Vier Elemente für ein Zustandsdiagramm

Sebastian Weirauchs gelungener Mix aus Poesie und Fachsprache

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es vorwegnehmend und in der Sprache des Buches zu sagen: Auffallend, genauer: symptomatisch an diesen Gedichten ist zunächst einmal die rhetorische Parallelschaltung kontradiktorischer Synapsen. Während die Amygdala dem multiplen lyrischen Ich immer wieder beliebte Vignetten aus dem Poesiealbum der Romantik hinblättert, mit Vokabeln wie „Meer“, „Nacht“ und „Traum“ an traditionelle Lyrik-Topoi anknüpft, kontert der präfrontale Cortex mit fachsprachlichen Wortungetümen wie „Hauptauftriebsgebiete“, „Nullpunktsvereinbarungen“ oder „Gravitationsstabilitäten“.

Dieser vom ersten bis letzten Gedicht der Sammlung munter daher und dahin fließende sprachliche Wechselstrom sorgt zu Beginn zwar für maximale Aufmerksamkeit, elektrisiert durch Überraschung, Schock und Kontrast, verliert im Laufe der Lektüre dann aber doch ein wenig an Power. Nicht etwa, weil die Differenz der Sprachebenen geringer würde, sondern schlicht, weil sich das Schaltschema, der Wechsel von Poesie zur Fachsprache immer deutlicher vorhersehen und berechnen lässt. Bisweilen kommt es mit Wörtern wie „Mondamplitude“ oder „Bleischweif“ auch zu Hybridisierungen von Zauberwort und Fachterminus, einem Zusammenspiel, das besonders gut in Gedichten mit aufgelöster Versstruktur funktioniert, wenn die Sätze ohnehin schon aus den Angeln gehoben, in kühnen Engambements („ich wohnte in einem Nachthaus / und sah am Strand den Sand-/ garnelen beim Lauerjagen zu“) und typografisch expandierend über den eigenen Rand hinaus in Wort-Konstellationen und Konfigurationen aufgelöst werden, die entfernt an die grafischen Verrätselungen von Stéphane Mallarmés Würfelwürfen erinnern.

Der 1984 geborene, in Braunschweig und Leipzig, wo er auch am Literaturinstitut studierte, lebende Sebastian Weirauch legt mit seinem in der Reihe Neue Lyrik des Leipziger poetenladen erschienenen Lyrik-Début eine bemerkenswerte sprachliche Gratwanderung vor. Denn hier geht es – vermutlich mit dem langen Atem von Novalis, Hugo Ball und Elfriede Jelinek im Nacken, über die der Autor auch literaturwissenschaftlich gearbeitet hat –ums große Ganze, um poetische „Tiefenwasser“, „Tiefseehügel“, „Tiefengestein“, „Stollenlabyrinthe“, oder „Lufthoheit“ und „Zentralgestirne“. Immer wieder wird dabei aber auch vor „Absturzgefahr“ gewarnt – auch das natürlich, wie die meisten Substantive in diesen Gedichten, eine gleißende Mehrdeutigkeit: vordergründig aeronautisch, hintergründig autopoetisch, untergründig psychologisch. Zwar bilden die klassischen vier Elemente, aus denen die Antike die Welt zusammensetzte, die durchaus tragfähige und einleuchtende Grundstruktur des Bandes, der in vier, den einzelnen Elementen gewidmeten Kapiteln die Eckpunkte seiner metaphorischen Zonen absteckt. Doch konfrontiert Weirauch diese klassische Klaviatur des Weltwissens schon in den ersten Versen mit den lexikalischen Versatzstücken moderner Wissensbestände, verwebt die magischen Formeln aus Mythologie, Mystik und romantischer Dichtung mit dem sperrigen Jargon moderner Naturwissenschaft und Technik.

Nun ist die Poetisierung der Naturwissenschaft eine der wichtigsten Erfindungen der modernen Literatur. Sie reicht von Novalis’ Athenäumsfragmenten, über Stifters Bunte Steine und Gottfried Benns Chaos bis zu Ulf Stolterfohts fachsprachen. Dass Fremdwörter aus Wissenschaft und Technik nicht nur eine geheimnisvolle Aura, sondern auch ein großes metaphorisches Potenzial besitzen, wusste schon Johann Wolfgang Goethe, als er seinen modernen Liebesroman Die Wahlverwandschaften mit einem Terminus aus der organischen Chemie taufte. Was lässt sich dichterisch nicht alles aus geologischen Fachbegriffen wie „Augenkohle“ („Augenkohle schwärzt meinen Blick“) oder „Phantomhorizont“ („Über den schwer gewinnbaren / Gesteinen und unbauwürdigen / Kammern wartete ich vor einem / Phantomhorizont auf ein Zeichen“) machen! Und wie verführerisch ist es, Wörter wie „Blindschächte“, „Ozonspindel“ und „Schlangensterne“ oder „Diamantbohrkrone“ und „Idealkristall“ in semantische Schwingungen zu versetzen („Du hast dich hinter einer / Diamantbohrkrone vor / mir verborgen und nach / Idealkristallen gefahndet“)! Freilich hängt das lyrische Potenzial der Fachsprachen auch damit zusammen, dass die Naturforscher des 18. und 19. Jahrhunderts selbst bereits dichterisch veranlagt waren, wenn sie die neu entdeckten Naturphänomene mit möglichst anschaulichen Begriffen benannten.

Auch wenn bei Weirauch solche fast schon zwanghaften Allegoresen bisweilen über das Ziel hinausschießen und man sich gegen Ende des Buches immer öfter nach schlichten Entspannungsmomenten sehnt wie diesem: „Warum / fiel dir dein / Nein so leicht?“ oder jenem: „Es gab kein unverhofftes Wiedersehen / bald glaubte ich, du wärst nie dagewesen“, so verfehlt der systematische Einsatz von Fachtermini als poetischer Störfaktor, als Bruch und Distanzierung, aber auch als Katalysator ungewöhnlicher Assoziationen und Bilder durchaus nicht seine Wirkung. Nach und nach wird man in einen seltsamen hermeneutischen Strudel gezogen, wird selbst Teil eines Zwangs, des Zwangs nämlich, die rätselhaften Termini zu deuten. Denn man weiß ja: es geht hier weder um Ozeanologie (Wasser) und Astronomie (Feuer), noch um Flugnavigation (Luft) und Geologie (Erde). Jedes „Zustandsdiagramm“, jede „Magnetfeldlinie“ und jeder „Bleischweif“ zeichnet die symbolischen Spuren einer verborgenen Botschaft nach. Doch welcher?

Weirauchs verschlüsselte Fachsimpeleien sind weder simpel noch prosaisch, eher verspielt und melancholisch: „Ich schleiche an / Wettermessstellen / an Zerfallsreihen und / an Seismographen vorbei“. Oder: „Etwas an dir kam mir blauverschoben vor: / In meinem Sternenradius warst du der Erste / den meine Farbentemperaturen nicht verkohlten“. Weirauchs Gebrauch skurriler und präziöser Fachtermini ist weniger impressionistisch-alltäglich als der Rolf Dieter Brinkmanns, weniger philosophisch als Hans-Magnus Enzensberger, nicht so lautmalerisch und wortverdreht wie Urs Allemann, nicht so fließend wie der Sound Ulrich Ziegers, weniger bildungsgesättigt als Durs Grünbaum. Weirauchs eigene Dialektik von Poesie und Wissenschaft ist – so meine These – eher die galvanisierende Hülle einer im Grunde einfachen Geschichte, deren Ereignisse aber nicht erzählt, sondern sprachlich verdeckt und emotional kurzgeschlossen werden. Hier werden Gefühle vom objektivistischen Pathos der Technik zugleich verschleiert wie auch nobilitiert. Wie aber geht sie nun, diese Geschichte?

Wenn sich die Rezensentin in eine kühne Rekonstruktion dieser hypothetischen Ereignisse versteigt, so geschieht das eingedenk der Mahnung eines jungen Kollegen, man möge bei seinen literaturkritischen Ergüssen doch gefälligst darauf achten, gesicherte Fakten von persönlichen Spekulationen zu unterscheiden, schließlich seien Analysen und Interpretationen nicht dasselbe. Einverstanden. Hier also – Vorsicht RezensentInnen-Fiktion! – eine persönliche Lesart der verborgenen Geschichte. Diese ist, wie alle guten und wahren Geschichten, das wussten Heinrich Heine und viele andere, „eine alte Geschichte, / doch bleibt sie immer neu. / Und wem sie just passieret / Dem bricht das Herz entzwei“. Es ist die Geschichte von Sehnsucht und Liebe (oder umgekehrt), von verliebten Idealisierungen, narzisstischen Projektionen, falschen Erwartungen und traurigen Vorwürfen. Belegstück 1 (Wasser): „Unser Kurs / ließ sich / nicht / korrigieren / Ich hab mich den Wellen ergeben / Warum hast du versucht / uns / getrennte Landmassen / zu einer einzigen zu verschmelzen? / Zu weit haben wir uns von den Verlandungsküsten entfernt / Hast du vergessen: die See / besteht nicht nur aus / Bleistiftlinien?“.  Belegstück 2 (Dasselbe in Feuer): „Doch dann versagte die Distanzmessung / und ich verlor mein Gleichgewicht, die / Fehlerfrequenzen stiegen, bis ich mich / in ihrem Lichtgeäst verstrickte, ich“. Belegstück 3 (Luft): „Ich kollidierte mit dir / an der polaren Front / Wir verglühten dabei / wie Phosphortiere“. Und im Erdmodus (Beleg Nr. 4) geht die dieselbe Geschichte dann so: „Ich habe dich / nicht achtlos / im Sandstein / stehen lassen / Es ist nicht meine Schuld / wenn du dir taube Wände / für deine Klopfsignale suchst.“

Gewiss: Es ist eine uralte Geschichte, so alt und elementar wie Wasser, Feuer, Luft und Erde, doch hier in der Lyrik von Sebastian Weirauch neu vertont und durch lexikalische Kontraste von allzu aufdringlichen Wiedererkennungseffekten entschlackt.

Titelbild

Sebastian Weirauch: Von den Elementen. Gedichte.
Poetenladen, Leipzig 2019.
69 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783948305024

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