Unsere Sudetendeutschen

Zehn tschechische Perspektiven

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom Zweiten Weltkrieg bis zur „Wende“ und noch einige Jahre darüber hinaus hätten sich weder die Deutschen noch die Tschechen für die Erfahrungen, Eindrücke und Meinungen der jeweils anderen Seite wirklich interessiert, schreibt der Herausgeber im Vorwort zu einem schmalen Büchlein mit dem Titel Mein Weg zu unseren Deutschen. Zehn tschechische Perspektiven, das jede Menge Interessantes bietet. „Die kommunistische Ideologie“, so heißt es hier, „dämonisierte die Sudetendeutschen als ewige Revanchisten, auf sudetendeutscher Seite blieb man häufig zu stark auf das eigene Leid während der Vertreibung 1945 fokussiert“. In den letzten Jahren ist das merklich anders geworden, wie jüngst auch Václav Smyčka in seiner Studie Das Gedächtnis der Vertreibung mit Blick auf die deutsche und tschechische Literatur seit 1945 festgestellt hat. Dass sich die tschechisch-sudetendeutschen Beziehungen im 21. Jahrhundert spürbar entkrampft haben, belegen auch die hier versammelten Essays. Sie sind aus einer Vortragsreihe hervorgegangen, die der Adalbert Stifter Verein gemeinsam mit dem Tschechischen Zentrum München veranstaltet hat – und sie sind alle, das ist das Besondere daran, von namhaften tschechischen Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen verfasst worden. Wie blicken sie auf ihre einstigen Landsleute? Was fällt ihnen an „unseren Deutschen“ auf? Was fällt ihnen zu „unseren Deutschen“ ein?

Unter der „geschäftigen Oberfläche“ von České Budějovice (Budweis) sei deutlich zu spüren gewesen, „dass hier etwas nicht stimmt“, schreibt die 1947 dort geborene Journalistin Lída Rakušanová. „Die Erwachsenen verhielten sich irgendwie komisch. So, als würden sie ein kollektives Geheimnis hüten, über das man lieber schweigt“. Wann immer man als Kind mit seinen Freunden spielte und einen Schurken benötigte, „dann war das ein Deutscher“, erinnert sich der aus Vimperk (Winterberg) stammende Publizist Erik Tabery – das muss in den 1980er Jahren gewesen sein! Die Schriftstellerin und Übersetzerin Radka Denemarková stellt fest: „Böhmen liegt am Meer der verdrängten Erinnerungen an die ermordeten Menschen, die nicht nur in der Geschichte der Stadt Prag und Böhmens verborgen sind. Böhmen liegt am europäischen Meer der verdrängten Erinnerungen an die vertriebenen Menschen“. Ihr Kollege, der für seine Graphic Novel Alois Nebel und seinen auf Deutsch verfassten Roman Winterbergs letzte Reise mehrfach ausgezeichnete Jaroslav Rudiš, ergänzt: „Unser Europa ist doch genau das. Eine unglaublich schöne Landschaft der Schlachtfelder und Friedhöfe und Ruinen. Alles so schön, alles so grausam“. Der Historiker und Verleger Jiří Padevět, für den die tschechisch-deutsche Geschichte von 1848 bis 1990 von allseitiger „Dummheit“ geprägt ist, erinnert an einen weithin Unbekannten, den 1894 geborenen Johann Oppolzer, der 1945 einigen Menschen das Leben gerettet hat und dem dafür niemals gedankt wurde. Wie polykulturell es sich einst in Brünn lebte, wie man dort sprach – im Brünner Dialekt, dem sogenannten Hantec, „ein Gemisch aus Tschechisch, Deutsch und Jüdisch“ – und was sich nach 1945 in Brno abspielte, erläutert die 1980 dort geborene Kateřina Tučková, die Autorin des Romans Vyhnání Gerty Schnirch (Gerta. Das deutsche Mädchen). Genau das ist auch das Thema des ältesten und vielleicht bekanntesten Beiträgers, des mittlerweile 83-jährigen Schriftstellers und Politikers Milan Uhde, der darauf hinweist, dass viele Ältere, darunter seine Eltern, „in der Protektoratszeit ein Drama durchlebt hatten, das tiefe Spuren hinterlassen hat“.

Liest man dieses kleine, gehaltvolle, zum Über- und Weiterdenken anregende Buch – und das sollte man unbedingt tun –, gewinnt man rasch den Eindruck, dass noch einiges zu tun bleibt im deutsch-tschechischen Verhältnis, trotz aller Entkrampfung der letzten Jahre und Jahrzehnte. Die unheilvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts hat auf beiden Seiten tiefe Narben hinterlassen, die gelegentlich noch ganz schön jucken können. Lída Rakušanová vergisst nicht zu erwähnen, dass „die Angehörigen der deutschen Minderheit vom tschechischen Staat bis zum heutigen Tag nicht nur keine Entschädigung bekommen“, sondern auch „kein Wort der Entschuldigung“ gehört haben – und dass sie „unsere Deutschen“ dafür bewundert, „dass sie sich damit so friedlich und ohne Verbitterung abgefunden haben“. Nach wie vor weiß man nicht genug über den jeweils Anderen, nach wie vor gibt es kleine und größere Irritationen zwischen Tschechen und Deutschen. Selbst ein so erfahrener Diplomat wie der kenntnisreiche Übersetzer Tomáš Kafka muss einräumen: „Der große deutsche Nachbar birgt für mich in sich so viele Fragen, Weisheiten und Geheimnisse, dass ich damit Zeit meines Lebens wohl niemals richtig fertig werde“.

Titelbild

Wolfgang Schwarz (Hg.): Mein Weg zu unseren Deutschen. Zehn tschechische Perspektiven.
Lichtung Verlag, Viechtach 2019.
159 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783941306844

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