Das Böse lauert überall, das Gute aber auch

Paulus Hochgatterer hat mit „Fliege fort, fliege fort“ erneut einen großen Roman geschrieben

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Du hast alles falsch gesagt“, sagte er. Das war damals, als sie dem Jungen nachgelaufen war, ihn eingefangen und ins Heim zurückgebracht hat. Als der Direktor dem Jungen ins Gesicht geschlagen und gesagt hat: „Weglaufen wird hier unter keinen Umständen geduldet“. Und dann noch: „Erstens die Glatze, zweitens der Einzug in Jerusalem.“ So beginnt der neue Roman von Paulus Hochgatterer, und wir wollen uns jetzt nicht mit Definitionen über Kriminalroman und Mehr-als-Kriminalroman aufhalten. Schubladen sind für Menschen, die in Schubladen denken möchten. Hochgatterers Romane sind grandiose Literatur, soviel ist sicher.

Jetzt ist jedenfalls schon wieder was passiert. Denn das Damals ist noch lange nicht vorbei, es ist immer noch da. In Furth am See, in dem der Kinderpsychiater Raffael Horn, der Kommissar Ludwig Kovacs und der Benediktinerpater Joseph Bauer leben. Wir kennen sie aus den Romanen Die Süße des Lebens und Das Matratzenhaus. Raffael lebt mit der Cellistin Irene zusammen und trifft eines Morgens seinen Sohn Tobias mit einer Axt vor der Scheune: „Was hast du vor“, fragt er. „Ein paar Leute erschlagen“, antwortet sein Sohn, „das macht man doch im Morgengrauen.“ Dann fragt Tobias nach einer Kettensäge und Katzenfutter. Die Kettensäge braucht er für seine Kunst, das erfährt man später, das mit dem Katzenfutter wird man wohl überlesen, aber es taucht dann an einer wichtigen Stelle wieder auf. Details sind wichtig. Bei Hochgatterer sowieso. Horn schaut sich seine von der Säge ölverschmierten Hände an: „Es geht nichts über Kinder, dachte er, man rackert sich für sie ab, man sorgt sich, man macht sich dreckig, und zum Dank dafür reden sie erst monatelang nichts mit einem und dann fragen sie nach Kettensägen und Katzenfutter.“

Horn arbeitet in der Psychiatrie und ist selbst nicht ganz dicht, ganz wörtlich: Ab und zu entfleuchen ihm seine Gedanken und er spricht aus, was er nur zu denken meint, was für den Leser witzig ist, für Horn und seine Mitarbeiter weniger:

Lukas Zimmel saß schräg vis-à-vis und blätterte nervös in seinem Notizblock. Dann versuchte er seine Brille zu putzen. Mit solchen Fingern wird das nicht funktionieren, dachte Horn. Christina, die rechts neben ihm saß, trat gegen seinen Köchel. „Au! Was ist?“, fragte er. „So etwas sagt man nicht!“, zischte sie.
„Was?“
„Über die Finger von jemandem.“
„Hab ich schon wieder…?“
„Ja, hast du“, flüsterte sie. Beinah drei Jahre lang hatte er Ruhe gehabt; in letzter Zeit war es wieder da.

Erzählt wird die normale Routine eines psychiatrischen Krankenhauses. Ein 14-jähriges Mädchen wird aufgenommen, die Mutter war mitgekommen, was eigentlich nicht geht. Dann bittet die Unfallabteilung um Rat: Ein alter Mann ist eingeliefert worden, der behauptet, vom Apfelbaum gefallen zu sein, aber die Verletzungen passen nicht zu seiner Erzählung, die Verletzungen sehen so aus, als stammten sie von einer Schlägerei. Der Alte bleibt aber bei seiner Version: Beim Nachschneiden des Baums sei es geschehen.

Dann ist noch etwas passiert. An der Wand eines Hauses ist über Nacht ein großes Wandgemälde aufgesprüht worden: rechts von unten die Hagia Sophia, darüber die Inschrift „Gott ist grohs“, links ein Porträt des amerikanischen Schauspielers Jamie Foxx, über ihm der Satz „Wir sind alle Neger.“ Die Untersuchungen von Kovacs und seinen Polizisten führen zu nichts, obwohl der einflussreiche Besitzer des Hauses, ein stadt- und landbekannter Politiker und Bauunternehmer, tobt und seinen Einfluss spielen lässt. Eine Zeugin gibt es auch, eine alte Dame in einem falunroten Haus, die frühmorgens mit ihrem Hund spazierengeht und zwei Männer beim Sprühen gesehen hat, sie hat gegrüßt und ist weitergegangen, das Bild hat ihr gefallen.

Dann wird ein Mädchen entführt. Aber es ist keine „richtige Entführung“, denn der Entführer verlangt kein Lösegeld. Es ist „für die anderen“, sagt er. Er sperrt Elvira ein, verlangt von ihr, dass sie ein Gedicht auswendig lernt, versorgt sie mit Essen und bringt ihr sogar, damit sie ein wenig Bewegung hat, ein Tretrad. Aber er erzählt ihr Geschichten von damals, vom Heim. Geschichten, die immer brutaler werden, von der Misshandlung durch den Direktor, seinem Gehilfen, den Nonnen.

Dann kommt eine 91-jährige Nonne auf die Intensivstation, weil sie fast erstickt wäre. Sie hat Teile ihres Mageninhalts eingeatmet. Sie hat solche Angst, als bedrohe sie der Teufel höchstpersönlich. Als eine Ärztin sie beruhigt, sagt sie immer wieder diesen einen Satz: „Ich hab genug. Ich hab genug. Ich hab genug.“ Etwas später berichtet eine Polizistin, dass die Ehefrau des Manns, der vom Baum gefallen war, ständig gesagt habe: „Ich will die Decke nicht, ich will die Decke nicht.“

Und noch einen Erzählstrang gibt es: In der Stadt gibt es das „Come In“, eine Art Jugendzentrum, wo aus der Welt gefallene Jugendliche sich aufhalten können, kickern, flippern oder rumhängen. Betreut werden Kaiser Max, Fritz the Cat, der Dicke, Malik und die anderen von Regina und dem Priester Joseph Bauer, der mit Reginas Schwester Stella zusammenlebt. Kaiser Max ist still und zurückgezogen, intellektuell, aus gutem Haus – was er im „Come In“ will, weiß man nicht so genau. Fritz the Cat, die eigentlich Friederike heißt, ist „genderqueer, Subtyp drei b, rapid cycling, was bedeute, alle paar Wochen wechsle ihre Geschlechtsidentität, manchmal noch rascher.“ Malik wirkt auf Regina „wie die personifizierte Selbstkontrolle, hat aber zu Hause vielleicht doch eine Kalaschnikow im Schrank.“ Der Dicke ist vor allem dick, Fritz the Cat liebt ihn. Sie alle sind in die Ereignisse verstrickt, auf die eine oder andere Weise. Kovacs und Horn ermitteln von zwei verschiedenen Seiten an denselben Fällen, ohne es zu wissen, und sie begegnen sich kein einziges Mal.

Das Besondere an diesem Roman ist erneut die Beschreibung der Charaktere und der Atmosphäre. Aus verschiedenen Perspektiven wird erzählt, mal aus Horns, mal aus Reginas, die von ihrer Arbeit im „Come In“ erzählt. Von dem seltsamen Priester, der mit ihrer Schwester schläft und bei der Messe oder Beichte auch schon mal Bob Dylan oder Leonard Cohen über den Kopfhörer hört. Von den Interaktionen zwischen ihren Schützlingen und zwischen ihnen und der Außenwelt. Von ihrer Schwester auch, die ihr mal ihre Narben gezeigt hat. Dann auch aus Kovacs’ Sicht, der in sein Stammlokal geht, wo ihm die Besitzerin Szarah unverlangt Essen hinstellt und ihn darauf aufmerksam macht, dass sein Herz unregelmäßig schlägt: „Kurz, kurz, kurz, lang – wie bei Beethoven.“ Wo er Mitglieder des rechtsradikalen „Sicherheitsdiensts“ des Flüchtlingsheims kennenlernt, mit dem sinnigen Namen „Aktion 18“ (1 wie A und 8 wie H – falls es jemand nicht weiß). Perfiderweise wird die Entführung des Mädchens als Ich-Erzählung wiedergegeben, so grausig und beklemmend war die Identifizierung des Lesers selten.

Immer wieder passiert etwas: Auf der Fronleichnamsprozession gibt es ein Attentat mit der Steinschleuder auf einen Mann vom „Sicherheitsdienst“, die Polizei überfällt das „Come In“, das Auto des Politikers brennt, ein Messer verschwindet und taucht wieder auf, ein weiterer alter Mann wird halb skalpiert, Kovacs geht endlich zum Arzt, weil seine Tochter ihm einen Termin aufgedrückt hat, und am Schluss fährt Tobias nach Holland und nach Karlsruhe, weil ein dortiger Kunstprofessor von seinem Video des brennenden Autos angetan ist.

Fliege fort, fliege fort hat viele Facetten: Die Sprache ist atmosphärisch dicht, in den Gedanken und dem Nachsinnen der Hauptpersonen liegt auch einiges an Melancholie und innerer Ruhe, die Dialoge sind pointiert und manchmal spitz, und die Handlung, die in die Vergangenheit führt, ist berührend und beängstigend: Am Schluss stellt sich heraus, dass Elvira „den Siegelring“, eine der besonders brutalen Bestrafungsmethoden des Direktors, auch kennt. All das wird oft nur so eben angedeutet, schnell ist es überlesen, die Narben, das Katzenfutter, der Siegelring… Große Literatur muss eben nicht deutlich sein.

Hochgatterers Roman ist die Geschichte einer besonders ausgefeilten Rache an Verbrechen in der Vergangenheit, weil die Strafe jeweils den Verbrechen angemessen ist. Er ist aber auch eine psychosoziale und verstörend genaue Gesellschaftsanalyse, die zeigt, wie Angst, Hass und Wut in Menschen eingepflanzt wird. Zum Glück lässt er vieles offen: Billige, einfache Antworten sind nicht Hochgatterers Fall. Viel lieber erzählt er Geschichten, in denen sich Privates und Berufliches vermischen, zeigt, dass die Welt nicht heil ist, dass sich aber in ihr dennoch leben lässt. Dass sich vieles auch nicht auflösen lässt, auch die privaten Probleme nicht. Das Böse lauert eben überall, das Gute aber auch.

Titelbild

Paulus Hochgatterer: Fliege fort, fliege fort. Roman.
Deuticke Verlag, Wien 2019.
286 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783552064034

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