Friedliche Revolution

Zum Themenschwerpunkt „30 Jahre Mauerfall“ in der November-Ausgabe von literaturkritik.de

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Unvergessen sind die Bilder vom 9. November 1989: Wildfremde Menschen liegen sich schluchzend in den Armen, von Weinkrämpfen geschüttelt, andere hüpfend, jubelnd, schreiend, wild um sich schlagend vor Freude. Das Wort „Wahnsinn“ hat Hochkonjunktur. Unfassbar, was gerade passiert. Fast 30 Jahre eingezwängt in einem abgeriegelten Land, nun plötzlich frei. Die Mauer offen – ein Glücksfall der Geschichte. Kaum einer hat damit gerechnet, dass sie an diesem Abend fallen sollte. Der Mauerfall besiegelte das Ende der SED-Diktatur.

Dabei hätte alles auch ganz anders kommen können. Noch einige Monate vorher, am 3. und 4. Juni 1989, wurden die Proteste der chinesischen Bevölkerung, die durch die Reformen in der Sowjetunion ermutigt waren, auf dem Tianʼanmen-Platz in Peking vom chinesischen Militär blutig niedergeschlagen. Lange befürchtete man, dass ein solches Massaker auch in der DDR möglich sein könnte. Ganz aus der Luft gegriffen war das nicht, wie eine Verlautbarung eines Kampfgruppenkommandeurs am 6. Oktober 1989 in der Leipziger Volkszeitung zeigt: „Wir sind bereit und Willens, das von uns mit unserer Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um die konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand!“ Als sich am 9. Oktober über 70.000 Demonstranten zur Leipziger Montagsdemonstration versammelten, war die Stimmung zum Zerreißen gespannt, doch Leipziger SED-Funktionäre entschieden sich letztlich gegen ein gewaltsames Eingreifen. Später brüstete sich Egon Krenz, der noch am 1. Oktober zum 40. Jahrestag der Volksrepublik nach China gereist war und die blutige Niederschlagung des dortigen Protests ausdrücklich befürwortet hatte, dass er für den friedlichen Ausgang der Demonstrationen in der DDR verantwortlich gewesen sei. Hier blitzt das gesamte Ausmaß der Schizophrenie und Verblendung der ehemaligen DDR-Führung noch einmal auf.

Ein wichtiger Schritt zum Mauerfall war die Demonstration – mit ca. einer halben Million Demonstranten die größte in der Geschichte der DDR – am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, die von Ost-Berliner Theaterschaffenden organisiert wurde. Auf ihr zeigte sich ganz besonders, dass sich das Klima in der DDR gewandelt hatte. Stefan Heym, unermüdlicher Kritiker der SED-Herrschaft, äußerte sich in seiner Rede emphatisch: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen, nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit – welche Wandlung.“ Und auch Christa Wolf zeigte sich begeistert in ihrer Rede, wenn auch mit warnendem Unterton, über die Entwicklungen: „Große soziale Bewegungen kommen in Gang, soviel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander geredet worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit soviel Zorn und Trauer, und mit soviel Hoffnung.“ Dass sich diese Hoffnungen vor allem auf eine demokratisch und sozialistisch reformierte DDR bezog und nicht auf eine schnelle Wiedervereinigung zeigten die späteren enttäuschten, ja desillusionierten Äußerungen und Texte vieler Schriftsteller und Intellektueller in der DDR. Der Mauerfall, der das Ende der DDR einleitete, und die folgende schnelle Annäherung an die BRD lösten nicht bei allen so große Begeisterungsstürme aus wie die anfangs geschilderten – doch das ist schon wieder ein anderes Thema.

Die November-Ausgabe von literaturkritik.de versammelt zahlreiche Rezensionen zum Mauerfall vor 30 Jahren. Der Schwerpunkt liegt dabei, anders als bei unserer Ausgabe zu „25 Jahre Deutsche Einheit“ im Oktober 2015, neben den Rückschauen auf das Jahr des Mauerfalls nicht so sehr auf den literarischen Entwicklungen nach 1989, sondern eher auf den sozialen und gesellschaftspolitischen. Da derzeit noch nicht alle Rezensionen vorliegen und in den nächsten Tagen weitere Bücher zu Mauerfall und Wiedervereinigung (unter anderem zu/von Christa Wolf) erscheinen werden, wird der Themenschwerpunkt im Laufe des Monats weiter ausgebaut.

Wie immer bedanke ich mich bei allen, die zum Gelingen der Ausgabe beigetragen haben!

Erhellende Lektüren und einen friedlichen (Bücher-)Herbst wünscht

Stefan Jäger