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Julia Zernack und Katja Schulz legen ein Lexikon zur Rezeption nordischer Mythologie und Heldensage vor

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich heute mit nordischer Mythologie und Heldensage auseinandersetzt, findet sich auf einem schwerlich überschaubaren Feld der Meinungen wieder, manche dem wissenschaftlichen Milieu entstammend, andere Ausdruck einer wie auch immer gearteten Pseudowissenschaft. Die vielschichtige Problematik muss in Fachkreisen nicht grundsätzlich dargelegt werden, steht der Allgemeinheit hingegen sicherlich nicht vor Augen. Und freilich tummeln sich auch in diesen Fachkreisen moderne Mythen. Hier ist noch viel Forschung und Aufklärung zu leisten – und es wird Zeit!

Bereits diese Andeutungen führen vor Augen, welcher Aufgabe sich der jüngste Band der Edda-Rezeption-Reihe stellt: dem Nachvollzug von Rezeptionstraditionen seit dem Mittelalter bis ins frühe 21. Jahrhundert, gruppiert um das Schlagwort Edda, das zwei altnordische gelehrt-mythologische Werke des 13. Jahrhunderts bezeichnet. Ein willkommener und wichtiger Versuch, der von vorneherein Respekt verlangt, auch wenn er eben das bleibt: ein Versuch. Jedes Nachschlage- oder Einführungswerk reizt naturgemäß rasch zum Widerspruch in Struktur und Inhalt; Herausgeber müssen Entscheidungen treffen, denen man im Nachhinein immer leicht vorwerfen kann, nicht zweckdienlich, vollständig oder korrekt zu sein. Ein einzelner Rezensent allerdings kann auch selten alle behandelten Themen in der Weise überblicken, dass er sich überall ein kritisches Urteil erlauben sollte. Es wäre insofern müßig, die Inhalte des Bandes hier eingehender kritisieren zu wollen, das ist Aufgabe künftiger Detailauseinandersetzungen. Einige Bemerkungen mögen Diskussionspunkte vorgeben.

Disparat wirkt zunächst das Verzeichnis der Lexikonartikel: Hier finden sich ausgewählte Gestalten der nordischen Mythologie und Heldensage (viele aber nicht), es finden sich Namen von Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts (viele aber wiederum nicht), daneben einige thematische Stichpunkte. Manches dürfte für den Laien nicht selbsterklärend sein, anderes erscheint überhaupt vage, etwa Einträge wie „Island“, „Literatur“ oder „Namen und Benennungen“. Wie die Herausgeberinnen Julia Zernack und Katja Schulz festhalten, waren sie bestrebt, den zwei Dutzend Beitragenden viel Freiheit zu geben, was faktisch zu Aufsätzen zwischen drei und 40 Seiten, mal auf Deutsch, mal auf Englisch geführt hat. Einige Beiträger sind international bekannt, andere (mir persönlich) unbekannt; einige steuern über ein Dutzend Einträge bei, andere einen einzigen. Leider wurde darauf verzichtet, die Mitwirkenden näher vorzustellen.

Eine kritische Diskussion ließe sich dann beim Buchtitel beginnen: Gylfis Täuschung, eine Übersetzung des mittelalterlich belegten Ausdrucks Gylfaginning. Unklar muss bleiben, was das seltene altisländische Wort ginning eigentlich bedeutet, und grammatikalisch ist auch nicht eindeutig, wer wen täuscht (wenn man von Täuschung sprechen möchte). In den stark vereinfachenden Argumentationszusammenhang der Einleitung fügt sich die Idee der erzählerischen Illusion, die immer wieder zur neuen Ausdeutung drängt. Etwas unverständlich ist dann, weshalb darauf verzichtet wurde, auf die für das Mittelalter typische Überlieferungslage einzugehen: die Tatsache, dass kaum von einer festen Werkgestalt, vielmehr von Textversionen in oft diversen Handschriften gesprochen werden sollte. Mit dieser faktischen Überlieferung ließe sich zwar manche plakative Aussage (etwa zur Edda als angeblichem Handbuch für Dichter) kaum säuberlich in Einklang bringen. Doch hätten ein paar Worte zu dieser Überlieferungslage das Argument des Weiter-, Um- und Neuerzählens gestützt, insbesondere für eine Leserschaft jenseits der Mittelalterstudien. Für den Neuling unergiebig bleiben auch die vagen einleitenden Verweise auf unter anderem Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos oder Hans Robert Jaußʼ Rezeptionsästhetik, zumal Literaturangaben fehlen; und gerade der durch seine SS-Vergangenheit umstrittene Jauß hätte in einem Buch zur Rezeptionsgeschichte vielleicht doch eines zusätzlichen Kommentars bedurft. Das gilt allerdings für viele Gestalten des 20. Jahrhunderts, die hier keine Nennung finden.

Unbefriedigend bleiben daher bisweilen die nach jedem Eintrag anhängenden Bibliographien, die diverse Lücken aufweisen, vor allem mit Blick auf relevante Forschungspublikationen. Einleitend betonen die Herausgeberinnen, als Konzept mache Rezeptionsgeschichte es möglich, „jegliche Form der Aufnahme und Weiterbearbeitung zu berücksichtigen, unabhängig davon, in welchen Medien oder Lebensbereichen sie ihren Ort hat“ – die wissenschaftliche Rezeption ist also nicht ausgeschlossen (was auch nicht möglich wäre). Der fast 30-seitige Beitrag zu Snorri Sturluson etwa, einer der großen literarisch tätigen Gestalten des mittelalterlichen Islands, lässt dann aber diverse internationale Buchpublikationen der letzten zwei Jahrzehnte vermissen; es fehlen auch forschungsgeschichtlich wichtige ältere Studien. Bedenkt man, dass ein Großteil dessen, was wir über nordische Mythologie zu wissen glauben, unmittelbar abhängig ist von den Snorri zugeschriebenen Texten (und auch der Buchtitel Gylfis Täuschung direkt auf einen dieser Texte verweist), dann mutet dieses Desinteresse gelinde gesagt eigentümlich an – die Verfasserinnen des Beitrags, Beatrice La Farge und Katja Schulz, betonen selbst, dass „die Rezeption nordischer Mythen bis heute stärker von Snorris Werken als von irgendeiner anderen mittelalterlichen Quelle dominiert“ werde!

Kaum befriedigend ist in dieser Hinsicht auch das zentrale Kapitel „Edda“: Zwar finden sich dort einige Literaturhinweise, die der Beitrag zu Snorri vermissen lässt – doch keine genannten Publikation datiert nach 2003. Das Gros entstammt vielmehr den 1980er- und 1990er-Jahren, sodass rasch der Eindruck entstehen kann, Edda-Forschung sei wesentlich die Unternehmung einiger weniger Gestalten im 20. Jahrhundert gewesen. Befremdlich unangetastet, um ein letztes Beispiel zu nennen, bleibt der Bereich des sogenannten Neuheidentums: Der Beitrag „Religiöse Eddarezeption“ schließt mit dem dürftigen Verweis auf „religiöse Gegenentwürfe“ seit den 1970er-Jahren, und auch unter „Island“ findet sich nur ein magerer Hinweis, der zudem die Bedeutung der isländischen ásatrú, des Asenglaubens, zu unterschätzen scheint, wenn von „etwas über tausend Mitgliedern“ die Rede ist – faktisch verzeichnet die ásatrú-Gemeinschaft derzeit rund 4.300 registrierte Mitglieder, fast eineinhalb Prozent der isländischen Bevölkerung.

Deutlich wird, dass erstens das titelgebende Schlagwort „Rezeption“ eine im weiteren Sinne forschungsgeschichtliche Rezeption oft nur am Rande erfasst und dass zweitens die Literaturangaben für die eingehendere Recherche nur bedingt taugen. Damit stellt sich die Frage, an wen sich dieses Buch eigentlich richtet. Für kurze Infos zu altnordischen Texten, zu Gestalten aus Mythologie und Heldensage sind unter anderem die konzisen Lexika von Rudolf Simek gerade für den Neueinsteiger weiterhin unverzichtbar. Unverständlicherweise sind zudem wichtige Einträge wie „Edda scholarship“ oder der 18-seitige Beitrag zu „Thor“ auf (gelehrtem) Englisch verfasst und damit für den interessierten Laien nicht ohne Weiteres zugänglich – warum wurden solche Beiträge nicht übersetzt? Richtig bemerken die Herausgeberinnen in der Einleitung, die kommentarlose Digitalisierung urheberrechtsfreier Werke durch zum Beispiel Google verzerre das online präsente Bild des Forschungsstandes; konkret heißt das, dass mittlerweile allerlei Werke aus den 1930er- und 1940er-Jahren abrufbar sind. Die Bemerkung: „Es lohnt sich also, auf den Seiten von Universitätsinstituten oder wissenschaftlichen Bibliotheken nach Hinweisen auf aktuelle Forschung, empfehlenswerte Textausgaben oder Übersetzungen zu suchen“, bleibt dann aber ein freundlicher Appell – der Fachmann bedarf dieser Erinnerung kaum, doch wo soll der Laie denn nach welchen Instituten suchen und dort wie welche Hinweise recherchieren? Konkrete Webseiten werden nicht genannt.

Umfang, Anspruch und Preis dieses Lexikons richten sich also doch eher an Fachleute. Die dürften in diesem Buch in der Tat an mancher Stelle fündig werden – hier setzt jene Detailauseinandersetzung an. Zwar fehlt, in meinen Augen, oft viel an relevanter Forschungsgeschichte, trotzdem verbirgt sich hinter dem unscheinbaren Terminus „Rezeptionsgeschichte“ eine derart vielfältige und in vielen Dinge brisante Welt, dass man die bisherigen Abstecher der (skandinavistischen) Mediävistik in diese Welt kaum als ausreichend bezeichnen kann. Die in Frankfurt am Main ins Leben gerufene Publikationsreihe Edda-Rezeption hat in den letzten Jahren neues Licht auf Aspekte einer solchen Rezeption geworfen. Das aktuelle Lexikon, daran dürfen meine Kritikpunkte keinen Zweifel lassen, muss als weiterer gewichtiger Versuch gewertet werden, den umfänglichen und oft genug problematischen Themenkomplex stärker in den Blick der Forschung zu rücken. Zu wünschen ist dem Band insofern eine breite und kritische Aufnahme, in der künftige Aufgaben der Rezeptionsforschung weiter an Kontur gewinnen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Julia Zernack / Katja Schulz (Hg.): Gylfis Täuschung. Rezeptionsgeschichtliches Lexikon zur nordischen Mythologie und Heldensage.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2019.
791 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-13: 9783825368746

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