Es ist immer viertel nach neun

Stephan Beuse und Sophie Greve erzählen die philosophischen Abenteuer einer Ziege auf dem Mond und eines Pinguins auf der Erde

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das hätte auch meine Zen-Meisterin sagen können: „Jeder Stern steht für einen Wunsch, das wusste die Ziege aus der platten Welt, und damals hatte sie sich so viel gewünscht, dass der ganze Himmel hätte leer sein müssen. Aber von dem ganzen Wünschen wurde man bloß traurig, und da hatte die Ziege gemerkt, dass es nicht gut war, zu viel zum Wünschen zu haben.“ Auch meine Meisterin erzählt gern Geschichten: über das Hier-Sein, das Sein im „Hier und Jetzt“. Über das vergleichende, bewertende, „nörgelnde Ich“, wie sie es nennt: „Ach, hätte ich doch …“ oder „Lieber wäre mir…“.

Das kennt die Ziege auch. Sie wohnt auf dem Mond, und zwar auf der dunklen Seite. Denn da sieht man eben die Sterne. Und da die Ziege weise ist, weiß sie, dass zu viel wünschen nicht glücklich macht, weil man dann nicht zufrieden ist mit den Dingen, die man hat, und dem, wie man ist. Dinge hat die Ziege genug: Viele fallen einfach vom Himmel:

Hübsche Dinge, traurige Dinge, wahre Dinge und solche, die erst zu Dingen wurden durch den Namen, den die Ziege ihnen gab. […] Bei Dingen, die nutzlos und gleichzeitig schön waren, musste man aufpassen. Die Schachtel mit den winzigen Stöckchen zum Beispiel. Die es kurz hell und warm machten, wenn man damit an der Schachtel entlangrieb. Da mochte die Ziege zwar das flackernde Licht und die Wärme, aber außerdem knisterte es in der Nase, und der Geruch erinnerte sie an etwas, das ein komisches Gefühl im Bauch machte. Das war gefährlich, weil man plötzlich woanders sein wollte als da, wo man gerade war, und das war nicht gut. Woanders sein wollen, als da, wo man gerade war, und was anderes machen wollen als das, was man gerade tat, waren die ersten Anzeichen dafür, dass man auf dem besten Weg war, unglücklich zu werden. Und es lag nun mal in der Natur der Ziege, dass sie viel, viel lieber glücklich war als unglücklich. Deswegen warf sie alles, was gefährlich werden konnte, sofort in den tiefsten Krater weit hinter der Hütte, an der Grenze zum Licht.

Alles immer zur besten Zeit

Und so lebt die Ziege glücklich in ihrer Zeit, die immer viertel nach neun ist, weil die Uhr, die sie hat, stehengeblieben ist. Deswegen passiert alles immer zur besten Zeit, nämlich viertel nach neun. Aber dann passiert etwas, das die Ziege doch etwas erschüttert: Ein sehr großes Ding fällt herunter. „Das neue Ding war viel größer als alles, was bisher auf dem Mond gelandet war; die Ziege konnte es kaum erwarten, das Objekt zu erkunden. Trotzdem schlug sie erst mal in aller Ziegenruhe ihr Ei in die Pfanne und machte den Kaffee schön heiß und schön schwarz. Denn Hektik, das wusste die Ziege, hatte noch niemandem geholfen. Und wer nicht mal Zeit für ein gutes Frühstück hatte, war für das Leben auf dem Mond einfach nicht gemacht.“ (Das kenne ich so auch schon aus Fritz Mühlenwegs wunderbarem Jugendroman In geheimer Mission durch die Wüste Gobi, wo es kurz und bündig heißt: „In der Eile sind Fehler.“ Was ich hier mal als Empfehlung einschmuggle.)

Und so macht sich die Ziege um viertel nach neun auf den Weg, das große Ding zu untersuchen. Aber dann ist alles ein wenig merkwürdig, denn aus dem tiefen, dem tiefsten Krater auf dem Mond kommt Musik: „Eine einfache Melodie, wie man sie vorgespielt bekommt, wenn man noch ganz klein ist und noch nicht allein auf sich aufpassen kann.“ Eine Zaubermusik: „Es war wie das Blinken der Sterne, wenn sie flackernd die Farbe wechselten und man nicht wusste, ob sie geboren wurden oder starben, so weit weg waren sie. Es war wie das genau passende T-Shirt und dazu der Geruch des Spiegeleis, wenn es fast fertig ist. […] Vor allem aber war es wie die Lust auf Rucola. Wenn man so viel Rucola im Maul hatte, wie es nur ging, und wie das dann schmeckte, nach Erde und auch scharf, nach zu viel und gleichzeitig zu wenig. Und dann das Gefühl, dass kurz alles auf einmal ist, und damit glücklich zu sein, so war dieses Lied. Es war schöner und trauriger und größer als alles, was in einem einzigen Ziegenherz Platz hatte“.

Aber erst muss die Ziege ja das große Ding suchen, das bei dem Crash in mehrere Teile zerbrochen ist. Es ist ein Karussell. „Es hatte mehr als tausend Teile, es bestand aus Stangen und Tieren und Rädern. Dazu kam, dass bestimmt die Hälfte der Teile fehlte, und wer hatte schon Lust auf ein Puzzle, das garantiert nie fertig werden würde, egal, wie sehr man sich anstrengte?“ Sie hat dann aber doch Lust dazu bekommen und sammelt langsam die Teile ein und baut das Karussell zusammen. Aber was fehlt, ist dann tatsächlich das Lied. Das Lied, das in dem gefährlichen Krater steckt. Die Ziege aber hat natürlich Angst, hinunterzusteigen. Und dann fällt ihr etwas ein: „Was das Schlimmste ist, wenn man etwas tun muss, vor dem man Angst hat? Sternenklar: Das Schlimmste ist die Angst. Und weil die Ziege eine weise Ziege ist, wusste sie das natürlich.“ Und so macht sie sich trotzdem an den Abstieg in die Gefahr, denn sie weiß plötzlich wieder: „Wenn man vor etwas Angst hat, ist das Allerschlimmste die Angst. Angst aber verschwindet, wenn man einfach mal macht. Also gibt es die Angst nicht wirklich. Sie ist nur das, was man denkt oder sich vorstellt, und hat nichts mit dem zu tun, was wirklich ist.“

Zwei philosophische Bücher

Stefan Beuse und Sophie Greve haben zwei Bücher geschrieben, von denen das erste, Die Ziege auf dem Mond mich wirklich ab und zu an den Zen-Buddhismus erinnert hat, mit seinen abstrusen Geschichten und den seltsamen Charakteren. Das zweite Buch, Der Pinguin sucht das Glück, ist leider ein wenig langweiliger, weil vorhersehbar. Darin geht es darum, dass Geld nicht glücklich macht und Zeithetze und Anpassung einen immer weiter weg vom individuellen Glück bringen.

Warum aber nicht eine Ziege als Zen-Meisterin? Das wäre natürlich viel zu platt, und die Ziegengeschichte erzählt in der Hauptsache auch etwas anderes. Es geht nicht nur um eine glückliche Ziege, die machen kann, was sie will, weil sie die einzige auf dem Mond ist. Sie erzählt auch von der Angst und wie man sie überwindet. Von der Freude am Leben, in dem es keine Zeit gibt außer viertel nach neun. Von den Fischen und Blumen, denen sie jeden Tag neue Namen geben muss, und die eine, einmal heißt sie Leslie Danger Foxtrott, blüht nur für eine Nacht: „Sie verwandelte sich für eine Nacht in die schönste Blume, die man sich überhaupt vorstellen kann – und ärgerte sich ein bisschen, weil niemand sie sah. Aber dann dachte sie, dass es ja auch schon was ist, wenn man selbst weiß, dass man etwas Besonderes ist.“ Es ist ein philosophisches Kinderbuch, das der Frage nachgeht, was man zum Glücklichsein eigentlich wirklich braucht.

Manches ist ein bisschen umständlich und langatmig und auch unnötig, vor allem die Geschichte mit der Teezeremonie, in der man Demut lernt. Aber oft haben Beuse und Greve einen abstrusen Humor, der die Dinge an ihren richtigen Platz rücken, nämlich einen nicht ganz passenden, wo sie dann auf eine schräge Art dann doch wieder passen. Manchmal blitzt ihr Humor auch schelmisch auf. So wenn gefragt wird: „Andererseits hatte man den Titel Unerschrockenste Ziege auf dem ganzen Mond nicht verdient, wenn man sich nicht auch mal was traute. Aber musste es ausgerechnet das Allerallerschlimmste sein?“ Und dann kommt: „DIE KURZE ANTWORT. Ja. Musste es.“

Beuses und Greves Liebe zu den Details macht sich nicht nur sprachlich, sondern auch in den Illustrationen bemerkbar. Da werden die T-Shirts ebenso wie die Blumen, die Schatten und die sternfunkelige Dunkelheit schön aquarellisch ausgemalt und tänzerisch ausgestaltet, das Spiegelei und all die Dinge, die vom Himmel fallen. Schon allein dadurch ergeben sich immer neue Geschichten, die allesamt unerzählt bleiben.

Ganz sicher werden viele diesem Buch Esoterik vorhalten und es für langweilig halten. Aber die haben es eben nicht um viertel nach neun gelesen.

Titelbild

Stefan Beuse / Sophie Greve: Die Ziege auf dem Mond oder das Leben im Augenblick.
Carl Hanser Verlag, München 2018.
66 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783446260504

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Stefan Beuse / Sophie Greve: Der Pinguin sucht das Glück. Von falschen Vorstellungen, passenden Socken und dem richtigen Platz im Leben.
Carl Hanser Verlag, München 2019.
64 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783446264267

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