Der Berliner Filmwissenschaftler Andreas Jacke hat eine neue Interpretation des Werkes von Rainer Werner Fassbinder vorgelegt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Rainer Werner Fassbinders Werk beunruhigt noch immer so sehr, dass es in Deutschland nicht hinreichend gewürdigt werden kann. Das Enfant terrible des Neuen Deutschen Film soll wohl besser vergessen werden. Es gibt kein Denkmal, keine Straße, die nach ihm benannt ist, obwohl Fassbinder der wichtigste deutsche Nachkriegsfilmregisseur war, einer der wenigen hierzulande, die überhaupt in der Lage waren, eine anspruchsvolle, eigene Filmsprache zu entwerfen, eine Filmsprache, die dann weltweit Anklang fand.

Andreas Jackes Studie sucht nach den Gründen für diese weitgehende Auslöschung, diese fehlende Huldigung. Sie formuliert einen neuen Ansatz, indem das Werk eng mit der Biografie verbunden wird. Fassbinder ist schwer handhabbar. Versuchten frühere Exegeten, der biografischen Ebene systematisch aus dem Weg zu gehen, so ist doch offensichtlich, dass sie es ist, die eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Regisseur hierzulande wirklich verhindert. Skandalumwogen, drogenabhängig und hochgradig gefährdet war Fassbinder zu Lebzeiten. Seine enorme Produktivität wurde oft mythologisiert. In Jackes Studie geht es nun darum, jenseits von reiner Bewunderung oder bürgerlicher Ablehnung darzustellen, dass dieser Regisseur erst wieder breit gefächerter rezipierbar wird, wenn man seine persönlichen Defizite ernsthaft sieht und auch benennt. Das Unbehagen gegenüber diesem Regisseur ist berechtigt, gleichzeitig verhindert es, dass seine Qualitäten hinreichend gewürdigt werden.

Die Studie ist breit angelegt und hält sich lange auf einer filmwissenschaftlichen Ebene in Fassbinders bevorzugtem Genre, dem Melodram, auf. Im zweiten Teil folgt eine detaillierte psychoanalytisch-biografische Interpretation. Sie soll eine eigenständige und neue Lesart vieler Filme vorführen und zeigt Fassbinders durchaus schwieriges Verhältnis zu seinen Mitmenschen auf. So hat einerseits kaum ein deutscher Regisseur dermaßen erfolgreich und geschickt rassistische Themen bearbeitet, andererseits ist Fassbinder sehr leichtsinnig in seinem Theaterstück Die Stadt, der Müll und der Tod mit dem Antisemitismus umgegangen. Heute muss es darum gehen, diesen Fehler einzugestehen und sich das Stück nochmals anzusehen. Es bleibt, trotz aller Kritik, viel zu sehen übrig. Diese Studie möchte zu einer solchen ausgewogeneren Sichtweise beitragen.

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Titelbild

Andreas Jacke: Das Melodram, die Sucht und die Liebe. Rainer Werner Fassbinder. Sein Œuvre aus einer neuen filmwissenschaftlichen und psychoanalytischen Perspektive.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
253 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783826068133

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