Fluch und Segen der Unendlichkeit

Tristan Garcia beschreibt in „Das Siebte“ die Schwierigkeit, mit einem über mehrere hundert Jahre angehäuften Wissen ein Leben sinnvoll zu bestreiten

Von Christine EickenboomRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Eickenboom

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als der Ich-Erzähler sieben Jahre alt geworden ist, lernt er François (Fran) kennen und ahnt nicht, dass dieser nun für mehrere hundert Jahre sein Begleiter sein wird. Zwar klärt der ihn bereits bei diesem ersten Zusammentreffen darüber auf, dass er unsterblich ist, im ersten Leben bleiben aber bis zum Ende die Zweifel an der Richtigkeit dieser doch alles andere als einfach zu verdauenden Nachricht.

Alles beginnt damit, dass der Erzähler als Kind aus der Nase blutet, und zwar nicht wie ein gewöhnlicher Siebenjähriger, sondern wie einer, der diese Blutung nicht überleben wird. Überraschenderweise übersteht er aber nicht nur dieses Ereignis, sondern auch sechs Tode. Die sieben Leben unterscheiden sich spätestens ab dem Eintritt in das Erwachsenenalter in Erlebnissen, Entwicklungen und Einflussnahmen. Nur die Figuren, die den Erzähler begleiten, kehren in jedem Leben wieder.

Beim ersten Mal entscheidet er sich für ein Leben in der Sicherheit der öffentlichen Verwaltung. Er heiratet seine große Liebe Hardy, bekommt zwei Kinder mit ihr und lebt mit seiner Familie in einem kleinen Häuschen mit Garten. Hardy, die zeitlebens mit ihrem wegen der Familiengründung abgebrochenen Studium hadert, bekommt schließlich Krebs und lässt den Erzähler viel zu früh allein zurück. Im zweiten Leben stellt sich die Frage nach der Richtigkeit von Frans Angaben nicht mehr, was vieles leichter macht, dafür aber die Frage nach dem Wie und Warum aufwirft. Der Erzähler wird zum besessenen Wissenschaftler, der das Geheimnis seiner Wiedergeburt ergründet – als Singularität in Folge einer genetischen Mutation. Dabei macht er die erstaunliche Erfahrung, dass man nicht zwingend glücklicher wird, wenn man die Chance hat, all das anders zu machen, was einen im ersten Leben gestört hat. Im Unterschied zu Und täglich grüßt das Murmeltier ist es außerdem nicht so, dass alles sich zwingend wiederholt: Hardy bekommt im zweiten Leben keinen Krebs, hat Kinder mit einem anderen Mann, und auch Fran lebt ein völlig anderes Leben.

Im dritten Leben wird der Erzähler politischer Aktivist und Anführer einer Art Kommune, der sein Leben durch Suizid beendet, im vierten dank seines angehäuften Wissens ein von vielen verehrter Heilsbringer und im fünften lebt er jede Form von Verlangen und Bedürfnisbefriedigung aus, weswegen ihn im sechsten das schlechte Gewissen plagt. Hier macht er irgendwie den Fehler, die Geister der Vergangenheit zu wecken, die ihm seine Unsterblichkeit plötzlich und völlig unerwartet wegnehmen. Während er sich in den anderen Leben immer mal wieder danach sehnte, einfach sterben zu können, empfindet er die veränderte Situation in seinem siebten Leben als vollkommen ungerecht und kann sich  nur sehr schwer mit ihr abfinden.

Jedes Mal, wenn er geboren wird, bringt er das Wissen und die Erfahrungen aus den vorherigen Leben mit. Schon als Kleinkind weiß er mehr, als die ihn umgebenden Erwachsenen, und das Heranwachsen ist von zunehmender Frustration über die für ihn so unbefriedigende Situation geprägt, die sich erst ändert, wenn es ihm erlaubt ist, selbstbestimmt zu leben. Dabei sind die unterschiedlichen Lebenssituationen mit ihren jeweiligen Wissensgebieten keinesfalls nur oberflächlich beschrieben. Der Leser folgt dem Erzähler in die Tiefen der biophysischen Forschung wie auch in die zu politischem Aktivismus führenden Gedanken zur Lage der französischen Nation. Letztendlich führen aber weder diese, noch die Annäherungen an das Leben aus einer Art religiöser oder auch zutiefst sinnlicher Position heraus dazu, ein höheres Maß an Glück oder Zufriedenheit zu erreichen. Diese Erkenntnis kommt nicht als Plattitüde daher. Es gelingt Garcia, in jedem Leben den/die Leser*in miterleben zu lassen, wie der Erzähler schließlich zu dem Schluss kommt, dass sein Streben nach nachhaltigem Einfluss und damit Sinn sich nicht erfüllt hat.

Die Kunst dieses Romans liegt darin, dass tatsächlich jede einzelne Daseinsform in dem zu ihr passenden Ton beschrieben wird und daher überzeugend wirkt: der Wissenschaftler grübelt erkennbar über die Möglichkeiten zur Veränderung des scheinbar vorgegeben Schicksals, der Aktivist ist spürbar wütend insbesondere über die sozialen Gegebenheiten, der Genussmensch verschwendet sich in rauschartigen Zuständen, die er bis ins kleinste Detail beschreiben kann. Der/die Leser*in erlebt, wie der Angebetete sich wie Gott fühlt und der Erkennende völlig an der Unabänderlichkeit des Schicksals resigniert. Immer ist das Empfinden nachvollziehbar, das dieses neue Leben im Erzähler auslöst, ohne dass es zu Wiederholungen kommt. Wir sind Zeuge von Freude und Resignation in der ewig wiederkehrenden Liebe zu Hardy, die erstaunlicherweise mit zunehmender Kenntnis des Anderen schwieriger statt einfacher zu werden scheint. Selbst Genervtheit gegenüber Fran wie auch das Auf-diesen-angewiesen-sein sind Entwicklungen, die im jeweils passenden Erzählton und -tempo dargeboten werden und die in der Übersetzung nicht verloren gehen.

Das Siebte ist ein gelungenes Spiel mit den Möglichkeiten, die das Leben bieten kann. Gleichzeitig entlastet der Roman jene, die mit der allbekannten Frage, was man ändern würde, wenn man nochmal von vorn anfangen könnte, hadern: Da allen anderen diese Möglichkeit auch gegeben wäre, lassen sich die Folgen der eigenen Änderung nicht kalkulieren, so die Kernaussage. Das Leben ist und bleibt für den Einzelnen unvorhersehbar. Am Ende kommt es dann aber doch noch zu einer Überraschung für den Erzähler und die Leser*innen – vielleicht ein Zeichen, dass der Versuch nach Veränderung trotz allem nicht aufgegeben werden sollte.

Titelbild

Tristan Garcia: Das Siebte. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Birgit Leib.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019.
296 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783803133151

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