Von wahrer Lebenskunst

Schriftsteller Ernst Augustin im Alter von 92 Jahren verstorben

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Vor vier Wochen habe ich ihn zuletzt für eine Stunde im Pflegeheim besucht – er war voll da, wusste, wer ich bin und erzählte wieder herrliche Anekdoten. So zum Beispiel, wie er sich 1944, als Oberschüler, freiwillig zur Offizierslaufbahn gemeldet habe. Freiwillig? Ja, denn das hatte den schlichten Sinn, dass er, im Unterschied zu seinen Klassenkameraden, die bereits als Flakhelfer eingezogen wurden, ein Jahr länger zur Schule gehen durfte – und das wiederum war unter den gegebenen Umständen im letzten Kriegsjahr lebensverlängernd.

Den Eignungstest als Offiziersanwärter freilich bestand er nur zum Teil: bei den Wissensfragen sei er rasselnd durchgefallen, sportlich (am Hochreck) hingegen habe er überzeugen können. Denn es war ihm und einem Mitschüler, den beiden einzigen verbliebenen Schülern ihrer Klasse, gelungen, den Schlüssel für die Turnhalle eingehändigt zu bekommen, sodass sie sich körperlich ertüchtigen konnten. Einen Stellungsbefehl erhielt Augustin schließlich doch noch – ein ganzes Jahr später, nachdem eine russische Vorhut gerade in Potsdam einmarschiert war: seine Einberufung hatte also keine unmittelbaren Konsequenzen mehr für ihn.

Der Hochbetagte sah zuletzt wie ein weiser Mandarin aus, die Füße aufgequollen und ledrig, als wären sie, wie bei einer alten Schildkröte, durch starke Hornschuppen geschützt. Infolge einer Hirnoperation war der Dichter nahezu blind – Hörbücher waren seit einigen Jahren sein liebstes Medium geworden. Am Fernsehgerät konnte er, immerhin, noch die Konturen erfassen, und beim Paravent am Fenster erkannte er noch die Gitterlinien. Die Frauenkirche im Hintergrund sah er schon nicht mehr: München, seine Wahlheimat, „eine Art Indien“, war für ihn untergegangen.

Der liebe Augustin, der liebe Entschlafene, war ein Lebenskünstler. Er hatte nach dem Krieg im völlig zerstörten Rostock Medizin studiert und war in Warnemünde tanzen gegangen. Er war großgewachsen, sah gut und gefährlich aus, war ein Frauentyp. Letztlich binden konnte ihn aber nur die Malerin Inge Kalanke, die bis 2016 seine Bücher illustrierte und wenige Jahre vor ihm gegangen ist.

1958 war er, inzwischen promoviert, mit seiner Frau Inge nach Afghanistan geflüchtet. 1961 kehrte er nach Deutschland zurück, jedoch nicht als Republikflüchtling mit Staatsangehörigkeit der DDR, sondern als Staatenloser. Erste Station war Lübeck, wo inzwischen seine Eltern lebten, die aus Schwerin zugewandert waren. Aber in Lübeck wollte Augustin nicht bleiben: dort war es zwar kleinstädtisch-hübsch, aber auch spießig und kalt. Überall regnete es, es war einer der kältesten und nassesten Sommer seit Aufzeichnung der Wetterkarte. Ernst und Inge Augustin, von Afghanistan und Indien her Sonne und Wärme gewöhnt, entschlossen sich, nach Süddeutschland zu gehen. Im nachtblauen Mercedes mit Weißwandreifen fuhren sie über das verregnete Hamburg, das verregnete Hannover, das verregnete Frankfurt auf München zu.

Aber München. In München schien die Sonne, es war schönstes Wetter, vermutlich Föhn – Augustins entschlossen sich, zu bleiben. 1961 wurde der promovierte Psychiater Stationsarzt in der Universitäts-Nervenklinik Nußbaumstraße. Schon ein Jahr später wechselte er als psychiatrischer Gutachter zum TÜV. Dort war er für Psychosen zuständig (im Unterschied zu Verhaltungsstörungen), eine Halb-Tages-Sache, die ihm den Rücken freihielt, so dass er nachmittags an seinen Romanen arbeiten konnte. Die Gutachtertätigkeit übte er bis zu seiner Pensionierung 1985 aus – Autor war und blieb er für immer.

Den ersten Roman konnte Augustin durch Zufall im Piper Verlag unterbringen. Ein Spaziergang in Schwabing hatte ihn damals in die Georgenstraße geführt, er war vorstellig geworden und an einen Lektor geraten, mit dem er sich bald gut verstand und anfreundete.

„Der Kopf“ (1962) wurde ein Achtungserfolg. „Am Anfang war ich eine Neuentdeckung“, so Augustin, „und beim Treffen der Gruppe 47 in Princeton war ich für fünf Minuten sogar eine Sensation. Doch dann stellte Handke alles in den Schatten…“ In Princeton 1966 hatte Augustin aus seinem Romanmanuskript „Mamma“ (erschienen 1970) gelesen, doch die ganz große Aufmerksamkeit des Feuilletons bekam er nie. Das lag ihm auch nicht, das „lathe biosas“ („lebe im Verborgenen“) der alten Griechen entsprach ihm und seiner Frau weitaus mehr: „Später hatten wir kaum noch Kontakt zum literarischen Leben. Die Arbeit der Bayerischen Akademie der Künste interessierte mich nicht im geringsten. Eine spezielle Buchhandlung hatte ich nicht. Ins Theater ging ich nie. Ich bin Kinogänger. Der Tukan-Preis und sicher auch der Literaturpreis der Stadt München waren gewiss Missverständnisse.“

Gleichwohl stiftete er über die Jahre ein eindrucksvolles Werk, und die mangelnde Resonanz bekümmerte ihn nicht. Auch dem Sterben gegenüber war er höchst gelassen: „Sich etwas bewusst zu sein, heißt wahrzunehmen, dass man da ist. Ich komme dem durch Nicht-Denken näher: Man darf nicht denken, aber das ist ein Schwebezustand, der nicht lange anhält. Der Mensch stirbt nicht. Ich weiß gar nicht genau, wie man das macht.“