Privatführung durch verstaubte Charakterstudien

Brigitte Kronauers postum veröffentlichter Roman „Das Schöne, Schäbige, Schwankende“ zeigt 39 verblichene Porträts

Von Ksenia GorbunovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ksenia Gorbunova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Charlotte zieht sich ins Haus eines Ornithologen zurück, um an ihrem neuen Roman zu schreiben. Er soll den Kritiken zu ihren bisherigen Werken begegnen und zeigen, dass sie auch anders schreiben kann. Die Vogeldarstellungen in dem gemieteten Haus inspirieren und verstören sie gleichermaßen. Sie plant eine perfekt strukturierte Handlung. 39 Figuren – jede abgeleitet von einer Vogelart – teilt sie drei Gruppen zu: Die Schönen, deren herausragende Persönlichkeiten sich erst zum Schluss gewissermaßen als Plottwist offenbaren; die Schäbigen, die ins Verderben stürzen, trotz ihrer anfänglich guten Position; und die Schwankenden, die in einer individuellen Mischung die beiden anderen Kategorien vereinen.

Doch der Plan geht nicht auf. Der Ornithologe und seine Frau kehren nach einem Unfall frühzeitig zurück. Charlottes präzise Komposition kommt aufgrund ihrer plötzlichen Abreise durcheinander. Sie arbeitet mit den Bruchstücken, den Notizen, die sie während ihres kurzen Aufenthalts gesammelt hat. Dabei entsteht kein Roman, vielmehr sind es „Romangeschichten“, eine Art neue Gattung, der sich Brigitte Kronauer als Kategorisierung ihres letzten Romans bedient. Die Romangeschichten erschienen kurz nach Kronauers Tod im Sommer 2019 und werden oft als Zusammenführung ihres gesamten Schaffens präsentiert. Kommt diese letzte Veröffentlichung allerdings wirklich an die anderen Werke der preisgekrönten Autorin heran?

Auf den metareferentiellen Einstieg folgt das, was Charlotte geschrieben hat. Die meisten Porträts der vogelartigen Menschen und der menschenartigen Vögel präsentieren sich jeweils auf zehn Seiten. Mal passen Lebensabrisse, mal lediglich Momentaufnahmen in diese kurzen Abschnitte. In den ersten Romangeschichten erkennt man sogar die von Charlotte anvisierte Handlungsstruktur. Aber auch die darauf folgenden Geschichten ufern nicht in eine Vielfalt an Perspektiven, Erzählstimmen und Handlungsverläufen aus. Man verbleibt stets bei dem strengen Blick von Chrarlotte, die zwar ein vermeintliches Interesse für ihre Figuren zeigt, jedoch in ihren starren Kategorien verharrt, die für die vorgestellten Figuren manchmal zu eng sind.

Trotz einzelner Spitzfindigkeiten und humorvoller, pointierter Passagen, die man sich als  Aphorismen bewahren kann, ist Kronauers Sprache insgesamt recht antiquiert. Die Charaktere scheinen aus der Zeit gefallen. Wie verglaste, angestaubte Ausstellungsstücke in einem Volkskundemuseum schaut man sie im Vorbeigehen an. Manche sind etwas faszinierender und ergreifender als andere. Der Großteil von ihnen entgleitet jedoch dem Gedächtnis, spätestens beim übernächsten „Exponat“, denn diese Menschenstudien sind zu stereotyp, die Wendungen am Ende der Abschnitte zu erwartbar und der Weg zu ihnen ungerechtfertigt langatmig. Oberflächliche Begegnungen mit Figuren, die nicht genug Eigensinn besitzen, um die Leserschaft zu berühren. Genauso leblos wie die Vögel im Haus des Ornithologen sind die Schemen, die Kronauer in einer willkürlichen Aneinanderreihung vorstellt. Dass die Vogelbilder Charlotte als Inspiration für die kargen Romangeschichten dienen, ist kaum zu übersehen, denn die Figuren sind ebenfalls aufgeplustert mit vermeintlich tiefer Bedeutung und stehen doch steif und kühl nebeneinander.

Die Schwäche des Romans rettet auch nicht seine Umbenennung in Romangeschichten und die metafiktionale Reflektion der Erzählerin über die eigenen Schwierigkeiten beim Schreiben. Als Warnung wäre die Ankündigung der Erzählerin im ersten Teil des Romans zu lesen, dass sie in dem Roman nicht das geschafft habe, was sie ursprünglich plante, dass die Figuren sich verselbstständigt hätten. Doch von einer Selbstständigkeit der Figuren kann nicht die Rede sein: Ihre Sprache ist die Sprache der Erzählerin, ihre Eigenschaften werden diktiert und leider beachtlich eingeschränkt, durch den Blick der fiktiven Autorin. Sie stellt sich zwar selbst den Anspruch, über Milieus und Schichten hinweg unparteiisch das Leben anderer zu beobachten. Dennoch tritt sie an jede neue Figur mit einer gewaltigen Portion Vorannahmen heran und weicht von diesen auch dann nicht ab, wenn ein einschneidendes Ereignis das Gegenteil offenbart.

Der erfahrenen fiktiven Autorin wohnt zudem eine gewisse Arroganz inne, etwas Besserwisserisches. Sie urteilt und verurteilt, versteht sich bei vielen Figuren wohl als eine Chronistin der Verbleichenden, Einsamen und Missverstandenen, doch bleibt sie dabei selbst aufgrund ihrer Sprache bleich, unterkühlt und distanziert. Im letzten Porträt klamüsert Kronauer wie mit einer Pinzette Grünewalds „Isenheimer Altar“ auseinander. Die Beobachtungen entstehen in den Momenten tiefster Ergriffenheit der einzigen Figur, die neben der fiktiven Schriftstellerin aus der Ich-Perspektive sprechen darf – und trotzdem bleiben die Beschreibungen auf seltsame Weise steril und glatt.

Kronauers letztes Werk hat aber auch etwas Entschleunigendes. Es ermöglicht das Erleben von Wahrnehmungen und Denkmustern, die einer vergangenen Zeit entstammen. Das spricht womöglich eher ein älteres Publikum an. Abgesehen davon sind die Geschichten jedoch Zeugnis einer überholten Sprache und altmodischer Kategorien. Eine mitreißende Lektüre darf man von ihnen leider nicht erwarten.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Brigitte Kronauer: Das Schöne, Schäbige, Schwankende. Romangeschichten.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2019.
596 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783608964127

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