Herr Krokodil hat Geschmack

Giovanna Zoboli und Mariachiara di Giorgio zeigen in der vor Lebendigkeit strotzenden Bildergeschichte „Krokodrillo“ den etwas anderen Alltag eines Krokodils

Von Susanne MarschallRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Marschall

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sterne glitzern auf dem nachtschwarzen Teich, ein Frosch stürzt sich kopfüber ins dunkle Nass, und er, der Krokodrillo, liegt glückselig mittendrin, von Palmwedeln umkränzt. Mit einem dicken Baumstamm als Kopfkissen, die Arme zufrieden vor der Brust verschränkt, lässt er sich den Mond auf seinen Bauch scheinen.

Dauergrinsend und beseelt schaut er aus seinen kleinen Knopfaugen in die nächtliche Stille und planscht selbstvergessen mit dem rechten Fuß im Wasser. Er schwebt im siebten Himmel, das ist kaum zu übersehen. Vielmehr schwebte, bevor dieser verfluchte Wecker geschrillt hat und er unsanft auf den Boden der Realität geplumpst ist: Zerplatzt ist sein lauschiges Traum-Paradies, übrig geblieben ist nur ein schwarzes Comic-Grumpfel-Gekritzel.

Nicht gerade ein angenehmer Start in den Tag. Mürrisch und etwas neben der Spur schält er sich aus dem Bett, schlüpft in die Pantoffeln, zieht die Vorhänge auf: Was für ein Bilderbuchmorgen. Besänftigt durch die Sonnenstrahlen, die das Zimmer gülden durchfluten, geht er ins Bad, und beim Zähneputzen lächelt ihm dann auch schon wieder sein Spiegelbild fröhlich zu.

Nun aber husch-husch: Schal um, Mantel an, Hut auf. Er hat sich für den weinroten Schal mit den dünnen weißen Linien entschieden, der passt nämlich bestens zur bordeauxroten Krawatte und dem gelben Hemd mit den roten Tupfen – ja, er hat Geschmack. Gefrühstückt hat er natürlich auch: Marmeladenbrot, ein Becher Milch, dazu Gedudel aus dem Radio. Jetzt muss er aber wirklich los – und rums, schon fällt die Tür ins Schloss.

Im Aufzug – ja, er nimmt den Aufzug, obwohl er nur im zweiten Stock wohnt: Er ist eben kein Fitnessapostel, sondern eher der gemütliche Typ, und Morgengymnastik verabscheut er sowieso … Also im Aufzug trifft er einen Nachbarn, und nach einer kurzen Begrüßung starrt jeder in eine andere Richtung: Offensichtlich hat keiner Lust auf frühmorgendliches Geplänkel. Aber da Herr Krokodil höflich ist, lüpft er beim Aussteigen noch mal freundlich seinen Hut.

Was für eine Augenweide: Krokodrillo von Giovanna Zoboli und Mariachiara di Giorgio ist ein wundervolles, ein ganz und gar besonderes und ausgefallen schönes Bilderbuch. Erzählt wird das Alltagsleben eines grünen Krokodils, das so eigen wie originell ist, und wir dürfen es begleiten vom Weckergeschrille bis durch den (ganz normalen) Morgenwahnsinn einer Großstadt. Erzählt in bunten Bildern, die nur so in kaleidoskopischen Details schwelgen, ohne Worte, aber voller Geräusche: Man hört sie förmlich, die eiligen Schritte der gehetzten Städter, die Wortfetzen, die sie atemlos ins Handy plappern, das Heran-Rattern-Quietschen der Straßenbahn, den fröhlich vor sich hin pfeifenden Radler. Das Plitsch-platsch der Pfütze, durch die eine rücksichtslose Autofahrerin fährt und Herrn Krokodil von unten bis oben nassspritzt, sein Toben und Fluchen, das ächzende Summen der vollen Rolltreppe, das Kreischen der bremsenden Metro, Zeitungsgeraschel, Buchgeblätter, Geplauder, knisternde Chipstüten, Krähengekrächze …

Und voller Gerüche: Aus der Konditorei strömt es wohlig süß, aber es sind die Duftschwaden gegrillter Hähnchen aus der Metzgerei von nebenan, die Herrn Krokodil verführen – und schon trägt er sein wohlriechendes Mittagessen die Straße entlang. Mit dem Veilchenstrauß, den er bei der Blumenfrau am Eck gekauft hat für das Mädchen, das verzückt daran riecht. Und dem Mief der Großstadt mit Autogestank, Putzmittelgeätze, Parfüm, Zigaretten, Schweiß …

Außerdem voller filigraner und tierischer Überraschungen wie diese: Die Bahn ist noch nicht da, aber vor dem Zirkusplakat will Herr Krokodil nicht warten: Mit zusammengekniffenen Brauen wendet er sich empört von dem übertrieben grinsenden Clown ab, dem fauchenden Tiger, dem Peitsche schwingenden Dompteur – nein, das kann er nicht gutheißen … oder jene: In der vollgestopften Metro sieht man Große und Kleine, Alte und Junge, Plaudernde, Gähnende, Schlafende, Fröhliche und Griesgrämige. Und ein dickes Nilpferd in grünem Kleid und orangefarbenem Mantel mit bunten Tupfen, eine Giraffe mit modisch rot geränderter Brille und kilometerlangem Schal um den Hals und einen lesenden Affen mit Segelohren und Mütze. Aber all das interessiert unser Krokodil nicht – das ist sein Alltag: Vertieft in die Zeitung, verpasst es sogar schier seine Haltestelle.

Die leuchtend farbigen, vor Lebendigkeit strotzenden Panels wirken, als wären absichtslos schweifende Blicke eingefangen worden. Zufällige Schnappschüsse aus den verschiedensten Perspektiven buntgestiftet, aquarelliert, pastellkreidisiert: Kleine Ausschnitte von schräg unten oder oben, rechts oder links. Mal ist ein Kopf abgeschnitten, die Beine fehlen, oder man sieht nur den Oberkörper. Manchmal bebildern sie eine ganze querformatige Seite aus dem Vogelflug oder frontal von vorne, sind wie Momentaufnahmen oder szenische Erzählungen. Krokodrillo lädt ein zum Lustwandeln in bunter Bildesfülle, und es ist weit mehr als ein Bilderbuch: Es ist ein fein- und hintersinniges Gesamtkunstwerk mit einem halb erwarteten, halb überraschenden Ende.

Titelbild

Mariachiara di Giorgio / Giovanna Zoboli: Krokodrillo. Eine Geschichte ohne Worte.
BOHEM PRESS, Münster 2017.
32 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783959390569

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