Kriegsalltag

Andrej Kurkow ruft in seinem Roman „Graue Bienen“ noch einmal die politische Situation in der Ukraine ins Bewusstsein und erschafft dabei eine ganz eigene Form des magischen Realismus

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit 5 Jahren herrscht Krieg in der Ukraine und inzwischen schafft es dieser Konflikt nur noch selten auf Titelseiten. So sehr man einerseits bedauern mag, dass solche Kriege aus den Nachrichten verschwinden, in den Hintergrund gedrängt werden und damit dem öffentlichen Bewusstsein allmählich abhandenkommen, so muss man sich andererseits auch eingestehen, dass man selbst ebenfalls nicht vor Gewöhnung gefeit ist, dass man das Leid und die Schicksale hinter den immergleichen Bildern von Geschützfeuern und Soldaten in Tarnuniformen, schon bevor sie ganz verschwunden sind, irgendwann schlicht kaum noch zu sehen vermag.

Da ist es ein Glücksfall, dass sich der ukrainische, im Original auf Russisch schreibende Andrej Kurkow in seinem jüngsten, dem deutschsprachigen Lesepublikum durch seine beiden Übersetzerinnen Johanna Marx und Sabine Grebing gekonnt vermittelten Roman Graue Bienen des Themas annimmt, gelingt es ihm doch überzeugend, die Situation in der Ukraine aus einer Perspektive darzustellen, wie sie in den tagesaktuellen Nachrichten selten eingenommen wird: die eines einfachen Menschen, der es gelernt hat, mit dem Krieg vor der Haustür zu leben.

Aus einem kleinen ukrainischen Dorf im Donbass sind längst alle vor dem Krieg geflohen, mit Ausnahme Sergej Sergejitschs, ehemals Sicherheitsinspektor für Kohlegruben, heute aufgrund einer Staublunge Frührentner und passionierter Bienenzüchter und seinem „Kindheitsfeind“ Paschka Chmelenko. Beide haben gelernt, sich mit dem anderen und dem Krieg zu arrangieren, einem Krieg, der oft nur leise vor sich hinschwelt und dessen Geschützgrollen in der Ferne für Sergejitsch so sehr zum Alltag gehört, dass es, wie es an einer Stelle heißt, zum Teil der Stille geworden ist. Umso drastischer erscheint es dann, wenn der Krieg mit all seinen Schrecken in das ansonsten zwar mühsame, aber manchmal fast schon beschauliche Leben tritt, wenn daran erinnert wird, wie ganze Familien auf der Flucht ums Leben gekommen sind oder wenn tote Soldaten im Schnee liegen, ohne dass es jemanden schert.

Eines Tages, als der Winter sich dem Ende neigt, beschließt Sergejitsch mit seinen Bienen eine Weile das Dorf zu verlassen, damit diese vom Krieg ungestört ihre Arbeit verrichten, Pollen sammeln und Honig produzieren können. So macht er sich mit seinen Bienenstöcken in einem alten grünen Schiguli auf den Weg hinaus aus der Grauen Zone. Auch wenn ihm andere, friedvollere Teile der Ukraine und vor allem die Krim zunächst fast schon paradiesisch vorkommen, muss er bald feststellen, dass der erste Eindruck trügt. Für viele im Rest des Landes ist er ein Separatist und Verräter, egal wie oft er das Gegenteil beteuert. Immer wieder gerät Sergejitsch in die Schusslinie, auch indem er versucht, sich seinen Mitmenschen gegenüber anständig zu verhalten, besonders auf der Krim, wo er Zeuge wird, wie die dort ansässigen Tartaren der Willkür der Regierung ausgeliefert sind, verschleppt und ermordet werden, und wo er schließlich selbst zur Zielscheibe des russischen Geheimdienstes wird.

Kurkow gelingt es, seinen Sergej Sergejitsch so darzustellen, dass er einem beim Lesen nahe geht, vor allem deswegen, weil er ihn als jemanden charakterisiert, der zwar ein Eigenbrötler ist und dem seine Bienen das Wichtigste sind, der oftmals nicht unbedingt mutig ist, sich aber immer wieder gegen seinen ersten Impuls und aller Gefahren zum Trotz einmischt, wenn er es für geboten hält. Seine Naivität und die fast schon kindliche Einfachheit eines Menschen, der bloß in Frieden leben will, sind ein Gegenpol zu den schwer zu durchschauenden politischen Verwicklungen, die im Ukrainekonflikt und auf der Krim herrschen. Seine Überzeugungskraft zieht Graue Bienen vor allem daraus, dass der Roman die Erzählperspektive eng an die unschuldig-kindliche Perspektive seines unbedarften Helden Sergejitsch knüpft. Mit sprachlich bestechender Einfachheit und Klarheit erzählt der Roman dessen Geschichte. Dazu ein Satz, der mit einer feinen Beobachtung im Banalen das Bedeutungsvolle andeutet und umgekehrt eingesteht, dass vermeintlich Bedeutungsvolles schlicht banalen Umständen geschuldet sein könnte: „Paschka ging nach Hause, mit gesenktem Kopf, vielleicht aus Schwermut wegen seiner beginnenden Einsamkeit oder weil er sorgsam im Matsch eine Stelle für jeden neuen Schritt auswählte.“ Im Grunde ist dieser Satz exemplarisch für den gesamten Roman, der einerseits auch kleine Gesten und Details ganz genau beobachtet und beschreibt und sie in einen größeren Sinnzusammenhang stellt, ohne sie andererseits aber mit Bedeutung zu überfrachten, indem er im selben Atemzug andeutet, dass ja womöglich gar nicht alles einen tieferen Sinn hat.

Anders als etwa in Kurkows frühem Roman Die Welt des Herrn Bickford, in dem alles Erzählte primär Symbol und Allegorie ist, ist das Erzählen in Graue Bienen realistisch, insofern als die erzählte Welt den Gesetzen der wirklichen folgt.

Und doch ermöglicht es die Kopplung der Erzählperspektive an die Sicht des Protagonisten, die Welt mit einer Art Magie aufzuladen, wie sie einem aus Kinderbüchern vertraut ist, etwa wenn die Sonne allmählich beginnt unterzugehen und es heißt: „Die Sonne ließ sich auf dem Berg nieder. Hätte die Sonne Beine, hätte sie diese Feuerbeine jetzt, da sie auf dem Gipfel des Berges saß, herabbaumeln lassen.“ Aus dem Widerspruch zwischen harscher Wirklichkeit und kindlicher Magie entwickelt Graue Bienen seine Wirkung.

Gerade die erste Hälfte des Romans nimmt sich dabei über weite Strecken wie ein unaufgeregtes Kammerspiel aus, in dem der Alltag von Sergejitsch und Paschka in dem ansonsten leeren Dorf beschrieben wird, bei denen man sich entfernt ein wenig an Don Camillo und Peppone oder das in Filmen von Walter Matthau und Jack Lemmon verkörperte „seltsame Paar“ erinnert fühlt.

Nicht von ungefähr sind neben den Bienen Zeit und Stille immer wiederkehrende Themen im Roman und das Unaufgeregte, Leise, Langsame setzt dieser auch erzählerisch um, sodass die Aussage über Sergejitsch auch das Erzählen selbst meint, wenn es heißt: „Von allem gab es genug. Kohle und Geduld! Und Zeit erst recht! Die gehörte ihm jetzt ganz allein. Solange er am Leben war.“

Nach Sergejitschs Aufbruch dann nimmt Graue Bienen pikareske Züge an. Episodenhaft gerät der Held wider Willen in, fast ist man geneigt zu sagen, immer neue „Abenteuer“, wären sie nicht so sehr den realen politischen Gegebenheiten in der Ukraine und auf der Krim geschuldet. Doch auch an dieser Erzählstruktur, dem Aufbruch des Helden, der sich fortan in der Welt beweisen muss, bei der die politische Wirklichkeit in ein fast märchenhaft anmutendes Erzählgerüst eingebettet ist, zeigt sich ein poetologisches Element des Romans, das sich bereits auf sprachlicher Ebene finden ließ, nämlich die Kontrastierung von Aspekten des kindlich Zauberhaften und damit oft auch Bezaubernden in der subjektiven Weltwahrnehmung seiner Hauptfigur – nicht unerwähnt bleiben sollen auch die zum Ende hin immer zahlreicher werdenden Träume Sergejitschs, in die das bedrohliche Grau der Außenwelt in Gestalt der titelgebenden grauen Bienen immer weiter eindringt – und faktischer, objektiver Wirklichkeit.

Vielleicht liegt die Stärke solcher Literatur, die sich politisch positioniert, ja oft gerade darin, eine Froschperspektive auf das Weltgeschehen einzunehmen, sich weniger auf die politischen und historischen Zusammenhänge zu konzentrieren, die Kurkow in seinem Roman durchaus auch andeutet, sondern auf die Folgen für den Einzelnen, um so Themen wieder in den Fokus zu rücken, die im medial aufbereiteten Tagesgeschehen kaum noch Raum haben. Kurkow trägt sein politisches Anliegen nicht mit dem Furor eines Agitators vor, sondern in einem stillen und bedachten Roman, der seine Botschaft auch ästhetisch überzeugend vermittelt, und der gerade dadurch deutlich macht, dass Literatur selbst dann noch fortzuwirken in der Lage ist, wenn sich die Kriegsbilder der Medien längst abgenutzt haben.

Titelbild

Andrej Kurkow: Graue Bienen. Roman.
Übersetzt aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
445 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070828

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch