Emphatisches Leben im Falschen

Robert M. Zoskes Biografie gibt Einblick in das kurze, intensive und widerständige Leben Hans Scholls

Von Paul GeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paul Geck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So richtig nahe tritt er einem nicht, der junge Hans Scholl (1918–1943), dessen nur 24 Jahre währendes Leben der evangelische Pfarrer Robert M. Zoske nun unter dem emphatischen Scholl-Zitat „Flamme sein!“ zu beschreiben und verstehen versucht hat. Dabei konzentriert sich Zoske auf die vorliegenden Schriften Scholls, Briefe, kurze Tagebucheinträge und vor allem Gedichte, die der Biograf als das „verdichtete Leben eines Romantikers“ bezeichnet. Das erscheint treffend, tritt doch der Wille zum intensiven Leben – „Ganz leben oder gar nicht!“ – sowie der Zwiespalt von Sehnsucht und Erfüllung, Verlangen nach Einsamkeit und Begehren nach Intimität in Scholls Leben überaus deutlich hervor.

Hin- und hergerissen war Scholl auch in seinem sexuellen Begehren, das von Zoske zum zentralen inneren und äußeren Konflikt erklärt wird. Der Moment, in dem man gegen Scholl einen Prozess gemäß Paragraph 175 anstrengt und ihm Homosexualität sowie den Missbrauch von Untergebenen vorwirft, wird für den 16-Jährigen zum Wendepunkt in seiner Beziehung zum nationalsozialistischen Staat. Schon vorher war der Einfluss seiner bündischen Jugendgruppe wichtiger für ihn geworden als seine Rolle als Fähnleinführer in der Hitlerjugend. Innerhalb der von ihm nach einem George-Gedicht „Trabanten“ getauften Gruppe kam es zu sexuellen Kontakten zwischen den Jungen, vor allem zwischen Scholl und dem zwei Jahre jüngeren Rolf Futterknecht. Mit diesem habe ihn, so Scholl, eine „übersteigerte Liebe“ verbunden. So spricht er von keiner seiner späteren, jeweils recht kurz andauernden Beziehungen mit Frauen. Dieser Aspekt der laut den Quellen zumindest zeitweise ungewissen sexuellen Orientierung Scholls wurde lange Zeit nicht beachtet und wird von Zoske zu Recht betont. Mehr als irritierend ist allerdings die an späterer Stelle erfolgende Parallelisierung von Scholls und Stefan Georges „hebephiler“ Sexualität. Die Kritik eines Freundes von Scholl an dem von ihm bewunderten Stefan George als „konservativ-katholische, homophob-verletzende Polemik“ zu bezeichnen, ist eine grobe Verharmlosung der Missbrauchsgeschichten, die vom George-Kreis bekannt geworden sind.

Die Hinwendung Scholls zum Widerstand, die in der Abfassung des ersten Flugblatts der Weißen Rose im Juni 1942 gipfelte, ist ein langsamer Prozess, der Teil eines Wunsches nach „Läuterung“ ist: „Ich will, dass alle Schatten von mir weichen. Ich suche mich, nur mich“, so ein Tagebucheintrag Scholls im September 1939. Es ist ebenfalls ein Prozess der Hinwendung zum christlichen Glauben, scheinbar ohne festen kirchlichen Bezug. Scholl stammte zumindest mütterlicherseits aus einer frommen Familie. Die Kontakte mit den Katholiken Carl Muth und Theodor Haecker sowie die Freundschaft mit dem russisch-orthodoxen Alexander Schmorell führten dem suchenden Scholl einen geistig weiten christlichen Glauben vor Augen, der auch seine emotionale Seite ansprach. Unheimlich dicht ist die Beschreibung der letzten Stunde Scholls und das gemeinsame Abendmahl mit seiner Schwester Sophie vor ihrer Hinrichtung. Die Rückbesinnung auf die Werte und Praktiken des Christentums verstanden die Geschwister und ihr Kreis als Weg aus der Katastrophe, in die sich ihr Volk verstrickt hatte. Sie sahen darin einen Hoffnungsstrahl, der sie zum Handeln motivierte: „Wenn Christus nicht gelebt hätte und nicht gestorben wäre, gäbe es wirklich gar keinen Ausweg. Dann müsste alles Weinen grauenhaft sinnlos sein. Dann müsste man mit dem Kopf gegen die nächste Mauer rennen und sich den Schädel zertrümmern. So aber nicht“, schreibt Hans Scholl 1942 in Russland während eines medizinischen Frontpraktikums.

Gewünscht hätte man sich, von Zoske mehr über das Verhältnis von Hans zu seiner Schwester Sophie zu erfahren, das in ihrem letzten Lebensjahr eine enorme Entwicklung erfahren haben muss. Auch der Einfluss seiner Eltern, die von Alexander Schmorell als „Ausnahmeerscheinung“ bezeichnet werden, wird wenig beachtet. Über sein Beziehungsnetz, von den bündischen Freunden über seine Geschwister zu den Münchner Freunden wäre sicher mehr zu sagen gewesen. War Hans Scholl tatsächlich so eigenständig, wie er aus seinen Schriften hervortritt? Die Konzentration auf diese Quellen, für die sich Zoske in der Spur seiner Dissertation über die religiöse Entwicklung Hans Scholls entschieden hat, begünstigte diese Perspektive.

Hervor tritt in der Biografie Zoskes ein Hans Scholl mit starken individualistischen Tendenzen, ein dem Schwärmerischen zugeneigter sensibler Kopf, dessen Gedichte mehr für starke Gefühle als für Formbewusstsein und sprachliche Eleganz stehen. Unmittelbar sympathisch wirkt er auf den Leser nicht. Es ist aber gerade das Unberechenbare, Impulsive, das Unbeugsame in seiner Gestalt, das beeindruckt. Hans Scholl hat seinen Kampf für individuelle Freiheit und gegen die Herrschaft des Terrors mit überraschender Konsequenz geführt, mit einem klaren Blick für die Gefahren, denen er sich aussetzte. Er tat dies, wie es der Schriftsteller Arno Geiger einmal über seine Romanfiguren schrieb, nicht als „Hundertprozentiger“, sondern als „Grauer“, als einer, der etwas „taugt durch das, was ihm fehlt“. In der Biografie Flamme sein! bekommt Hans Scholl dafür den ihm gebührenden Raum.

Titelbild

Robert M. Zoske: Flamme sein! Hans Scholl und die Weiße Rose. Eine Biografie.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
368 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783406700255

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