Wenn man träumt, kann man was erleben

Stefanie Harjes, dieses Genie der Illustration, hat ein Bilderbuch von Stefan Klein gestaltet: surrealistisch, bedrohlich und leuchtend

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon auf dem ersten Bild schleicht sich etwas ins Schlafzimmer, in dem Elias in seinem Bett liegt, seinen Pinguin Olaf im Arm; sein Vater ist gerade fertig mit Vorlesen. Auf krakelig dünnen Beinchen, mit ausgebreiteten Dinosaurierärmchen, einer langen Zunge und spitzen großen Zähnen lugt es vorsichtig hinter dem Schrank hervor, auf dem die Puppe sitzt und der Teddybär. „Denk an was Schönes“, sagt Papa. „Dann schläfst du bald ein.“ Und macht das Licht aus.

Jetzt ist es dunkel. „Unheimliche Schatten zappeln an der Wand.“ Der Teddybär hebt beide Arme, mit einem Wusch ist da plötzlich ein Tier, mit aufgerissenem Maul, und ein riesiger gelber Vogel steht mitten im Zimmer. Oder ist es das gelbe Licht von einem vorbeifahrenden Auto?

Auf einmal merkt Elias, dass zwei der Lichter tatsächlich glühende Augen von einem Wolf sind. „Elias will weglaufen. Aber wieso kann er seine Beine nicht bewegen?“ Nur noch seine Augen gucken unter der schwarzen Bettdecke mit den roten Punkten hervor, der braune Wolf blitzt ihn mit gelben Augen an, ein schwarzes Ungeheuer schwebt über ihm, ein Schuh segelt an der Decke vorbei …

Ein spektakuläres Traumszenario

Ein furchterregendes, wunderschönes Bilderbuch hat Stefanie Harjes gemalt! Es ist selten, dass in einer meiner Rezensionen die Illustratorin im Vordergrund steht, nicht die Autorin beziehungsweise der Autor. Aber Harjes ist ein Ausnahmetalent, ein Genie des Kinderbuchs. In dem grandiosen Wenn ich das siebte Geißlein wäre erzählt sie mit ihren Bildern gleich mehrere Geschichten auf einmal, mit der Wörtergeschichte zusammen und neben ihr. In Der Traumwolf (Text von Stefan Klein) entwirft sie auf jeder Seite ein spektakuläres Traumszenario, das den Leser mit einem unwiderstehlichen Sog in eine surrealistische Bilderwelt hineinzieht: Ein fliegender Pinguin, ein schwebender Schrank, ein grünes Blatt vor einem lufthauchigen Zweigegestrüpp, eine Frau mit Kleid, gelbgeringeltem Schlangenschwanz und einem Eselshirschkopf – und der kleine Elias, der mit seinem Olaf durch die Lüfte segelt: „Mama, Papa, ich kann fliegen, ruft er.“

Ein Kaleidoskop von visuellen Einfällen, die – ganz wie im Traum – nicht immer komplett zu entschlüsseln sind, die manchmal etwas bedeuten, etwas ahnen lassen, oft aber auch nicht: Wie das Wesen halb Frau, halb Biene mit dem Vogelschnabel, das in einem Baum hängt, das glotzäugige Tier oder das Pferd, das in einer Pfütze steht. In einem angedeuteten Auto sieht man Tatzen auf dem Lenkrad, ein hirschgehörnter, grauer Mann steigt eine Treppe hinunter, auf einem Ast sitzt eine rot-orange-lila-blaue Eule…

Stefan Kleins Geschichte erzählt von Elias, der nicht schlafen kann. Erst hat er Angstträume, dann träumt er von einer Schatzkiste, die er aber nicht öffnen kann, er sieht nur durch das Schlüsselloch etwas leuchten: „Ich brauche den Schlüssel, ruft Elias aufgeregt, ich muss den Schlüssel finden!“ Als er das erste Mal aufwacht, erklärt ihm die Mutter: „Bei uns gibt es keine Wölfe, das hast du bestimmt nur geträumt.“ Beim zweiten Mal sucht er im Schlafzimmer nach der Schatzkiste und „erzählt seiner Oma vom Fliegen, von dem unheimlichen Wolf, dem Haus und der Schatzkiste“.

Suche nach dem Schatz

Seine Oma erklärt es ihm: „Wenn du schläfst, ruht sich dein Körper aus. Aber die Gefühle in deinem Kopf bleiben wach. Und sie werden zu Geschichten. Zu Geschichten von Schätzen und unheimlichen Monstern und einem Wolf.“ Und sie schickt ihn noch einmal schlafen: „Dann findest du den Schatz vielleicht doch.“ Man sieht ein tanzendes Elternpaar am rechten Rand, einen Hasen auf seltsamen Rollschuhen, einen Papagei mit Händen an den Flügeln, die auf irgendetwas zeigen, allerdings nicht auf den Schlüssel zur Schatzkiste. Noch mehr Tänzer und Vögel und den aufgerissenen Rachen des Wolfs, der vielleicht der Nachbarshund ist, und einen grinsenden Hai.

Aber da kommt der Wolf wieder, er trägt einen Helm. Doch jetzt weiß Elias: „Wölfe tragen doch keine Helme. Das muss ein verzauberter Wolf sein. Ein Traumwolf.“ Er streichelt ihn vorsichtig und macht sich mit ihm auf die Suche nach der Schatzkiste. Aber dann wacht er wieder auf, reibt sich die Augen. Sein Pinguin Olaf hält einen roten Schlüssel in der Hand, am Rand des Blattes sieht man eine Kiste, eine Blume, einen Wolf, eine Frau, die die Buchstaben „Ep“ in der Hand hält, langsam verschwinden sie, je mehr sich Elias die Augen reibt.

Es ist, wie immer bei Stefanie Harjes, ein außergewöhnliches, ein ungewöhnliches, ein völlig aus der Art geschlagenes Bilderbuch, voller Anspielungen und Anfänge weitverzweigter Geschichten. Voller unvorhergesehener Sprünge und Verbindungen quer durch alle Bilder. Malerisch sind sie, farbenfroh und von innen aufgeladen in ihrer Mischtechnik aus Bunt- und Bleistiftzeichnung und Malerei. Sie stehen auf der Schwelle zwischen Comic, Figuration und expressiver Gestik. Dass ein Verlag sich so etwas traut, ist ein kleines Wunder, möge die Verlagsleiterin Frau Metzger dereinst dafür in den Himmel kommen.

Allerdings mischen sich ganz am Schluss doch noch zwei bittere Tropfen in die Freude über dieses wunderschöne Buch. Da muss nämlich die Geschichte, die so schön erzählt und noch viel wunderbarer gemalt ist, der eigentlich überhaupt nichts fehlt, weil man sie versteht, so wie ist, in all ihren Drehungen und Wendungen und Wiederholungen und raffinierten Abweichungen, noch einmal erklärt werden: Denn „dass er vor Träumen keine Angst haben muss, das weiß er von nun an ganz sicher.“ Wie überflüssig. Wie ärgerlich. Und auf den nächsten beiden Seiten wird dann noch einmal all das erklärt, was im Buch von Harjes und Klein so schön erzählt ist – das ist noch viel ärgerlicher, denn dieser pädagogisch drohende Zeigefinger hinterlässt vor allem den Eindruck, dass der Verlag den Leser für zu dumm hält, die Geschichte zu verstehen. Vielleicht geht es doch nicht gleich in den Himmel für die Verlegerin…

Titelbild

Stefan Klein: Der Traumwolf.
Illustriert von Stefanie Harjes.
Fischer Sauerländer, Frankfurt a. M. 2018.
32 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783737355377

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