Geteilte Erinnerungen

Joachim Król und Lucas Vogelsang reisen in „Was wollen die denn hier?“ von West nach Ost

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach den Dreharbeiten von Wir können auch anders (1993), dem Nachwende-Roadmovie von Detlev Buck, hatte sich Joachim Król geschworen, noch einmal zu den Drehorten im Osten Deutschlands zurückzukehren. Um „dieses andere Deutschland“ kennenzulernen, ja vielleicht sogar zu verstehen: „Da ist ja noch so viel, da lauern die Geschichten. An jeder Ecke. Hinter jeder Tür, man muss einfach nur anklopfen.“ Zu ergründen, was das eigentlich war, die DDR, und was von ihr übrig geblieben ist 30 Jahre nach der Wende – sowohl an den einschlägigen Orten als auch in den Köpfen der Menschen. So fährt er, den Reporter Lucas Vogelsang im Gepäck, von Herne im Ruhrgebiet über Hannover, Marienborn und Berlin nach Boltenhagen.

Auf der Reise kommt es zu Begegnungen und Gesprächen mit einem guten Dutzend Menschen, die alle etwas mit dem untergegangenen Land im Osten verbindet, sei es in negativer, sei es in positiver Hinsicht. Beispielsweise trifft Król eine ehemalige Polizistin der DDR, die am 7. November 1989, zwei Tage vor der Grenzöffnung, über die Tschechoslowakei in die BRD flüchtete. Nach der Wende vertickte sie Bausparverträge im Osten, eine Rückkehr dorthin konnte sie sich jedoch nicht vorstellen, also pendelte sie jede Woche von Bochum, ihrer neuen Wahlheimat, nach Magdeburg und zurück. In Marienborn, dem bedeutendsten Grenzübergang an der innerdeutschen Grenze während der Teilung, steht ein Treffen mit einem ehemaligen Grenzer an, dem auch 30 Jahre danach die dort verbrachte Dienstzeit noch lebendig vor Augen steht. Während er sich als Wendegewinner sieht, ist das längst nicht bei allen Gesprächspartnern im Buch der Fall. Das wird zum Beispiel beim Gespräch mit einem Koch aus dem Landkreis Oberhavel deutlich: „Hier, sagt Tartsch, gab es keine Gewinner. Die Gewinner kamen aus dem Westen. Er sagt: ihr und wir. Er sagt: uns und euch. Dort, zwischen ihm und Joachim, verläuft jetzt die Grenze. Von mir aus, sagt er schließlich, hätte der Kohl die Mauer noch drei Meter höher bauen können. So viel Schrott, wie aus dem Westen kam.“ Solche stereotypbehafteten Aussagen kennt man zur Genüge, keine Frage, aber die ungeschminkte Wucht, mit der sie hier vorgetragen werden, erschüttert dann doch. Immer wieder dieselben Ressentiments, auch knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung – die Mauer in manchen Köpfen höher denn je.

Während seit 1989 über vier Millionen Menschen vom Osten in den Westen gezogen sind, war es in die umgekehrte Richtung nur ungefähr die Hälfte: „Der ganz große Austausch der Deutschen ist bis heute ausgeblieben.“ Über diejenigen, die sich entgegen der Mehrheit im Osten niederließen, ist im Nachwendediskurs meist recht wenig zu lesen. Umso erfreulicher ist das Gespräch Króls mit einem Ehepaar, das im Frühjahr 1991 von Göttingen in ein Dorf in der Magdeburger Börde zog und dort trotz einer schwierigen Startphase heimisch geworden ist. Es gehört zu den interessantesten in Was wollen die denn hier?, weil man in ihm auch einmal ‚die andere Seite‘, die oft vergessene hört. Man erfährt, welche Beharrlichkeit, Geduld und Entbehrungen vonseiten der Zugezogenen nötig waren, um das Vertrauen der Dorfbewohner zu erlangen. Und wie lange Letztere gebraucht haben, sich zu öffnen. Die Kinder des Ehepaars haben dabei eine nicht geringe Rolle gespielt.

Auch wenn einige der Reportagen im Band nicht allzu viel Neues zu bieten haben, so zeichnen sie doch ein Kaleidoskop an unterschiedlichen Stimmen und Meinungen zur deutsch-deutschen Vergangenheit und Gegenwart. Sie zeigen auf, dass längst nicht alle Gräben überwunden, ja diese zum Teil größer geworden sind seit dem Mauerfall. Nicht überall finden sich „blühende Landschaften“. Auch wenn es den meisten Menschen im Osten Deutschlands (deutlich) besser als vor der Wende geht, so gibt es einen nicht zu vernachlässigenden Teil, der sich abgehängt und benachteiligt fühlt. Das wird nicht nur in den Gesprächen, sondern auch mit Blick auf die Ergebnisse der diesjährigen Landtagswahl in Thüringen sichtbar. Klar wird jedoch ebenso, dass das Problem strukturschwacher Regionen und das Gefühl des Abgehängt-Seins kein genuin ostdeutsches ist. Das konstatiert auch Joachim Król auf der Fahrt durch das Ruhrgebiet: „Eigentlich, sagt Joachim, brauchen wir jetzt einen Aufbau West.“

Król hat ein Händchen, mit seinen Gesprächspartnern in Kontakt zu kommen und ihnen die richtigen Fragen zu stellen. Welche Rolle Lucas Vogelsang, der die Reportagen verfasst hat, bei den Begegnungen gespielt hat, wird nicht ganz deutlich. Zwar ist er stets anwesend, bleibt als Chronist aber sehr im Hintergrund, zumindest machen das die versammelten Texte glauben. Seine Reportagen lesen sich gut, auch wenn sie an der einen oder anderen Stelle etwas zu bemüht witzig wirken. Vor allem die zuweilen eingestreuten Wortspiele – „Heuschnupfen statt Honecker“ oder „Altkader wie Altkleider“ – nerven etwas. Insgesamt ist Was wollen die denn hier? aber sicherlich eine der interessanteren Publikationen zum Wende-Jubiläum.

Titelbild

Lucas Vogelsang / Joachim Król: Was wollen die denn hier? Deutsche Grenzerfahrungen.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019.
269 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783498070717

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch