Er ist einfach zu halsig

Jory John erzählt humorvoll von den Hälsen einer Giraffe und einer Schildkröte

Von Susanne MarschallRSS-Newsfeed neuer Artikel von Susanne Marschall

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Roberta ist unglücklich. Nein, schlimmer noch: Sie ist am Boden zerstört. Völlig verzweifelt. Schuld ist einzig und allein ihr blöder Hals. Dieses ewig lange Ungetüm, das kaum auf eine Buchseite passt. „Mein Hals macht mich fertig. Ehrlich. Ich kann nichts dagegen tun.“ Dabei ist er so anmutig und grazil und wendig gelenkig. Und so originell gemustert: schokoladenbraune, leicht fransige Flecken, hauchgrün gestreift und geädert, auf zartgelbem Untergrund – wirklich sehr apart.

Aber Roberta ist da vollkommen anderer Meinung, sie findet ihren Giraffenhals einfach nur abscheulich – und zwar alles an ihm, nicht nur die enorme Länge: Er ist „zu biegsam“, „zu scheckig“, „zu streckig“, „zu erhoben“, „zu erhaben“. „Zu … halsig – genau, mein Hals ist zu halsig.“ Und sie ist fest davon überzeugt, dass ihn alle abfällig angaffen: Das Wildschwein mit seiner violetten Punkfrisur, das vielzahnige Krokodil, die blaugehörnte Antilope. Die Ameisen, die sich zu einem etwas wackeligen, aber sehr akrobatischen Ameisenturm aufeinanderstapeln, nur um auch einen abschätzigen Blick auf ihren unglaublich langen Hals zu werfen – das glaubt zumindest Roberta.

„Ich habs schon mit Aufhübschen versucht. Erst ein Schal. Dann noch einer. Zuletzt jede Menge Schals. Ganze Gebirge aus Schals.“ Dann hat sie sich Fliegen umgebunden, Krawatten, aber gemerkt, dass ein dekorierter Hals noch mehr auffällt. Also verstecken: hinter Büschen, Bäumen, in Gräben. Selbst in den Fluss hat sich Roberta gestellt zu den anderen bizarren Felsen: Da ist sie kaum aufgefallen, aber eine Giraffe ist eben kein Flusspferd.

„Andere Tiere haben Hälse, die einfach … funktionieren“, jammert Roberta. Sie bewundert den Hals des Zebras – „Streifen sehen immer toll aus. Irgendwie klassisch“ – den dicken des Elefanten – „kräftig, mächtig, und dabei doch anmutig“ und den „prachtvollen, von Stolzesmähne umflorten Hals“ des Löwen. Ihren kann sie aber nicht ausstehen, auch wenn ihre Mutter immer sagte, dass sie stolz auf ihren Hals sein solle, „andere Tiere würden sonst was für so einen Hals geben.“ Da kann Roberta nur müde lächeln: „So einen Hals kann nur eine Mutter lieben“. Und schmiegt ihn schwermütig über einen Stein.

Aber dann bekommt der Stein plötzlich Füße und einen Kopf: Henry hatte sich in sein Schildkrötenhaus zurückgezogen, und da es keine Tür hat, alles haarklein mitbekommen. Sofort schmettert er eine Lobeshymne auf Robertas Hals: „Oh, wie sehr ich mir wünschte, einen Hals wie deinen zu haben!“ Hat Robertas Mutter vielleicht doch Recht? Henry hat nämlich das gleiche Problem wie Roberta, nur andersherum: Sein Hals ist zu kurz geraten, und so sehr er sich beim Strecken auch abmüht – er wird nicht länger: „Erbärmlich, oder? Ich bin so gut wie halslos.“ Dann malt er sich und Roberta aus, was er mit so einem bezaubernd langen Giraffenhals alles tun könnte. „An was ich rankäme und dran käme, was ich alles sehen könnte!“ Vor allem könnte er die heißersehnte Banane pflücken…

Vergnügen pur mit Tiefgang: „Roberta & Henry“ ist ein wundervolles Bilderbuch, das mit augenzwinkerndem Charme eine ernsthafte Geschichte erzählt. Eine reale, mitten aus dem Leben gegriffene, die wohl jeder kennt. Nämlich, dass man sich mit anderen vergleicht, dabei aber immer schlechter abschneidet, weil sie schöner sind, klüger, beliebter, erfolgreicher – meint man. Und je mehr man sich hineinsteigert, desto kleiner fühlt man sich. Nutzloser. Minderwertiger. Wie Roberta…

Meisterhaft spielt Jory John mit der Sprache, lässt seine sparsam gesetzten Worte, die treffender kaum sein könnten, melodisch schwingen. (Herzlichen Dank an Andreas Steinhöfel für die wunderbare, bunte und bildhafte Übersetzung.) Bringt ihre Staccati zum farbigen Klingen und spickt sie mit geistreichem Wortwitz. Unterbricht den Rhythmus gekonnt, als er Henry wortgewaltig und schier atemlos von seinem Bananen-Dilemma erzählen lässt. Eine Doppelseite bekommt Henry für seinen Lamento-Monolog: Die Schrift ist groß, wie seine Not, darunter steht er, sechs Mal hintereinander wild gestikulierend und augenrollend, als würde er eine Szene auf der Bühne spielen. Man meint ihn zu hören, zu sehen. Fühlt mit ihm…

Kongenial sind die Bilder von Lane Smith, verspielt, detailliert und fein ziseliert in ihrer anmutigen Einfachheit. Sie illustrieren nicht nur den Text, sondern ergänzen und erweitern liebevoll verschmitzt die Geschichte, plaudern und erzählen, machen die Protagonisten lebendig und greifbar. Und Robertas langer Hals schlängelt sich über die Seiten, mal als Comic-Strip, dann großformatig oder abgeschnitten. Mal vor Schwermut gekurvt, mal erstaunt geschwungen und dann, dank Henrys Freundschaft, stolz und glücklich in die Höhe gestreckt. Ja, es gibt natürlich ein Happy-End – ein ganz arg süßes…

Titelbild

Jory John / Lane Smith: Roberta & Henry.
Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Steinhöfel.
Carlsen Verlag, Hamburg 2019.
30 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783551519443

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch