Zwischen Wahrheit und Welt

Stefanie de Velasco erzählt in „Kein Teil der Welt“ vom Aufwachsen in einer Familie von Zeugen Jehovas

Von Anna StemmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Stemmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Esther wächst in der Wahrheit auf, so nennen die Zeugen Jehovas ihr gemeinschaftliches Miteinander, während alle anderen Nichtgläubigen in der sogenannten Welt leben. Diese Diskrepanz, die mit großen Divergenzen im täglichen Miteinander einhergeht – bis hin zu strengen Regeln für Kleidung und Verhalten –, markiert den zentralen Reibungspunkt für die jugendliche Protagonistin Esther in Stefanie de Velascos Roman Kein Teil der Welt. Dass das Mädchen eben kein Teil der Welt ist, wie sie damit hadert und wie sie im beklemmenden Gefüge der Zeugen Jehovas aufwächst, zeichnet der Roman in ruhigen Tönen nach.

Aus Esthers Mitsicht, in der ersten Person Singular erzählt, zeigt der Text eine Sicht auf die Welt, die sukzessive Risse bekommt. Denn Esther ist keine klassische Rebellin, die sich unmittelbar auflehnt, gegen starre Regeln aufbegehrt und ihre Eltern konfrontiert. Esthers Veränderungsprozess ist kleinschrittiger, langsamer und ambivalenter. Angestoßen wird sie, als ihre beste Freundin Sulamith, die ebenfalls als Zeugin Jehovas aufwächst, anfängt das System zu hinterfragen. Sulamith ist die treibende Kraft für Veränderung und fungiert als Referenzparameter für Esther. An Sulamiths Begehren und Aufbegehren gleicht Esther immer wieder ihre eigenen Sehnsüchte ab und entwickelt einen differenzierten Blick auf ihr Dasein in der Glaubensgemeinschaft. Ist sie zunächst noch befremdet, als Sulamith sich heimlich aus dem Haus schleicht, ihre Mutter belügt, zu Partys geht und einen Freund hat, entwickelt sie sukzessive eine eigene Sehnsucht nach einem Leben außerhalb der Wahrheit.

Der Roman erzählt auf zwei Zeitebenen, zwischen denen immer wieder hin und hergewechselt wird und die sich im Verlauf immer enger miteinander verzahnen. Einschneidender Moment und narrativer Knotenpunkt der Konstruktion ist der endgültige Weggang Sulamiths aus der Glaubensgemeinschaft: Erzählt wird von der Zeit davor und der Zeit danach, wobei anfangs viele Leerstellen bleiben und nur Andeutungen eingestreut sind. Lange bleibt offen, was genau mit Sulamith geschehen ist, aber dass ihre Geschichte keinen positiven Ausgang findet deutet sich immer wieder in Details an. Der Vorfall, der sich um ihre Abwesenheit entspinnt, sorgt auch für den Umzug der Familie. Die Familien von Esther und Sulamith lebten lange gemeinsam in dem rheinländischen Ort Geisrath, bis Esthers Eltern unvermittelt in den Osten nach Peterswalde, in die alte Heimat des Vaters, ziehen. Erst nach und nach setzen sich die erzählerischen Versatzstücke zusammen und man erfährt die Gründe für den plötzlichen Umzug. In der Hoffnung, ihre Tochter zurück in die Wahrheit zu holen, wechseln sie ihren Lebensort in die ostdeutsche Provinz. Dort versuchen die Eltern im fast missionarischen Dienst außerdem neue Glaubensmitglieder zu finden.

Angesiedelt ist die Geschichte in den 1990er Jahren, was einen interessanten zeithistorischen Rahmen hinzufügt, der darüber hinausgehend nicht zufällig die eigene Lebensgeschichte der Autorin fiktionalisiert. Kurze Zeit nach dem Mauerfall wirkt die Familie mit ihrer Glaubensüberzeugung wie ein weiterer Fremdkörper in einem Landstrich, der wie verödet ist. Auf geschickte Art und Weise verschränkt der Roman so die Geschichten beider Teenager, ihrer Familien und der deutschen Gesellschaft miteinander. Als Archiv der 90er Jahre ist der Text außerdem angereichert mit diversen Anspielungen auf Popmusik, Produkte und Werbesprüche, die die Protagonisten immer wieder fallen lässt.

Der Ortswechsel sorgt nicht dafür, dass ihre Tochter weniger Zweifel hat, wie im Verlauf des Romans immer deutlicher wird. Esther stellt zunehmend die starren Regeln der Zeugen Jehova in Frage, versucht herauszufinden, was Sulamith geschehen ist, und plant vorsichtig ihre Flucht. Esther ist dabei eine leise Protagonistin und Erzählstimme, die einfühlsam berichtet und es kaum wagt, ihren Eltern offen konfrontativ gegenüberzutreten. Am Ende kann sie sich dennoch aus dem Einflussbereich lösen und findet einen Weg für sich in die Welt.

Stefanie de Velasco, die 2013 mit ihrem Roman Tigermilch (nominiert für den deutschen Jugendliteraturpreis und mittlerweile auch verfilmt) debütiert hat, hat sechs Jahre bis zu ihrem zweiten Roman verstreichen lassen. Die Schwere der eigenen Lebensgeschichte, die hier literarisch bearbeitet wird, merkt man dem Text an. War Tigermilch noch von hoher Dynamik, großem Drive und Humor im Miteinander beider Mädchenfiguren im Erleben in der Großstadt Berlin gekennzeichnet, ist Kein Teil der Welt ein ruhiger Kontrapunkt dazu. Dennoch erzählt der Roman nicht weniger vielschichtig vom Heranwachsen in dysfunktionalen Bedingungen, aus denen sich die Figuren lösen müssen, und von der Kraft, die eine Freundschaft geben kann.

Titelbild

Stefanie de Velasco: Kein Teil der Welt. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019.
432 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050431

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