Ein Zivilist im Kriege

Zum Tagebuch des Johann Conrad Wagner

Von Martin MeierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Meier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Mann zieht in den Krieg, obgleich er kein Soldat ist. Er marschiert über aufgeweichte Wege, friert und hungert mit den Anderen; sieht Tod, Vernichtung, Plünderung und stumpft dennoch nicht ab. Tagebuchführend wird er Zeuge des ersten Koalitionskrieges (1792–1797). Er begleitet das traditionsreiche 6. preußische Kürassierregiment unter Herzog Carl August von Sachsen-Weimar. Er schläft im Stroh, auf der Erde, dann wieder auf weißem Laken. Er genießt den Wein, diskutiert mit Offizieren und Quartierwirten. Vor Verdun erfährt er vom gewaltsamen Tod des Festungskommandanten, der sich selbst entleibt, als er registriert, dass die Bürger seine Festung den Preußen zu übergeben gedenken. Im Lager vor Consaarbruck sieht er, wie ein Offizier einen älteren Soldaten derart hart schlägt, dass dieser dauerhaften körperlichen Schaden erleidet. In Sierck, nahe der französischen Grenze, beobachtet er, wie Dorfbewohner Husaren überfallen und daraufhin gnadenlos getötet werden, unter ihnen auch eine Frau. So wird ihm der Hass jener Zivilisten gegen die nach Frankreich marschierenden Truppen deutlich, in deren Reihen er sich befindet. Sein Weg führt ihn mit dem Regiment von Aschersleben über Verdun bis Valmy, wo er Zeuge der berühmten Kanonade wird. Er erlebt den Marsch und die Kämpfe auf Reichsgebiet, etwa die Belagerung der Festung Mainz und die Schlacht bei Kaiserslautern.

Der Wallstein Verlag bietet mit der Herausgabe des die Jahre 1792 bis 1794 umfassenden Tagebuches des Weimarer Kämmeres Johann Conrad Wagner (1737–1802) den überaus lesenswerten Erlebnisbericht eines guten Stilisten und hervorragenden Beobachters, dem keine Gegebenheit zu gering scheint, sie aufzuzeichnen. So begegnet ihm auf dem Marsch gen Frankreich in Veckenstedt ein Amtmann, der an Depressionen leidet, da seine Frau im Kindbett verstarb. Dessen Tochter glich nun in frappierender Weise der  Mutter; eine Tatsache, die die Trauer des Vaters verstärkt:

Gegen Abend wollte er mich bereden mit ihn [sic!] auf den Friedhof zu den Grabe seiner seligen Frau zu gehen, ach sie wird sich freuen sagte er mir, daß ich einen Freundt gefunden der Teil an meinem Leiden nimmt und der mit mir eine Wallfahrt nach dem Grabe macht welches mein Alles verschließt! Es schien mir, als wenn der Mann, wenn er zu diesem Grabe wandert ordentlich mit seiner toten Frau spräche und einen Diskurs mit ihr unterhielte. Ich hatte bey mir nicht Lust mitzugehen, indessen hatte ich aber auch nicht Lust ihn in seinem Traum zu stören. Ich sagte ihm daher daß ich ihn recht gerne zu Willen seyn wollte wenn deshalb bey mir nicht eine Unmöglichkeit eintrete, ich wäre gar übel zu Fuße weil ich mir vor einigen Tagen den Nägel von der grosen [sic!] Zeh abgetreten hätte, ich durch mein heutiges zu Fuß gehen dieses Werk erhitzt, daß ich unaussprechliche Schmerzen daran litte, er beruhigte sich und sagte mir, daß er nie ohne Trost von diesen Ort zurück gingen und er fände sich jedes Mal in einer so großen Seligkeit daselbst, die sich nicht zu beschreiben wäre.

Friedliche Szenen wie jene wechseln mit Beobachtungen der Grausamkeiten des Feldzuges. Unter dem 19. August verzeichnet Wagner ein Gefecht bei Tiercelet, an dem auch der Herzog teilnimmt, dessen Hand eine Kugel streift. Das Treffen schildernd, verweist er auf folgende Szene: „Viele haben keinen Pardon angenommen. Ein Jäger mit 6 Blessuren welchen Pardon zu gerufen wurde nahm ihn nicht an und rief point pardon also hieb ihn freilich der Husar zusammen. 200 Mann sind bei dieser Affäre niedergemacht.“

Am darauffolgenden Tage erlebt Wagner eine Plünderung:

Unsere zwei preußischen Kutscher, welche in vorhergehenden Zeiten mehr dergleichen mochten getrieben haben, hatten sich ebenfalls gelüsten lassen in das Dorf auszugehen. Fremden Waren werden in Feindesland erlaubt zu nehmen; diese brachten aber nicht allein Buttertöpfe sondern alles mögliche von Mann und weiblichen Anzügen, Pelze, Tischzeug allerhand was sie nur hatten bekommen können mit ins Lager. Ich las ihnen schrecklich die Leviten.

Oft bemüht sich Wagner darum, das ihn umgebende Leid zu mindern. So beschreibt er, wie er einem 63-jährigen Füsiliere, der bereits im Sterben lag, etwas Brot und Hoffmannstropfen gab.

Viele interessante Bemerkungen finden sich in den Schilderungen, die unscheinbar sind und doch dem Militärhistoriker Nahrung zu bieten vermögen, beispielsweise über den Einsatz von Feldjägern, über die Kosten von Bomben, von denen gesagt wird, dass jede einzelne den König 10 Reichstaler koste. Im Zuge der Belagerung Verduns seien innerhalb von zwei Tagen 300 Bomben dieser Art auf die Stadt gefallen:

Als wir aldar noch so hielten kam ein Bauer des Dorfs welcher deutsch sprach an unseren Wagen und sagte indem man mit der Hand auf einen uns nahestehendes Haus wies, in diesem Hause würde geplündert wir müssten es doch zu verhüten suchen! Eilig sprangen wir allesamt vom Wagen in das Haus hinein ich schrie aus vollem Halse in denselben Herr Auditeur hier sind Marodeurs! Auf diese Schrecken gab es in den oberen Stockwerk ein schreckliches Gepolter alles was oben war kam die Treppe herunter gesprungen, es hatte sich alles wohl bepackt vorzüglich hatte ein Jude ein großes Pack auf dem Rücken Kanalie schrie ich ihn an und zog dabei meinen Stillet aus meinen Stock auf ihn. Du bist des Todes, wenn du nicht gleich dein Pack hier lässt allerdings war es hin und sprang als wenn ihm der Kopf brannte zur Türe hinaus.

Der Krieg erscheint in all seiner Unfassbarkeit, seiner Unberechenbarkeit und in seiner grausamen Faszination. Er schreibt Geschichten, die das Leben in ganzer Fülle zeigen und menschliche Charaktere in Extremsituationen offenbaren. Wagner verzeichnet einerseits die gnadenlose Tötung  kriegsgefangener Franzosen, andererseits erzählt er die Geschichte eines Elsässers, der auf preußischer Seite mitmarschiert, dann jedoch in französische Gefangenschaft gerät. Er glaubt hingerichtet zu werden, als ihn ein französischer General begnadigt und als Boten zum Feind sendet. Der Elsässer bittet darum, ein Pferd kaufen zu dürfen, und weil er kein Geld hat, bittet er um Vorschuss. Der General legt sechs Taler aus eigener Tasche aus und lässt den Gefangenen ziehen.

Ständiger Begleiter der Soldaten ist der Hunger, den der Tagebuchschreiber selten offen benennt, und der doch permanent in Erscheinung tritt. Da ist ein halbes Hühnchen, das Wagner geschenkt erhält und das „für heute und noch ein paar Tage mein Frühstück und Abendessen war“. Anderntags bildet ein wenig Weißkraut, das er nach langer Suche erwirbt, die einzige Tagesmahlzeit. Als ihm der Kauf einer Flasche Rotwein gelingt, sammeln sich Offiziere um ihn. Wagner erklärt den jungen militärischen Führern, es mache keinen Sinn den Wein auszuteilen. Jeder werde nur einen Fingerhut erhalten und niemand zufrieden gestellt. Also trinkt er alleine, damit wenigstens eine Person glücklich sei. Nicht selten bieten Wagners Aufzeichnungen derart Amüsantes, etwa wenn er schreibt: „Abgewichenden Nacht schlief eine Kröte bei mir, welche bei meinem Aufstehen noch neben mir lag“. Und doch überwiegt das Entsetzen über die unerträglichen Grausamkeiten. Er berichtet von gerade Gefallenen, die einfach von den Lazarettwagen in den Straßengraben geworfen werden, blickt in ihre jugendlichen Gesichter und es zereißt ihm das Herz über den frühen Tod. Ihn empören die Zustände in der Verwundetenversorgung. Überhaupt hegt Wagner fiel Sympathie für die Soldaten. Überall verachte man sie, obgleich sie doch soviel geleistet hätten, dass ihnen Denkmäler zustünden. Als Soldaten in der Nähe von Kaiserslautern umfassend Nahrungsmittel requirieren, nimmt er das Militär in Schutz. Die Bauern hätten trotzdem genug, während der Gemeine verhungern müsse. Die Schlacht bei Kaiserslautern wird ausführlich beschrieben und zudem mit einem Zeitungsbericht illustriert.

Der Diarist schreibt keineswegs nur in der Absicht, sich selbst Rechenschaft zu geben. An vielen Stellen wird deutlich, dass Wagner die Lektüre seiner Aufzeichnungen durch den Herzog zumindest für möglich hielt. Teilweise wendet er sich in direkter Rede an den Fürsten, oft werden Taten des Herzogs rühmend erwähnt. So rettet Carl August einem Junker das Leben, führt furchtlos Angriffe, wird verletzt, trifft kluge Vorsorge et cetera.  Auf dem Rückzug aus der Champagne gelang es, nahezu sämtliche Kanonen des preußischen Militärs dadurch zu retten, dass Munition, Kugeln, Bomben und Haubitzen in Wasserlöchern und Sümpfen versenkt wurden, um diese zu verdichten und somit die Geschütze darüber hinweg ziehen zu können, berichtet Wagner. Zudem wurden Kavalleristen pro Regiment 150 Pferde entzogen. Probleme einer auf hoher Mobilität fußenden Operationsführung werden so ebenso sichtbar wie jene des Rückzuges. Die sich kreuzenden Marschwege verschiedener Einheiten bereiten erhebliche organisatorische Probleme. In jenem häufig auftretenden Durcheinander bilden sich endlose Schlangen Verwundeter, Versprengter und ineinender verkeilte Bagage. Marschbewegungen geraten hierdurch ins Stocken.

Zu Recht verweisen die Herausgeber auf den militärhistorischen Wert der Darstellung. Die Vielfalt der festgehaltenen Beobachtungen versetzen in der Tat in Erstaunen. Gewiss besitzt jeder Leser eigene Lektürestrategien. Es lohnt sich, zunächst den Tagebuchtext zu lesen und sich erst nach vollständiger Lektüre den  Beiträgen über die Edition und über das Leben Wagners zu widmen, ist die Sozialisation Wagners für das Verständnis des Geschehens doch eher nachrangig. Über sein Leben klärt ein kurzer Beitrag der Editorin Edith Zehm auf. Kindheit und Jugend Wagners liegen weitgehend im Dunkel. Einen ersten Anhalt bieten die Matrikel des Wilhelm-Ernst-Gymnasiums in Weimar. Hier taucht Wagner als zwölfjähriger Schüler auf. Später, in den Jahren 1756–61, hält er sich in Regensburg auf, ohne dass hierfür die Ursache seines Aufenthaltes bekannt wäre. Ab 1762 wird er am Hofe Anna Amalias Lakei des fünfjährigen Erbprinzen Carl August, 1774 begleitet er seinen jungen Herrn auf die Cavallierstour und besucht in diesem Zuge auch den Hof Ludwigs XVI. Spuren jener Reise und späterer Reisen finden sich in Wagners Aufzeichnungen zum Ersten Koalitonskrieg. Mit dem Antritt der Regentschaft Carl Augusts steigt Wagner zum Kammerdiener auf. Schließlich wird er zum Vertrauten des Herzogs, der die Privatschatulle seines Herrn betreut. Während des im Tagebuch festgehaltenen Ersten Koalitionskrieges verwaltet Wagner die „Feldkasse für die herzogliche Suite“. Hierbei darf jedoch keineswegs von einem vertraulichen oder gar freundschaftlichen Verhältnis ausgegangen werden. Die untertänige Distanz zur Führung ist im Text stets spürbar und verstärkt so den Eindruck des unmittlbaren Zugriffes auf das Kriegsgeschehen.

Der Band ist in der Reihe Schriften der Goethegesellschaft erschienen. Dies ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass der Protagonist nicht nur enger Vertrauter des Herzogs war und dessen Privatschatulle betreute, sondern auch der Gegenwart Johann Wolfgang Goethes. Goethe kannte das Tagebuch und nutze es für seine berühmte Darstellung der Campagne in Frankreich. Auch auf weitere Persönlichkeiten trifft Wagner während des Feldzuges, so etwa auf den Obersten Georg Friedrich von Tempelhoff, dessen Werk über den siebenjährigen Krieg einen Klassiker der militärhistorischen Literatur darstellte.

Dem Wallstein Verlag ist erneut die Publikation eines hervorragend edierten autobiografischen Berichtes gelungen, dem zahlreiche Leser zu wünschen sind. Den Krieg zeigt Wagner einmal mehr als das, was er war und ist: ein Mittel der Politik und eine Geißel für alle an ihm Beteiligten.

Titelbild

Johann Conrad Wagner: »Meine Erfahrungen in dem gegenwärtigen Kriege«. Tagebuch des Feldzugs mit Herzog Carl August von Weimar.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
552 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783835333567

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