegenen Bauernhof seiner Eltern durchzieht er das moorige Terrain mit lauter Gräben, deren Sinn und Zweck sich dem Normalsterblichen verschließen. Einzig eine Reminiszenz an die Jugendtage bringt womöglich etwas Licht ins mysteriöse Dunkel.

Doch von vorn: Der 38-jährige Tomas Olsen Myrbråten sitzt am Anfang des Buches gebrochen in seiner Wohnung: „Jeden Tag muss ich ein paar endlose Stunden am Küchentisch zubringen, um zu weinen. Eben nichts weiter als diese höchst traurige Sache: mit dem Oberkörper quer über den Tisch zu liegen und über das Elend der Welt zu weinen. Ja so traurig ist es geworden, dass ich jeden Tag über die Verdorbenheit der Welt weinen muss.“

Doch was lässt diesen Menschen derart verzweifeln? Eine einfache Antwort gibt uns der Protagonist nicht, doch allmählich schält sich aus seinem überquellenden Monolog heraus, dass er einen Auftrag vergeigt hat, nicht aus böser Absicht, sondern weil ihm die Umstände nichts anderes erlaubt hätten. Im Auftrag des Kulturministeriums sollte er einen Bericht über die Kulturdenkmäler Norwegens schreiben. Bei seinen Nachforschungen wird ihm allerdings klar, dass das Prädikat Kulturdenkmal „eine effektive Methode ist, jeden Ort mit besonderen Eigenschaften auszuradieren und in einen genuinen Nicht-Ort zu verwandeln“. In dem Sinn bezwecke der Auftrag des Ministeriums bloß, dass er die bewahrenswerten Orte „der globalen, allesfressenden, elektrisch genusskranken Jugendkultur“ zuführe, damit sie zur touristischen Geldmaschine würden. Kurzum: Der Erzähler wird zum „Querulanten“ abgestempelt, worauf er in die Krise stürzt. Das erste Kapitel ist mit „Der Geistesmensch“ überschrieben. An diesem Wort hält sich der Erzähler in seiner „heroischen Einsamkeit“ fest. Wo die „avancierte Lüge tatsächlich unsere einzige reelle Wahrheit ist“, erkennt er darin seine einzige Rettung. Geistesmenschen richten „den Blick immerzu aufs Höchste“, dafür platzieren sie sich „an unterster Stelle der Rangleiter, in der Kloake der Gesellschaft, am Grund der Natur“.

Die ebenso ver- wie bestrickende Herleitung dieses Wesens wabert von da an durch Thure Erik Lunds Roman. Sprachlich erinnert dieser an die exuberante Prosa des Österreichers Thomas Bernhard und mehr noch an die des Schweizers Hermann Burger, beides Bewohner eines kleinen Alpenlandes mit seinen klaustrophobischen Erschütterungen. Norwegen bietet demgegenüber zwar mehr Weite, seinen Furor richtet der Erzähler aber vor allem gegen die kulturelle Enge, gegen die urbane Zivilisation, die globale Geldwirtschaft. Bevor er allerdings endgültig in den Kneipen der Stadt untergeht, flüchtet er mit einer heruntergekommenen Zufallsbekanntschaft aufs Land: auf den elterlichen Hof, um Gräben auszuheben, Helene zu lieben und schließlich seinen behinderten Bruder jenseits der Grenze zu Schweden zu entsorgen.

Thure Erik Lund ändert bei diesem Übergang mit einem Schlag die Sprache. Der existentialistische Furor macht einer sprachlichen Anschaulichkeit Platz, die erst nach und nach wieder ins Trudeln gerät. Beim sinnlosen Graben seiner Gräben erinnert sich Tomas Olsen Myrbråten an seine Jugendtage, als er besoffene Bunseln, also „dicke watschelnde Frauen“, in die Gräben der Umgebung stieß und an ihnen seine Lust befriedigte.

Dieses Wort „Bunsel“ ist typisch für den zweiten Teil des Romans. Der Übersetzer Matthias Friedrich, der offenkundig seine lustvolle Mühe mit dem Buch hatte, beschreibt im Anhang, wie Lund sprachlich aus dem Formenschatz von teils verschwundenen Mundarten schöpft und so einen Stil erschafft, der sich einer Übersetzung widersetzt. Für die deutsche Version hat Friedrich eine ebenso tiefenscharfe wie subtile Lösung gefunden, indem er Lunds Wildheit mit kreativer Energie und mit Hilfe eines Eifeler Dialekts ins Deutsche überträgt. Die norwegische Charakteristik bleibt bewahrt in Worten wie „Bunseln“, die in einem Glossar erklärt werden.

Auf dem Land legt sich der geistesmenschliche Spleen des Erzählers. Doch seine spärlichen Nachbarn halten weitere Mysterien bereit. In einer Gegend namens Grausprengbrase lebt eine seltsame kleine Gemeinschaft von Menschen, die sich von ihrer Umwelt völlig abkapseln. Unter den wenigen, die mit ihnen Kontakt haben, ist Walter, der Kauz, der skurrile Heilmittel herstellt und die Theorie von Urmenschen verficht, die auf allen Vieren gegangen seien, „so dass sich ihr Arschloch dort befand, wo unser Kopf platziert ist, mit der Folge, dass ihnen jedes Mal, wenn sie schissen, die Kacke den Rücken hinabrann …“. Aus solchen Ideen entsteht eine schwarze Komik, die Das Grabenereignismysterium ebenfalls auszeichnet.

Unter dem Druck der Nachfragen nach seinem „verschwundenen“ Bruder verliert der Erzähler schließlich die Nerven – wie er nur zurückhaltend eingesteht. Er sucht deshalb das Weite und wird zum vermoorten, verdreckten „Waldläufer“, der in einer unio mystica mit der Natur eins wird. Wir müssen, hält er in diesem dritten Kapitel fest, „den Wald durch eine Synthese aller fünf Sinne lesen“, mit Wirkung auf die Sprache, die im Rauschen der Äste aufgeht. Es „war die Weltsubstanz, die mich dafür benutzte, ihre eigenen Undenkbarkeiten zu denken“. In dieser Medialität gehen die Initialen des Erzählers auf: T.O.M. steht auch für „tom“, also „leer“.

Vordergründig klingt vieles an Thure Erik Lunds Prosa nach einer reaktionären Ablehnung der Zivilisation und Verherrlichung des unverfälschten Landlebens. Dieses präsentiert sich indes nicht wie das Ideal Rousseaus, es wird vielmehr laufend in Frage gestellt. Das Grabenereignismysterium ist ein hochgradig sarkastisches Buch. Sei es im idealistisch geistesmenschlichen Monolog, sei es im rauschenden Schweigen der Wälder: Thure Erik Lund überdreht mit sprudelnder Lust das bohrende Monologisieren ums existentielle Epizentrum. Die Handlung resultiert ganz aus dem Furor der Sprache, mit der Lund die Konventionen des Erzählens überschreitet. Seine Bücher, hieß es in der Begründung zum Aschehoug-Literaturpreis 2009, „zeichnen sich durch unorthodoxes kritisches Denken, durch sprachliche Innovation und einen unverwechselbaren Elan aus“. Und in einem Interview bekräftigte der Autor, dass er versuche, sprachlich „eine autonome, unabhängige Welt zu schaffen“.

Wie es dem Waldläufer den Winter über ergeht, bleibt hier offen. Doch Thure Erik Lund lässt seinen Helden Tomas Olsen Myrbråten nicht im Stich. Das Grabenereignismysterium erschien erstmals 1999, in den nachfolgenden Jahren legte Lund drei weitere Romane vor, die sich nach und nach zur Tetralogie der Myrbråten-Erzählungen (Myrbråtenfortellingene) formten.

Titelbild

Thure Erik Lund: Das Grabenereignismysterium. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Matthias Friedrich.
Literaturverlag Droschl, Graz 2019.
294 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590355

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