Beiträge zur Menschwerdung des Lichts

Tom Hillenbrands „Hologrammatica“ schreibt Zukunft aus künftigen Problemlagen heraus

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Problem und eben auch die Eingängigkeit populärer Science Fiction liegen darin, dass sie sich zwar fantastische Technologien ausdenken, in dem damit entworfenen Szenario aber eigentlich (wenn man Glück hat) nur Probleme der Gegenwart diskutieren und – aber auch nur vielleicht – lösen. Star Trek und Star Wars etwa bedienen sich zwar intensiv in der Waffenkammer des utopischen Genres, aber begnügen sich in der Regel damit, ein wenig die kolonialistischen und nationalistischen Problematiken des 17. bis 20. Jahrhunderts aufzufädeln und dabei die Komplexität der Gegenwart in mystische, genauer manichäisch inspirierte Polaritäten aufzulösen. Wenn sich alles auf Akteure des Lichts und der Finsternis zurückführen lässt, wird die Lage immerhin schon etwas übersichtlicher, zumal dann, wenn dahinter eine allgrundierende Macht fließt, derer man sich bei geeignetem Talent und hinreichendem Training bedienen kann.

Tom Hillenbrand verweigert sich diesem Grundprinzip, allein schon indem seine Figuren nicht dauernd mit überschweren Blastern durch die Gegen ballern oder sich mit angeschlagenen Gleitern durch den Hyperraum quälen. Auch ein einfaches duales Weltbild ist seine Sache nicht. Stattdessen entwickelt er aus der Gegenwart künftige Szenarien, denen er adäquate, plausible und mögliche Technologien zuweist. Das ist dann schon utopisch genug, wie Hillenbrands bislang wohl bedeutendster Thriller Drohnenland (2014) gezeigt hat. In Drohnenland wurde die Handlung von der Problematik nicht vorhersehbarer Entscheidungen vorangetrieben, die für eine subkutane Steuerung von Gesellschaften kontraproduktiv ist. Besser ist es also, sie zu eliminieren.

In Hologrammatica treibt Hillenbrand eine andere Problemlage um, die vielleicht zusammenfassend als Frage danach beschrieben werden kann, inwieweit digitale Kopien des Bewusstseins persönliche Identität scherstellen können. Damit verbunden sind zwei anschlussfähige Themen, nämlich die Materialisierung hologrammatischer Entitäten und die Entbindung persönlicher Lebensdauer von der des Körpers, mithin die Möglichkeit der Unsterblichkeit.

Hillenbrands spätes 21. Jahrhundert lässt sich als konsequente Fortschreibung gegenwärtiger Problemlagen beschreiben. Die Erderwärmung wurde nicht respektive erst sehr spät gestoppt, zahlreiche Landstriche sind im Meer untergangen, andere wurden klimatisch unbewohnbar, früher abgelegene und raue Areale wie Sibirien haben sich zu gemäßigten Klimazonen gemausert. Das Sonnensystem ist einigermaßen erschlossen. Die Weltbevölkerung ist aufgrund einer geheimnisvollen Seuche deutlich geschrumpft, sodass Staaten um Bürger werben. Als stärkste Anleihen an die konventionellen SF lässt Hillenbrand einen interstellaren Aufzug zu, mit dem der Transfer von der Erde zur Umlaufbahn bewältigt wird (aber darüber wird – wenn man der Zeitung glauben darf – tatsächlich derzeit debattiert), und eine Anomalie im Mittelmeer, eine Art Lichtdom, die vor einiger Zeit aufgetreten ist und die sich niemand erklären kann – beides Ausstattungen, die zwar ganz lustig, aber nicht zwingend sind.

Dass die Erde beinahe flächendeckend von Hologrammen geschönt wird, ist hingegen hinreichend plausibel annehmbar. Wenn Mobiltelefone möglich sind, warum nicht das? Immerhin spart das Renovierungskosten und die Kosten für immer neu aufzustellende Verkehrsschilder. Auch der Eiffelturm, den Terroristen in die Luft gesprengt haben, kann als Hologramm doppelt so groß und viel schöner über Paris hinausragen. Dass beinahe niemand mehr sein Auto selber fährt, sondern das dem Fahrzeug überlässt, ist hingegen kaum noch als SF zu bezeichnen.

Kernthema aber ist die Frage nach der Identität von Personen. Basis ist die Annahme, dass es möglich sein wird, Persönlichkeiten mit ihrer gesamten Struktur und Ausstattung, also eben auch mit dem aktuellen Gedächtnis digital zu speichern. Das führt dazu, dass eine immer größer werdende Zahl von Leuten sich digital abspeichern und nach Bedarf in Gastkörper, die hier Gefäße genannt werden, einspeichern lässt. Das lässt sich zum Beispiel für die Ausübung von Risikosportarten nutzen. Wenn man dabei draufgeht, ist es egal. Der Gastkörper ist dann zwar tot, aber der eigene kann bequem wieder bezogen werden, wenngleich mit dem letzten Speicherstand. Um das ganze hinreichend praktikabel zu halten, werden einfach Gastkörper ohne Persönlichkeit gezüchtet, die jeweils frei beziehbar werden. Was dann schon die Frage nach sich zieht, ob es sich um identische Personen handelt oder ob sich diese Frage schon gar nicht mehr stellen lässt. Die Hologramm-Ausstattung der Welt lässt ja auch zahlreiche Camouflagen zu – was das angeht, wäre ein Vermummungsverbot ein anachronistischer Witz, was auf Schleier genauso zutrifft. Die Frage nach der Geschlechtsidentität lässt gleichfalls nicht mehr stellen, da sich ja unterschiedliche Kombinationen über unterschiedliche Gastkörper realisieren lassen.

Als Grenze führt Hillenbrand allerdings das Problem ein, dass nach spätestens 21 Tagen die Person wieder in ihren Ursprungskörper zurückkehren muss, ansonsten würde ein Crash folgen, die Programmierung zusammenbrechen. Fehlt der Originalkörper, kann die Sicherheitskopie zwar immer wieder neu hochgeladen werden, aber nach 21 Tagen ist dann Schluss. Eine interessante Version von Hölle, immer wieder auf demselben Stand aufzuwachen und dann nach 21 Tagen wieder zu sterben, um wieder aufzuwachen, ohne Bewusstsein und der Erinnerung der vorhergehenden Schleife. Allerdings ist das Thema endlich, denn die Schleifen werden immer kürzer. Warum, weiß niemand, da auch niemand weiß, wie das menschliche Gehirn funktioniert und Persönlichkeit ausbildet. Weshalb auch niemand weiß, wie und wieso die Kopien funktionieren.

In eine Handlung wird das durch die Suche eines neumodischen Ermittlers – eines Quästors – eingebettet, der sich auf die Suche nach einer Programmiererin macht, die verschwunden ist. Wie sich herausstellt, ist die Dame eine sogenannte Deatherin. Deather sind Leute, die sich in Gastkörpern immer wieder umbringen, um der Todeserfahrung spirituelle Erleuchtung abzugewinnen. Um das für sie nachvollziehbar machen, verwenden Deather portable Speichergeräte, mit denen sie die Aufzeichnung des letzten Bewusstseinsstands vor ihrem Tod immer näher an den Todeszeitpunkt heranschieben. Ziel ist das Problem der beschränkten Speicherbarkeit des Bewusstseins in den Gastkörpern zu lösen.

Die Suche, die sich über gut fünfhundert Seiten erstreckt, wird  von zahlreichen Hindernissen und Widersachern gestört, darunter ein paar Leute, die aus ihren Ärmeln ziemlich scharfe Schwerter ziehen und damit böse um sich schlagen. Da ganze Thema hängt schließlich mit einer IT zusammen, die vor einigen Jahren zur Rettung der Welt gebaut wurde, dann aber wenig mehr Vorschläge vorzubringen hatte als die deutliche Verringerung der Weltbevölkerung. Als noch weitere Aktivitäten hinzukommen, hat man sie dann lieber abgeschaltet, sie vom Netz getrennt und ein bisschen bombardiert. Aber welche IT lässt sich davon beeindrucken? Womit dann die Handlung beginnt.

Titelbild

Tom Hillenbrand: Hologrammatica. Thriller.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
559 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051490

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