Die Verhandelbarkeit des Rechtspopulismus

Philipp Ther spürt den Kipppunkten der Transformationsprozesse nach 1989 nach und dreht die Medaille marktliberaler Erfolgsgeschichten um

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer im Zuge der Landtagswahlen in Thüringen eine wesentliche politische Neubetrachtung und Strategie im Umgang mit der AfD erwartet hatte, wurde einmal mehr enttäuscht: Im sechsten Jahr seit ihrer Gründung 2013 ist es weiten Teilen des parteipolitischen Spektrums offensichtlich nicht gelungen, über den Reaktionsmodus von Empörung und Stigmatisierung hinaus in Richtung einer nüchternen politischen (Sach-)Auseinandersetzung zu gelangen. Ein solcher Weg, der idealerweise die Balance findet zwischen einer argumentativ fundierten Zurückweisung problematischer politischer Konzepte, dem Aufgriff anschlussfähiger Ideen und der ebenso zu leistenden politischen Verurteilung und – falls entsprechende Grundlagen gegeben sind – juristischen Verfolgung demokratie- und grundgesetzfeindlicher Positionen durch Parteivertreter, ist bisher wenig beschritten. Die Basis eines derartigen Umgangs mit rechtspopulistischen Tendenzen wäre allerdings die Einsicht, dass es sich hierbei eben nicht um eine qualitativ andere und externe Größe im Jenseits der eigenen politischen Handlungsspielräume handelt, die sich so problemlos dämonisieren und denunzieren ließe, sondern dass jene Spielart des Populismus im gegenwärtigen politischen System gedeihen konnte und im integrativen Sinne als Effekt und Folge des eigenen fehlerhaften Handelns zu lesen ist. Einen derart vielversprechenden Ansatz liefert zumindest im wissenschaftlichen Feld der Historiker Philipp Ther, der sich essayistisch den Konfliktdimensionen der postkommunistischen Transformation nach 1989 widmet und sie überaus gewinnbringend im Licht einer Re-Lektüre des diesbezüglich klassisch zu nennenden Textes The Great Transformation von Karl Polanyi betrachtet.

Ther fokussiert die seit 2016 mit der Präsidentschaftswahl Donald Trumps und dem britischen Brexit-Referendum zu beobachtende (rechts-)populistische Wende primär unter dem Gesichtspunkt einer selbstkritischen Systemschwäche, hervorgebracht durch das Handeln von Linken und Liberalen. Ausgehend von diesem im politischen Handlungsfeld angelegten „Endpunkt längerer Entwicklungen“ fragt der Autor gewissermaßen systemimmanent nach der (vielfach problematisierten) konflikthaften Beziehung und Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie, zu der sich gerade Polanyi wirkmächtig positioniert: Sein 1944 publizierter Text, der auf den Börsencrash und die Weltwirtschaftskrise am Ende der 1920er Jahre reagiert, formuliert eine – für Ther auch gegenwärtig wegweisende – Dialektik von freiem Markt einerseits und dem Schutzbedürfnis einer Gesellschaft andererseits. Die krisenhaften Folgeerscheinungen einer liberalen und globalen Marktöffnung werden von Polanyi so gewissermaßen als selbstkritische Infragestellung hinsichtlich der Einbettung und Einhegung des Kapitalismus begriffen und führen ihn zu der Auffassung, dass der Zusammenhalt der Gesellschaft nicht ausschließlich auf monetären Füßen im Kontext von Marktverheißungen steht, sondern wesentlich begründet ist in kulturellen Gemeinschaftsvorstellungen der Integrität, Sicherheit und Ordnung. Diese anthropologisch fundierte Charakterisierung eines Schutz gewährleistenden Staates führt laut Polanyi allerdings als Extremum – und darin liegt das Dialektische begründet – in eine Pendelbewegung von demokratischem Sozialismus auf der einen und Faschismus auf der anderen Seite.

Anknüpfend an das Moment der selbstbezüglichen Systemschwäche fragt Ther nach der von Polanyi aufgeworfenen Beziehung von Marktöffnung und staatlicher Schutzfunktion: Nach in den 1950er und 1960er Jahren noch geglückten Formen kapitalistischer Einhegung beobachtet er, wie insbesondere in den 1980er Jahren (festgemacht an den politischen Agenden Margaret Thatchers und Ronald Reagans) und in radikalisierter Form nach 1989 neoliberale Narrative der Deregulierung und Privatisierung stärker um sich greifen. Die von Polanyi kritisierte Entflechtung von Wirtschaft und Politik scheint im Rahmen gegenwärtiger Gesellschaften zur oftmals unkritischen Realität geworden zu sein und stellt – so Ther – substantielle Anforderungen an die demokratische Grundverfasstheit politischer Systeme. Hochinteressant ist dabei die selbstkritische Offenlegung der Verantwortlichkeit relevanter Handlungsträger; für den Historiker bedeutet die aus der kapitalistischen Marktöffnung hervorgehende Anfälligkeit des demokratischen Systems für illiberale Tendenzen keinesfalls eine strukturelle oder theoretisch begründbare Notwendig- oder Zwangsläufigkeit. Sie ist vielmehr in Abhängigkeit zu sehen zu klar sichtbaren Regierungsagenden unter Einbindung zentraler Finanzorganisationen und reagiert zudem auf einen Argumentationsmodus der Alternativlosigkeit einer marktliberalen Agenda, den Ther als „anti- oder apolitisch“ charakterisiert. In diesem Modell stehen (globale) Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung in einem überaus nachvollziehbaren Verhältnis zu einer Art Rückstoß und Gegenreflex, der sich auf das Moment des Sozialen beziehen lässt: Gerade durch die Erklärungmarkt liberaler Positionen zu Alternativlosigkeiten und gerade in der umfassenden Grenzüberschreitung mit Blick auf wirtschaftliche, politische und kulturelle Fragen formiert sich gewissermaßen systemimmanent ein politischer Gegenentwurf rechtspopulistischer Färbung. In Reaktion auf ein als selbstreferentiell und gesellschaftlich entkoppelt empfundenes Feld der Wirtschaft, das (zumindest im Modus der Deindustrialisierung) in einen engen Zusammenhang gebracht werden kann mit dem Abbau von Sozialleistungen, versprechen – wie Ther überzeugend darlegt – rechtspopulistische Weltbilder eine verführerische Kohärenz mit Blick auf die Rolle des Staates als Schutz- und Sicherheitsinstanz im wirtschaftlichen und kulturellen Sinne.

Die derzeit schwelenden Diskussionen um einen europaweit wiedererstarkenden Nationalismus sind dazu unbedingt und endlich im Zusammenhang mit einer ganzheitlichen und selbstkritischen Perspektive auf eigene Versäumnisse und gerade unter Einbeziehung des konfliktbehafteten Verhältnisses von Kapitalismus und Demokratie sowie den Erwartungen an die soziale Rolle des Staates zu führen. Thers in Essayform vorgenommenen Analysen dazu, die sich neben dem hier vorgestellten Grundmotiv konkret auf die neueren Entwicklungen in den USA, Deutschland, Italien sowie die Entfremdungstendenzen zwischen dem Westen und Russland beziehen, sind dabei vielleicht nicht immer gänzlich neu und eher skizzenhaft. Trotzdem erweisen sie sich als vielversprechend hinsichtlich einer argumentativen Methodik, die die vielgestaltigen Transformationsprozesse nach 1989 nicht teleologisch oder alternativlos, sondern auf der Grundlage eines ganzheitlichen Handlungsmodells denkt und über diese vielleicht zielführendere Form zu sachpolitischen Antworten auf drängende Gegenwartsfragen gelangt. Dies dürfte auch die Empörungsspirale und das fortwährend argumentationsverweigernde Festschreiben von Titeln und Bezeichnungen („der Faschist Björn Höcke“, „die rechtsextreme AfD“, „die Nazis von der AfD“) außer Kraft setzen und einen politik- und interesseorientierten Zugang herstellen, der wieder virulente Themen in den Blick nimmt. In diesem Sinne würde sich das Jahr 2016, das in Thers Text durch die aus meiner Sicht fehlenden Anführungszeichen etwas alarmistisch als „Annus horribilis“ bezeichnet wird, zu einem gewinnbringenden Ausgangspunkt einer selbstreflexiven Infragestellung demokratischer Marktliberalität entwickeln, wodurch auch die thematisierte populistische Wendung zu einer Re-Vitalisierung des demokratischen Systems beitragen könnte.

Titelbild

Philipp Ther: Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
200 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127445

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