Gedichte in Prosa

Charles Baudelaires „Le Spleen de Paris“ in einer neuen Übersetzung

Von Gerhard PoppenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Poppenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als vor zwei Jahren die Neuübersetzung von Charles Baudelaires Fleurs du mal im Rowohlt Verlag erschien, wurde sie allenthalben gerühmt. Nun haben der Verlag und der Übersetzer Simon Werle auch das von Baudelaire geplante zweite, aber nicht vollendete große Werk, Le Spleen de Paris, in neuer Übersetzung vorgelegt, ergänzt um die frühen Gedichte sowie ein Drama und eine Erzählung. Das ergibt schon fast eine kleine Werkausgabe Baudelaires, der zu den bedeutendsten und prägendsten Dichtern der Moderne gehört. Zu wünschen ist, dass die beiden Bände mit den Dichtungen noch um einen mit Baudelaires nicht minder einflussreichen Essays ergänzt werden.

Simon Werle ist einer der besten Übersetzer aus dem Französischen. Deshalb hat er 2017 besonders auch für die Übersetzung der Fleurs du mal den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis erhalten. Auch die Übersetzung der Prosa-Gedichte ist sehr gut lesbar und dem Original durchweg angemessen. Im Detail wird jeder, wenn er die deutsche Version mit dem französischen Original vergleicht, Stellen finden, die er selbst eventuell anders verdeutsch hätte. Aber das zeigt die Deutungsspielräume der Prosa-Gedichte sowie der verschiedenen Sprachen.

Nach den Fleurs du mal wollte Baudelaire seine dichterische Diagnose des modernen Lebens durch ein zweites Werk ergänzen, für das er eine neue Gattung entwickelte: das Prosa-Ge­dicht. Prosa und Poesie sind traditionell streng getrennt; eine poetische Prosa ist deshalb geradezu ein Oxymoron. Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatte in den Vorlesungen über die Ästhetik die dichterische Vorstellung der Phantasie und dem Bildlichen, die prosaische Vorstellung der Vernunft und der Bedeutung zugeordnet. Die Dichtung ist dann die höchste Form der „Versinnlichung des Geistes“, die aber „über sich selbst hinaussteigt“ und „in die Prosa des Denkens hinübertritt“. Gegen deren Objektivität bleibt die Dichtung ein Ausdruck der „inneren Subjektivität“. Baudelaire charakterisiert das Prosa-Gedicht geradezu gegen die Bestimmung des Philosophen, obwohl er sie mit Sicherheit nicht gekannt hat; das erwächst aus dem Wesen der Sache selbst. Das „Wunder einer poetischen Prosa“ soll die „lyrischen Regungen der Seele“, das „hin-und-her-Wogen der Träumerei“ sowie die „Zuckungen des Bewusstseins“ zum Ausdruck bringen. Es soll sowohl lyrisch wie prosaisch sein und gleichermaßen der objektiven „Prosa des Denkens“ wie der „inneren Subjektivität“ der Poesie eine Gestalt geben. Es soll Denken und Dichten in einem sein.

Das „Ideal“ dieser hybriden Gattung entsteht „aus dem ständigen Kontakt mit den Riesenstädten, aus dem Ineinander ihrer zahllosen Beziehungen“. Werle erinnert in seinem instruktiven Nachwort daran, Baudelaire habe für die Fleurs du mal auch den Titel Les Limbes erwogen. Der Limbus ist in der christlichen Jenseits-Architektur der Ort, der zwar nicht zur Hölle gehört, der aber gleichwohl von der paradiesischen Seligkeit ausgeschlossen ist. So kann er zur Figur des Grau in Grau der modernen Großstadt werden. Das Prosa-Gedicht ist demnach die Gedankenform der Großstadt als der modernen Vergesellschaftungsform schlechthin. Das verändert das Konzept des Dichters, so zeigt Der verlorene Nimbus. Der Dichter hat im „wogenden Chaos“ des Boulevards seinen überweltlichen Nimbus verloren. Sein Inspirationsmedium ist jetzt der banale Alltag der Großstadt. Das Ideale liegt in der unermesslichen Vielfalt des Realen selbst. Das ist Baudelaires Deutung der christlichen Version Gottes: der Inkarnation. Auch der Dichter muss sich in die untersten Niederungen der Welt begeben und sie in Dichtung verwandeln.

Die beiden Elemente der hybriden Form des Prosa-Gedichts sind auf verschiedene Weise miteinander verbunden. Baudelaire hatte in einem Plan für das Werk drei Blöcke vorgesehen. In einem sollte es um Angelegenheiten aus der Großstadt Paris gehen, in einem zweiten Träumereien und Tagträume dargestellt, und in einem dritten moralistische Fragen behandelt werden. Die Träumereien bilden eine Ebene über der Alltagswirklichkeit. Baudelaire nannte sie Übernatur (surnaturalité). Sie kann durch Tagträume, Drogen oder Dichtung erzeugt werden.

Das Prosa-Gedicht Der Kuchen zeigt, wie prekär diese Übernatur ist. Ein Reisender macht unterwegs Rast und verzehrt sein Brot. Ein „kleines Wesen, zerlumpt und struppig“ bittet ihn mit „flehenden Augen“ um ein Stück „Kuchen“ – so erscheint ihm das „fast weiße Brot“. Als der Mann ihm ein Stück Brot gibt, stürzt sich ein anderer „kleiner Wilder“ auf den ersten, und beide kämpfen so erbittert miteinander, dass es schließlich „kein Objekt des Kampfes mehr gab; das Stück Brot war verschwunden, in Krümel zerstreut“. Die phantastische Übernatur ist nicht nur nichtig, denn der Kuchen ist gar keiner, die Überlagerung der materiellen Wirklichkeit durch sie kann auch die Wirklichkeit selbst zunichtemachen. Zudem zeigt der Kampf das Irrige des Glaubens, „der Mensch sei von Natur aus gut“. Der „brudermörderische Krieg“ um den „Kuchen“ zeigt ihn von Natur aus böse.

Die Übernatur kann auch im Kontakt mit Menschenmassen entstehen. „Die Masse zu genießen ist eine Kunst“, heißt es in Die Massen. Dichterische Naturen sind dazu begabt, weil sie „nach Lust und Laune“ sie „selbst und jemand anderes sein“ können. Die „universelle Kommunion“ des „Bads in der Masse“ erzeugt „einen eigentümlichen Rausch“ aus „febrilen Genüssen“. Das ist eine „unaussprechliche Orgie“ und „heilige Prostitution der Seele“. Eine solche Aufladung der modernen säkularen Welt mit Elementen des Religiösen zieht sich leitmotivisch durch die Prosa-Ge­dichte. Der Geruch von Backfett auf einem Jahrmarkt beispielsweise ist der Weihrauch des Fests, die Jahrmarktsbude der Altar.

Die ineinander verschränkten gegensätzlichen Dimensionen – alltäglich-fest­lich, arm-reich, hässlich-schön, wirklich-phantastisch, weltlich-überweltlich – haben ihren virtuellen Fluchtpunkt in dem Gegensatzpaar von Gut und Böse, aus dem auch den Fleurs du mal der Gehalt erwächst. In dem Prosa-Gedicht Der schlechte Glaser schildert ein Ich, wie es eines Morgens „schlecht gelaunt“ sowie „traurig, erschöpft vom Nichtstun“ aufgestanden ist und beim Blick aus dem Fenster auf einen fliegenden Händler mit Glasscheiben auf dem Rücken von einem „überwältigenden Hass ergriffen“ wird. Er ruft ihn zu sich herauf in den sechsten Stock und stellt sich mit „Schadenfreude“ vor, wie mühselig der Aufstieg für den Mann ist. Er schickt ihn, weil er keine bunten Gläser, „keine Zaubergläser, keine Gläser für das Paradies“ hat, sofort wieder hinunter und wirft ihm, unten angekommen, einen Blumentopf in seine Traglade, so dass sein „Hausierervermögen“ zersplittert. Das Ungeheure der Tat rechtfertigt er mit der Begründung: „Was schert die Ewigkeit der Verdammnis den, der eine Sekunde lang die Unendlichkeit der Lust gekostet hat?“

Die reine Lust am Bösen, die es nicht um eines anderen Guten willen, sondern um seiner selbst willen tut, gilt traditionell als das radikal Böse. Das Prosa-Gedicht macht auch deutlich, dass dieses Böse zwar aus einer Gemütslage hervorgeht, die „im Urteil der Ärzte hysterisch“ genannt wird, dass sie aber „im Urteil derer, die ein wenig besser denken können als Ärzte, satanisch“ zu nennen ist. Die Fleurs du mal hatten versucht, das Schöne aus dem Bösen zu ziehen. Der Spleen de Paris zeigt die Wirklichkeit des Bösen. Beide Werke versuchen sich an einer poetischen Theodizee der Moderne.

Eines der in dieser Hinsicht abgründigsten Stücke ist Der großzügige Spieler. Ein Ich wird von einem Unbekannten, den es aber sofort erkennt, in eine „unterirdische, gleißend helle Be­hausung“ geführt, wo eine „erlesene, wenn auch zu Kopf steigende Atmosphäre“ herrscht, „die einen fast augenblicklich sämtliche lästigen Schrecknisse des Lebens vergessen ließ“. Die Anwesenden zeigen in ihren Blicken „das Entsetzen vor der Langeweile (ennui)“ und den „unsterblichen Drang, sich leben zu spüren“. Sie sind Prototypen des modernen Hedonisten, der Spaß um jeden Preis will. Und das Ich fühlt „brüderliche Sympathie“ mit ihnen.

Auch den Gastgeber empfindet er schon bald als guten alten Freund. Er hat ihm beim Spiel seine Seele verpfändet und verloren. Diese Gestalt der Übernatur erscheint ihm ohnehin als „Ungreifbares“, „Unnützes“, gar „Störendes“, so dass der Verlust ihn kaum mehr betrifft als der Verlust einer Visitenkarte. Beim Gespräch über die „große Idee des Jahrhunderts“, den Fortschritt, wird „Seine Hoheit“ lebhaft. Er begrüßt den Kampf der Aufklärung gegen den Aberglauben und sagt, er habe nur einmal Angst gehabt, als ein „etwas feinsinnigerer“ Geistlicher sagte, man solle beim Lob des Fortschritts der Aufklärung nie vergessen, „dass die schönste List des Teufels darin besteht, euch glauben zu machen, es gebe ihn nicht“.

Die Aufklärung und ihre Folgen, also die Moderne – so impliziert der Gedanke, den allerdings ein Geistlicher entwickelt –, ist eine List des Teufels, die desto stärker wirkt, als sie bewirkt, dass wir nicht mehr an ihn glauben. Er selbst betreibt den Kampf gegen den Aberglauben, weil mit dem Glauben an Gott auch der an den Teufel abgeschafft wird, der dann –  so der Geistliche, der selbstverständlich noch an ihn glaubt –, freies Spiel hat. Die fortschrittsgläubige und hedonistische Moderne ist in dieser Perspektive die Folge der vollends aufklärten Erde.

Der „alte Bock“ beschließt am Ende, – die französische Redewendung vom bon diable wörtlich nehmend –, sich als guter Teufel zu erweisen. Er gewährt die Gunst, den „nicht wieder gut zu machenden Verlust der Seele wettzumachen“. Die Gnade des Teufels besteht darin, die Langeweile (Ennui) – „die Quelle all Ihrer Krankheiten und all Ihres elenden Fortschritts“ – zu besiegen. Der Ennui, der Überdruss der schwermütigen Langeweile, ist das Übel aller Übel, le mal du siècle, das Übel der säkularen Welt, das Säkulare selbst. Und der Teufel bietet an, für den Rest des Lebens in einem irdischen Paradies zu leben, wo jeder Wunsch erfüllt werde. Weil der Mann ein „unheilbares Misstrauen“ gegenüber dem alten Widersacher verspürt, bittet er schließlich in einer steilen Pointe bei seinem „aus stupider Gewohnheit“ verrichteten Nachtgebet: „Mein Gott, mach dass der Teufel mir Wort hält!“

Die Figur des guten Teufels ist abgründig. Gibt er sich nur als Guter aus – so die traditionelle Deutung –, um die Menschen zum Bösen zu verführen, oder ist er in diesem Fall wirklich gut? Ist die Überwindung des Ennui ein scheinbares oder ein wahrhaftes Gut? Wenn es eine wahrhafte übernatürliche Ordnung Gottes gibt, ist sie nur scheinhaft. Unter den Bedingungen einer säkularen Welt ist sie möglicherweise wirklich gut. Die Unterscheidung hängt davon ab, ob das Ich als aufgeklärter Zeitgenosse an den Teufel glaubt oder nicht, ob die Aufklärung eine Befreiung von allem Religiösen ist oder ob sie das Überweltliche nur scheinbar abgeschafft hat. Wenn der Mann am Ende Gott als Gehilfen des Teufels erbittet, geraten alle Kriterien durcheinander. Das Prinzip des Guten wird zum Mittel des Prinzips des Bösen. Der Teufel handelt nicht mehr als das scheinhaft Gute, sondern im Geist des Guten. Fraglich ist dann, ob er als der Böse zum Guten oder das Gute in ihm zum Bösen wird. Unter den Bedingungen der aufgeklärten Moderne ist das Weltliche alles. Wenn diese Annahme eine List des Teufels ist, wird seine Macht unendlich groß. Die Güter der Welt, die er dem Mann – wie Jesus in den Evangelien – verspricht, sind zwar in Hinsicht auf die übernatürlichen Güter, die Jesus gegen den Teufel ins Feld führte, scheinhaft und nichtig, aber sie sind, wenn die Welt alles ist, selbst auch alles. Die Frage ist dann, ob es auch innerhalb der Welt – ohne Bezug auf ein absolutes überweltliches Kriterium – möglich ist, zwischen wahrhaften und scheinhaften Dingen zu unterscheiden? Das sind die abgründigen Fragen der Moderne, die Baudelaire in den Figuren des Religiösen aufwirft.

Der Epilog zu den Prosa-Gedichten ist ein traditionelles Gedicht: metrisch gebunden und in Terzinen gereimt. Die Terzine ist durch Die Göttliche Komödie zu einer kanonischen Form geworden. Der Verweis auf Dante gibt den Prosa-Gedichten eine weitere Dimension. Schon Honoré de Balzac hatte mit dem Titel seines Romanzyklus Die menschliche Komödie diese Beziehung hergestellt. Er hat den Topos der Großstadt als Hölle aufgegriffen und sich selbst als neuen Dante gesehen, der die verschiedenen Kreise dieser irdischen Hölle beschreibt. Baudelaire reiht sich offenbar auch in diese Linie ein. Ob er bei seiner Deutung der modernen Welt als Limbus geblieben wäre oder ob er die Moderne doch auch als eine weltliche Hölle konzeptualisiert hätte bleibt offen. Die verschiedenen Dimensionen des Inhalts der Gedichte sind dann – in Entsprechung zu Dantes aus der christlichen Bibelexegese übernommener Konzeption des mehrfachen Schriftsinns – die verschiedenen Sinnebenen dieser modernen Welt: Geschichten aus dem Pariser Alltagsleben, Traumvisionen, die einen phantastischen Raum neben oder über dem der Stadt bilden, sowie moralisch orchestrierte Handlungen, die an die allegorischen Mysterienspiele des Mittelalters erinnern.

Diese komplexen und in jeder Hinsicht spannenden Konstellationen sind in der vorliegenden Form zumindest zu erahnen. Sie zeigen auch, welch intellektueller Verlust es ist, dass Baudelaire das Buch nicht hat beenden können. Das ist keine müßige Klage über ein eventuell mögliches, aber nicht geschriebenes Werk eines „zu früh“ verstorbenen Dichters. In diesem Fall ist das Werk weit genug gediehen, um sichtbar werden zu lassen, was daraus hätte werden können, aber leider nicht weit genug, um ein wahrhaftes Werk zu sein. So fügt es sich in die Reihe der modernen Texte seit der Romantik ein, die Fragment geblieben sind. Und möglicherweise ist das Fragmentarische eine objektive Form des Werks in der Moderne.

Titelbild

Charles Baudelaire: Le Spleen de Paris – Der Spleen von Paris. Gedichte in Prosa und frühe Dichtungen.
Herausgegeben und übersetzt aus dem Französischen von Simon Werle.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2019.
510 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783498006877

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