München leuchtete – auch feministisch

Ingvild Richardsens Monografie „Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen“ nimmt die Münchner Frauenbewegung vor 1900 in den Blick

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die bayrische Hauptstadt spielte zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende keine ganz unbedeutende Rolle für die erste Deutsche Frauenbewegung. Ingvild Richardsen streicht sie in ihrer der Münchner Frauenbewegung und ihren Aktivistinnen gewidmeten Studie „Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen“ gebührend heraus. Dabei rühmt sie sich, auf Neuland vorzustoßen, denn es sei „so gut wie unbekannt“, dass München um 1900 als „Flaggschiff der modernen Frauenbewegung“ und „Leuchtturm der Emanzipation“ gelten könne. Das ist zwar etwas übertrieben. Wahr ist allerdings, dass Richardsen die erste Monografie zum Thema vorgelegt hat.

Der Autorin zufolge heben zwei „Alleinstellungsmerkmale“ die Münchner Frauenbewegung hervor. Zum einen die „enge Verbindung mit der Kunst- und Literaturszene“, zum anderen, dass sie „im Verbund mit einigen progressiven Männern“ agierte. Münchner Frauenrechtlerinnen wie Carry Brachvogel, Elsa Bernstein, Gabriele Reuter, Helene Böhlau und Maria Janitschek „schreiben Theaterstücke, Romane und Novellen, in denen sie inhaltlich ihre Kritik und die Ziele der Frauenbewegung aufgreifen, darstellen und transportieren“. „In diesem Punkt“ sei die Münchner Frauenbewegung „absolut singulär“ gewesen. Ganz so war es allerdings nicht. Zwar übertraf die Zahl der Münchnerinnen, die Literatin und die Feministin in Personalunion waren, jedes sonst bekannte Maß. Doch auch andernorts schrieben Frauenrechtlerinnen feministische Literatur. Man denke nur an Hedwig Dohm, Laura Marholm und Grete Meisel-Hess oder an den 1903 erschienenen Zukunftsschwank Neugermanien der weit weniger bekannten Dresdener Frauenrechtlerin Helene Judeich. Mögen es auch wenige gewesen sein, so schrieben feministische Literatinnen doch auch andernorts. Dennoch suchte die enge Verbindung zwischen Frauenrechtsbewegung und Literatur in München ihres gleichen.

Was nun progressive Männer in der Frauenbewegung der Zeit betrifft, so war es ihnen zwar nicht gestattet, in den Allgemeinen Deutschen Frauenverein eintreten, dessen Mitgliedschaft ausschließlich Frauen vorbehalten war. Doch nicht nur in München, auch in einzelnen anderen lokalen Vereinen der Frauenbewegung war dies möglich. So waren beispielsweise Männer im Kölner Verein Mädchengymnasium nicht nur engagiert; einer von ihnen, Joseph Hansen, hatte ihn 1899 sogar mitbegründet.

Zwar zieht Richardsen neben etlichen, heute nicht immer ganz einfach zugänglichen Publikationen zahlreiche Archivalien und andere ungedruckte Quellen heran wie etwa Polizeimeldebögen über führende Münchner Frauenrechtlerinnen und bietet somit etliche der Forschung bislang unbekannte Kenntnisse, doch richtet sich ihr Buch nicht nur an die Welt der Fachgemeinde. Darauf deutet zumindest der auf ein breiteres Publikum zugeschnittene Stil hin.

Richardsen konzentriert sich ganz auf das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Kapitel für Kapitel und Jahr um Jahr zeichnet die Autorin die Geschichte der Münchner Frauenbewegung nach, ohne dabei die jahrzehntelange Vorgeschichte zu vergessen. Auch flicht sie biografische Abrisse der wichtigsten ProtagonistInnen ein und geht näher auf literarische Werke von Münchner Frauenrechtlerinnen der Zeit ein. So referiert und interpretiert sie natürlich Reuters „Kultbuch“ Aus guter Familie, aber auch Brachvogels weniger bekannten Debütroman Alltagsmenschen oder Adine Gembergs vergessenen Novellenband Morphium.

Die avantgardistische Szene Münchens konzentrierte sich damals auf die Maxvorstadt und natürlich auf Schwabing. Hier wurden nicht nur, aber eben auch von Feministinnen „völlig neue Rollen als Mann und Frau werden ausgetestet, neue Formen des Zusammenlebens ausprobiert, neue Formen der Sexualität und Erotik gelebt“. Nahezu alle führenden Feministinnen Münchens lebten in den beiden Stadtteilen „wie auf einem Dorf in engster Nähe“, nämlich „Haus an Haus, Straße an Straße“, manchmal auch innerhalb eines Wohnhauses nur getrennt durch das Treppenhaus. Richardsen stellt den Lesenden selbst die Charakteristika der Straßenzüge, in denen sich die KünstlerInnen und FrauenrechtlerInnen bewegten, vors Auge. Konzentrieren sich Richardsens stark chronologisierten Schilderungen zunächst auf die Aktivitäten einzelner Frauenrechtlerinnen, so rückt zunehmend die Vereinsgeschichte und -tätigkeit in den Blickpunkt. Dies liegt schlicht darin begründet, dass die Frauen zunächst ein Bewusstsein für ihre Diskriminierung entwickelten, dann aktiv wurden und schließlich begannen sich zu organisieren.

Im von Anita Augspurg und Sophie Goudstikker betriebenen Photoatelier Elvira macht Richardsen die „Keimzelle der modernen Frauenbewegung in München“ aus. Beide Frauen standen in „enger Kontakt“ zu Emma Merk, die gleich um die Ecke wohnte. Während Augspurg und Goudstikker „optisch und von ihrem Verhalten her einen völlig neuen Typ Frau“ verkörpern, „verabschiedete“ sich auch Merk „von den geltenden Frauenrollen und Geschlechterbildern des Kaiserreichs“, die sie „als unzeitgemäß und unauthentisch“ empfand.

Augspurg hielt schon früh öffentliche Lesungen, in denen sie die Befreiung der Frau propagierte. Auf den werbenden Plakaten wurde ihren Geschlechtsgenossinnen freier Eintritt garantiert, während Männer „nur mit Eintrittskarte“ Zugang erhielten. Die Münchner Polizei fand die agitatorischen Veranstaltungen allerdings „gar nicht lustig“ und bestellte Augspurg auf die Wache. Überhaupt war Frauen zu dieser Zeit die politisch Vereinstätig gesetzlich untersagt. Bei den frauenbewegten Sozialistinnen griffen zusätzlich die Sozialistengesetze. Anders als viele Nachgeborene spricht Richardsen allerdings nicht von einer proletarischen Frauenbewegung, sondern sehr zu Recht davon, „dass neben der bürgerlichen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert auch eine Bewegung von Arbeiterinnen entsteht, die sich aber zu sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitervereinigungen hin orientiert“. Ohne die Rede von einer angeblich proletarischen Frauenbewegung ist das dem Substantiv Frauenbewegung vorangestellte Adjektiv „bürgerlich“ im Grunde aber wenig sinnvoll. Besser wäre wohl einfach, von der Frauenbewegung und ihren radikalen, gemäßigten und konfessionellen Flügeln zu sprechen.

Bereits im Herbst 1891 wurde auch in München eine Abteilung des bereits in anderen Städten tätigen Vereins „Frauenbildungsreform“ ins Leben gerufen. Doch durfte die Münchner Sektion schon ein Jahr später ihre zweite Generalversammlung nicht mehr abhalten, da sie von den Behörden als politischer Verein behandelt wurde, was ja so falsch nicht war. Die Frauen griffen zu einem schlichten, aber erfolgreichen Trick und nannten ihre neue Organisation nicht mehr Verein, sondern Gesellschaft und gaben ihr den für die Obrigkeit harmlos klingenden Namen „Gesellschaft zur Förderung der geistigen Interessen der Frau“. Sie wurde 1894 gegründet, von 1896 bis 1912 von Ika Freudenberg geführt und war die wohl wirkmächtigste Organisation der Münchner Frauenbewegung ihrer Zeit. Ihr Hauptaufgabenfeld sah sind darin, „Mädchen und Frauen aller Schichten“ Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten zu eröffnen. Doch war sie auch auf anderen Gebieten tätig und kämpfte etwa gegen das misogyne Eherecht des damals in Arbeit befindlichen Bürgerlichen Gesetzbuches. Ein Gebiet, in dem Anita Augspurg besonders aktiv war, was von der Autorin angemessen gewürdigt wird. Der anderorts betrieben Kampf um das Frauenwahlrecht spielte hingegen keine Rolle, da vielen Münchner Frauenrechtlerinnen die Forderung zu radikal erschien. 1898 wurde von der Münchner Frauenbewegung zudem eine „Rechtsbelehrungs- und Rechtsschutzstelle“ für Frauen ins Leben, deren Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Die nötigen Räumlichkeiten bekam sie von der Stadt zur Verfügung gestellt.

Was das Zentrum ihres Themas, die Münchner Frauenbewegung und ihre Protagonistinnen,  betrifft ist Richardsen oft genau bis in kleinste Details. So nennt sie etwa die Anzahl der Vereinsmitglieder für bestimmte Jahre, wie viele davon Männer waren und wo sie jeweils wohnten. Darüberhinaus ist sie in Kleinigkeiten jedoch gelegentlich recht nachlässig. Das führt zu fragwürdigen Einschätzungen und sachlichen Irrtümern. Dass sie meint, die Werke des krankhaften Misogyn August Strindberg habe „der frühen Emanzipationsbewegung den Boden bereitet“, löst Verwunderung aus. Ebenso, dass sie zur näheren Information über Hedwig Dohm einen gerade mal fünf Seiten umfassenden Text aus dem Jahr 1980 empfiehlt. Da ist die Dohm-Forschung inzwischen doch erheblich weiter, wie etwa Isabel Rohners Dohm-Biographie Spuren ins Jetzt von 2010 zeigt. Auch handelt es sich weder bei Stuart Mills Die Hörigkeit der Frau noch bei Dohms Der Frauen Natur und Recht um „literarische Werke“. Und Rosa Luxemburg war keineswegs Deutsche, als sie 1897 an der Universität in Zürich promoviert wurde, sondern Polin. Die deutsche Staatsbürgerschaft erhielt sie erst ein Jahr später durch ihre Heirat mit Gustav Lübeck.

Wenig Gerechtigkeit lässt Richardsen Franziska zu Reventlow widerfahren, an der sie kein gutes Haar lässt und die sie ganz in die konservative Ecke rückt. Doch zählten zu Reventlows Bekanntenkreis nicht nur der in mancher Hinsicht reaktionäre Kosmikerkreis, sondern auch Anarchisten wie der Literat Erich Mühsam und der Psychoanalytiker Otto Gross oder der antibürgerliche Kleruskritiker Oskar Panizza. Selbstverständlich ist der Furor berechtigt, mit dem Richardsen gegen Reventlows antifeministische Pamphlete Das Männerphantom der Frau und Viragines oder Hetären? vom Leder zieht. Sie sind tatsächlich „reaktionär und undifferenziert“ und spiegeln „das reaktionäre Frauenbild des Münchner Kosmikerkreises“ wider. Über diesen hat Reventlow im Schwabinger Beobachter allerdings einige Jahre später ebenfalls einen großen Kübel Häme ausgegossen. Unzutreffend ist zudem, „dass sie die literarischen Werke der Schriftstellerinnen gar nicht kannte“, wie eine abfällige Bemerkung Reventlows nach der Lektüre von Reuters Aus guter Familie zeigt, in der sie den Roman als „Schmarren“ abtat. In einer ihrer antifeministischen Polemiken, Das Männerphantom der Frau, wiederum geht sie nicht nur näher auf Laura Marholms Buch der Frauen ein, sondern zitiert daraus. Auch ist es keineswegs so, dass Reventlow „die Frauenrechtlerinnen und Schriftstellerinnen gar nicht richtig kannte“. Immerhin verkehrte sie über einige Jahre hinweg mit Anita Augspurg, Sophie Goudstikker und Lida Gustava Heymann. 1901 verabredete sie sich etwa mit Augspurg und den Schwestern Goudstikker, um gemeinsam in der Isar zu baden; mit Heymann unternahm sie Waldspaziergänge. Auch besuchte sie Augspurg gelegentlich, und zwar nicht nur, als diese noch quasi um die Ecke wohnte. 1905 fuhr Reventlow sogar für einen Besuch nach Irschenhausen, wohin Augspurg und Heymann inzwischen gezogen waren. Zu monieren bleibt schließlich auch, dass Richardsen Narrative der Autobiographien vielleicht allzu unkritisch übernimmt, ohne sie anhand neuerer Forschungsergebnisse zu überprüfen.

Trotz solcher letztlich eher randständigen Kritikpunkte ist Richardsens Buch sehr zu empfehlen, denn es bringt die Forschung zur Münchner Frauenbewegung insgesamt ein gutes Stück voran und lässt sich außerdem sehr gut lesen, was ja auch nicht ganz unwichtig ist.

Titelbild

Ingvild Richardsen: »Leidenschaftliche Herzen, feurige Seelen«. Wie Frauen die Welt veränderten.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2019.
364 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783103974577

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