Ein Handbuch zu „Effi Briest“ weist auf die literarhistorische Stellung des Romans und zeigt die Vielschichtigkeit der Deutungsmöglichkeiten und -ansätze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Eine Romanbibliothek der rigorosesten Auswahl, und beschränkte man sie auf ein Dutzend Bände, auf zehn, auf sechs, – sie dürfte ‚Effi Briest‘ nicht vermissen lassen.“ Dieses hohe Lob spendete 1919, also vor rund 100 Jahren und 100 Jahre nach Fontanes Geburt, kein Geringerer als Thomas Mann. Effi Briest ist für ihn das prototypische Beispiel für das Beste, das nur die Kunst zu schaffen vermag: „Heißt es nicht, kein Gebilde aus Menschenhand sei vollkommen? Und doch, so sehr man gestimmt sein mag, der Menschheit Bescheidenheit anzuraten, – der Satz ist falsch, es gibt das Vollkommene, als Künstler bringt der Mensch es träumerisch zuweilen hervor. Das sind seltenste Glücksfälle“. Wenn Thomas Mann mit der Formulierung „Gebilde aus Menschenhand“ Fontanes Ballade Die Brück am Tay zitiert (und dabei ins Positive umwertet), gibt er seinem Urteil nur noch mehr Gewicht.

Das Interesse nicht nur an Effi Briest ist nach wie vor ungebrochen. Dass der Roman (wieder) vielfach Schullektüre ist, dürfte die Auseinandersetzung mit ihm immer wieder neu befeuern. Auch der Frage, weshalb ausgerechnet der 1895 und nach einer lebensbedrohlichen Krise des alten Fontane veröffentlichte Roman Effi Briest zu einem der erfolgreichsten Werke deutscher Sprache werden sollte, bemüht sich das vorliegende Handbuch nachzugehen. Die Neuheit dieses Romans lässt sich beispielsweise mit einem vertieften Blick in die Literatur- und Sozialgeschichte zeigen. Die Handlung selber bezieht sich auf eine zeitgenössische ‚reale‘ Affäre; allerdings hat das Vorbild für die Figur Effi Briest, Elisabeth von Ardenne, noch bis 1952 gelebt. Die „Berliner Skandalgeschichte“ ist Fontane „von Emma Lessing, der Frau des Eigentümers der Vossischen Zeitung“, erzählt worden. Fontane ist nicht der einzige, der aus dieser Geschichte literarisches Kapital geschlagen hat, allerdings ist der ebenfalls auf der Ardenne-Affäre basierende, 1897 erschienene Roman Zum Zeitvertreib des Schriftstellerkollegen Friedrich Spielhagen heute eigentlich nur noch bekannt, weil es auch Effi Briest gibt. Fontane war ein belesener und gebildeter Autor und Effi Briest zitiert indirekt oder direkt zahlreiche Autoren und Werke. Anspielungen wie auf Balladen Heinrich Heines sind aber stets in den symbolischen Verweisungszusammenhang des Romans eingebettet und erfüllen dort eine – neue – Funktion.

Fontanes Effi Briest scheint viele Leserschichten anzusprechen, von jenen, die sich für die Liebesgeschichte oder das Zeitkolorit interessieren und sich vor allem mit der Figur Effi identifizieren, bis hin zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die ihn auf ganz unterschiedliche Weise interpretieren: als Zeitroman, als Bildungs- oder Antibildungsroman, als politischen Roman oder gar als „kulturhistorisches Dokument“ (Gordon Craig) von mit Daten und Fakten nicht beschreib- und erklärbaren gesellschaftlichen Dispositionen und davon abhängigen menschlichen Gefühlslagen.

Dass die Offenheit und somit Anschlussfähigkeit des Romans für Deutungen auch viele Spekulationen und Indienstnahmen für ganz besondere eigene Interpretationen zur Folge hat, wird dabei immer wieder deutlich. Zu den populären Fehleinschätzungen gehört die Auffassung, der Erzähler spiele keine wichtige Rolle. Klaus Müller-Salget wird zu Anfang seiner Figurenanalyse im Handbuch genauer darauf hinweisen, dass und weshalb dem nicht so ist. Ohnehin funktioniert die Gleichsetzung von allwissendem Erzähler und Trivialität des Erzählens nur bedingt, wenn man beispielsweise bedenkt, dass auch Kafka einen allwissenden Erzähler verwendet. Nicht nur das Zurücktreten hinter die Figuren, auch die – bei Fontane wie bei Kafka – deutliche Kommentierung durch den Erzähler, die allerdings nun nicht mehr in einen auf den ersten Blick sinnhaften Deutungszusammenhang eingebunden ist (wenn sie nicht sogar gegen solche Deutungen arbeitet), verdient Beachtung.

Die Modernität des Romans zu begründen braucht es wohl noch mehr als dieses Handbuch, aber es sollte eine gute Grundlage für jede weitergehende Beschäftigung mit ihm sein. Es bilanziert nicht nur die bisherige Forschung zum Roman, sondern bestimmt auch seinen (literar-)historischen Ort näher und lotet auf Grundlage der literatur- wie kulturwissenschaftlichen Theoriebildung die Deutungspotenziale aus, die ihn für eine heutige, in Alter und sozialer Stellung breit gestreute Leserschaft weiterhin so attraktiv machen.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert nicht die Bücher, an deren Veröffentlichung regelmäßige Mitarbeiter der Zeitschrift, Angehörige der eigenen Universität oder Autoren aus dem Verlag LiteraturWissenschaft.de beteiligt waren. Diese Bücher können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Titelbild

Stefan Neuhaus (Hg.): Effi Briest-Handbuch.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2019.
330 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-13: 9783476048738

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