Die Melancholie der Nilpferde

Im Roman „Schutzzone“ erzählt Nora Bossong von der Brüchigkeit unserer moralischen Werte

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Burundi gibt es keine Giraffen, nur Nilpferde. Doch Nilpferde sind keine touristische Attraktion, dafür sind sie zu plump. Nilpferde sind nur grazil, wenn sie unter Wasser gehen. Ihre Eleganz bleibt unsichtbar. Unsichtbar bleiben sollen auch jene „Nilpferde“, die Mira einst mit ihren Kollegen als Spiel in Umlauf setzte. In Berichte und Korrespondenzen fügten sie absurde, unpassende Worte ein und ließen diese „als Spion durch die Texte“ und durch die Bürokratie wandern, bis sie entdeckt wurden – was freilich selten geschah. Solche „Nilpferde“ brachten etwas Unruhe in den geölten Behördenapparat und entlarvten dessen Leerläufe.

Mira erzählt davon in Nora Bossongs Roman Schutzzone. Als Mitarbeiterin für die Vereinten Nationen lebt sie zwischen Bürodienst und Auslandsmission, zwischen Genf, Nikosia und Bujumbura, der Hauptstadt Burundis. In eingehegten Containersiedlungen ebenso wie in unpersönlich möblierten Appartements hat sie verlernt, was Wohnlichkeit oder gar Heimat sein könnte. Mira ist, was landläufig eine Expat genannt wird. „Wir alle wohnten hier nur, keiner von uns war hier tatsächlich zu Hause“, bemerkt sie einmal. In ihrer Abteilung bei der UNO genießt sie einen ausgezeichneten Ruf, weil sie geduldig zuhören kann und andere so zum Reden bringt. Deshalb wird sie im Rahmen der Wahrheitskommission in Burundi eingesetzt. Aber was heißt denn Wahrheit in einem von Hass zerfressenen armen Land?

„Wir kommen nur weiter, wenn wir nicht zu genau über die Wahrheit nachdenken“, hat Mira die Erfahrung gelehrt, doch in dieser Konzession liegt ein Scheitern begründet: ein Rückzug in eine Gelassenheit, die leicht ins Lakonische oder gar ins Zynische zu kippen droht. Einer ihrer Gesprächspartner, der Warlord General Aimé, der der Kriegsverbrechen beschuldigt wird, konfrontiert Miras moralischen Idealismus mit der nackten Wirklichkeit. „Sie lassen die Leute ihre Geschichten erzählen“, hält er ihr vor: „Das ist niedlich. Herzergreifend. Mehr nicht. Sie spielen die Richterin in einem Puppenstück.“ In den Dörfern und den Camps der Vertriebenen aber ändert sich nichts. „Menschen sind immer ein Problem, und das Problem werden Sie nicht los. Aber Sie, Sie müssen jetzt den Retter der Welt spielen.“

Die Episode spielt 2012 in Burundi. Nora Bossong siedelt die Erinnerung daran zwischen David van Reybroucks Kongo-Buch und Lukas Bärfussʼ Hundert Tage an. Westlich von Burundi droht ständig die kongolesische Hölle. Von Hundert Tage zweigt ihr Buch in dem Moment ab, wo Bärfussʼ Held David Hohl 1994 in Ruanda bleibt, während die UNO ihr westliches Personal vor dem Genozid in Sicherheit brachte. Unter ihnen befand sich damals auch der Diplomat Darius, der Mira davon erzählt: „Sie haben uns durch die Menge gelotst. Und wir wussten, was mit denen passiert, die bleiben. Wir wussten es alle“. Was er trotzdem mitbekam – „nicht erlebt“, nur mit angesehen –, hat gereicht, sein Leben zu verändern. Mehr als 20 Jahre später, wenn er nachts aufwacht, „ist alles zu nahe. Die Möbel sind falsch. Alles ist falsch.“

Damals, 1994, verbrachte Mira als Neunjährige ein paar Monate in Obhut von Darius, seiner Frau Lucia und ihrem 17-jährigen Sohn Milan, weil die eigenen Eltern gerade im Begriff waren, sich zu trennen. Doch dann verschwand auch Darius. Dass dieses Verschwinden mit dem Völkermord in Ruanda zusammenhing, erfährt Mira erst viel später. Während sie Darius danach aus den Augen verlor, begegnet sie Milan unvermittelt in Genf wieder. Er arbeitet wie sie für die UNO. Das Wiedersehen hat Folgen. Einen Frühling lang halten sie sich gegenseitig fest in ihrer Unbehaustheit und ihrem Wunsch nach Nähe.

Die rauschhaft aufflackernde Liebe, Eindrücke von 1994 und die Arbeit im UN-Dienst verschmelzen zu einem stotternden Kontinuum von Erinnerungen und Reflexionen. „Geschichten, die uns Angst machen“, flüstert Mira einmal dem Geliebten zu, die „erzählen wir meist nicht chronologisch, es gelingt einfach nicht, oder wir versuchen, es nicht gelingen zu lassen“. Genau deshalb lässt Nora Bossong ihre Protagonistin nur sprunghaft erzählen, in kurzen Kapiteln, die sich ineinander verschlingen, jedoch jeweils mit Ort und Jahreszahl überschrieben sind.

Die Angst nagt an Mira, „die Angst davor, dass dir irgendwann auffällt, dass du dein Leben im Sitzungssaal des Menschenrechtsrats verloren hast“ und es nicht mehr zurückerhalten wirst. Aber auch die Angst vor der unbequemen Wahrheit, die „uns betrifft, während die Katastrophen am Himmel glühen“ – unerträglich, doch auch reizvoll aus der Distanz. Solche Zwiespältigkeit prägt Schutzzone. In sechs Teilen, die emphatisch klingende Überschriften wie „Frieden“, „Wahrheit“ oder „Versöhnung“ tragen, bringt Nora Bossong Mira zum Sprechen. Sie tut es mit tastender Nachdenklichkeit, die mehr und mehr den hohen moralischen Anspruch dekonstruiert und als hilflosen Appell erscheinen lässt. Miras Arbeit und die der UNO oder all der NGOs wirken ohnmächtig in Erdteilen, worin sie nicht wirklich verwurzelt sind. „Versöhnung ist Unsinn“, hält General Aimé dagegen, und er fragt, wer denn mehr vom anderen abhängig sei.

Vielleicht handelt diese Geschichte einfach nur davon, hält Mira nach ihrer Begegnung mit Darius fest, „dass man sich die Erinnerung teilt, das ist alles, nicht viel. Es ist bloß mehr als alles andere“. Eine solche Reduktion aufs bescheidene Optimum klingt in ihrer Erzählung mehrfach an und drückt ihr den Stempel auf. Beeindruckend fängt Nora Bossong die existentielle Brüchigkeit ein und findet dafür eine subtile Form und eine elegante Sprache. Raffiniert webt sie ein Netz von Leitmotiven (wie beispielsweise das Nilpferd), die das Buch feinnervig zusammenhalten. So trifft sie eine melancholische Grundstimmung, die ihre Heldin als eine Suchende zeigt. Diese selbst erscheint dabei nicht als Zynikerin, sie ist lediglich Spiegel eines zum Zynismus neigenden Betriebs. Zugleich bleibt sie zurückhaltend, eine gewiefte Diplomatin in eigener Sache, die ihre Gefühle sorgfältig dosiert und dort Lücken hinterlässt, worüber sie nicht sprechen will.

Nora Bossong beschreibt die Differenz zwischen Erfahren und Beobachten, Teilhabe und Distanz in ihren persönlichen wie politischen Dimensionen. Sie erteilt dem Wirken von UNO oder NGOs keine Absage, aber sie hinterfragt den Hochmut, der in den ‚guten Diensten‘ und den westlichen Werten steckt. Schutzzone ist ein durchdacht komponiertes Buch, das die weite Welt ins Innerste seiner Heldin zirkelt. Der Titel gibt dabei ein zwiespältiges Signal. UN-Mitarbeiter wie Mira leben in einer Schutzzone, abgeschottet von Armut und Gewalt, im Bewusstsein, Rettendes zu tun. Dieses Bewusstsein bildet auch so etwas wie eine Selbstschutzzone. Erst als Darius vor dem wütenden Mob 1994 in Ruanda fliehen musste, wurde er seiner eigentlichen Schutzlosigkeit richtig gewahr.

Zuweilen hofft Mira darauf, dass sie von ihrer Umwelt als ein „Nilpferd“, ein unzugehöriges Wesen erkannt wird. „Manchmal fliegen die Nilpferde auf, nicht oft, aber manchmal geschieht es, und vielleicht waren sie vorher gar nicht so falsch“; die Nilpferde nicht, nur alles andere. Mira wird am Ende ausbrechen wollen – und dennoch eine neue Mission in Amman annehmen.

Titelbild

Nora Bossong: Schutzzone. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
332 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428825

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