„Die heilige Dreifaltigkeit der Durchschnittlichkeit“

Gertraud Klemm im Gespräch mit Literadio-Redakteurin Susanne Peter

Von Carina HebgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carina Hebgen

Am Freitag, dem dritten Messetag, ist Gertraud Klemm zu Gast bei Literadio, einem österreichischen Radiosender, der live von der Frankfurter Buchmesse berichtet. Im Gespräch präsentiert sie ihren neuen Roman Hippocampus, der sich – wie auch seine Vorgänger Muttergehäuse (2016) und Aberland (2015) – mit feministischen Themen wie Geschlechterkampf und Frauenrollen beschäftigt. Der Name „Hippocampus“ spielt dabei auf Seepferdchen an, bei denen die Austragung der Nachkommen bekanntlich vom männlichen Part übernommen wird.

Die Protagonisten Elvira und Adrian – verbunden durch die Abneigung gegenüber dem bürgerlichen Eheideal und der damit auf männlicher Seite einhergehenden heiligen Dreifaltigkeit der Durchschnittlichkeit von Fußball, Grillzange und Bier –  ziehen gemeinsam auf einen Road-Trip durch Österreich, um die Biografie von Elviras verstorbener Freundin Helene Schulze ins rechte Licht zu rücken. Helene, eine feministische Autorin der Avantgarde, steht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises – und der soll ihr laut Elvira nicht aufgrund der Männerdominanz in der Branche verwehrt bleiben.

Mit ihrem Roman kritisiert Klemm den Literaturbetrieb sowie die Literaturpreisvergabe. Weiterhin werde der Erfolg eines Buches maßgeblich durch die Beurteilungsmaschinerie in Kunst und Kultur beeinflusst. Im Gespräch betont Klemm, dass sich im Blick auf die Vergabepraxis hochrangiger Literaturpreise bereits Veränderungen abzeichnen – in Bezug auf den stark männerdominierten Literaturkanon aber nicht. Klemm selbst ist auf dem Literaturmarkt keine Unbekannte: Die Autorin erhielt diverse Preise, beispielsweise den Harder-Literaturpreis (2012), den Irseer Pegasus (2014) sowie den BKS-Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs (2014). 2015 stand ihr Roman Aberland darüber hinaus auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.

Als Vorbild für Hippocampus diente Brigitte Schwaiger mit ihrem Debütroman Wie kommt das Salz ins Meer (1977). Schwaiger, die in ihrem Roman das gutbürgerliche Eheideal kritisiert, konnte dem Literaturbetrieb nicht standhalten: An ihr Debüt, das sich zu einem Sensationsbestseller entwickelte, vermochte sie mit ihren späteren literarischen Werken nur schwer anzuknüpfen. Infolge langanhaltender psychischer Probleme fand man ihre Leiche schließlich 2010 in der Donau. Klemm habe der Tod Schwaigers und der nachfolgende Umgang der Medien damit berührt und verärgert – ein Anstoß für sie, genau dies in Hippocampus zu thematisieren. Eine weitere maßgebliche Rolle für die Entwicklung ihres Romans spielte Nick Drakes Song Pink Moon, der für Klemm als Schreibsoundtrack fungierte und sie vor allem aufgrund der Spannung von Romantik bis Weltuntergang faszinierte.

An Hippocampus hat die Autorin insgesamt viereinhalb Jahre gearbeitet. Das Außergewöhnliche: Die Arbeit an der ersten Hälfte nahm vier Jahre in Anspruch, die zweite Hälfte verfasste sie im Rahmen eines Schreibstipendiums in Schottland in rund vier Wochen. Klemm vergleicht den Schreibprozess mit einer Zugfahrt: Nach einer schleppenden Anfahrt nimmt der Zug Fahrt auf, rast durch die Landschaft – bis der Alltag ihn, bzw. sie, radikal ausbremst. Ihre Schreiborte gestaltet sie insofern am liebsten fernab von Alltag und jeglichen Störungen.

Auch Klemms künftiger Roman Die vierte Welle wird sich, wie die Autorin abschließend verrät, mit feministischen Themen beschäftigen, allerdings auf intensivere Art: Eine Revolte, die wie eine politische Bewegung funktionieren könnte, soll die bürgerliche Kleinfamilie auflösen. Bis zu dieser Erscheinung können die Leser zunächst im aktuellen Roman Hippocampus mit Elvira und Adrian zu einem Rachefeldzug aufbrechen, der eine ganze Reihe schriller Protestaktionen vereint.

Das Interview zum Nachhören unter: https://cba.fro.at/425684

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen