Der Zeit auf der Spur
Ein interdisziplinärer Sammelband widmet sich Formen von Zeit in den Künsten und der Kultur
Von Julia Stetter
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas ist Zeit? Man sieht sie nicht, man hört sie nicht, fühlt man sie? Sicher wird Zeit auf irgendeine Weise erfahrbar. Doch lässt man ihre quantifizierbare Form außer Acht, ergeben sich viele Rätsel. Warum verläuft die Zeit manchmal langsam, manchmal schnell? Aus kulturwissenschaftlich-wissenshistorischer Perspektive lassen sich weitere Fragen stellen. Auch die Künste – die Literatur, das Theater, Performance-Kunst, mediale und bildende Kunst – sowie ihre zugehörigen Wissenschaften liefern eigene Ansätze und Antworten zur Zeit-Problematik.
Einen umfangreichen Einblick in neuste Forschungsprojekte offeriert der von Michael Gamper und Michael Bies herausgegebene Sammelband Ästhetische Eigenzeiten. Bilanz der ersten Projektphase. Er basiert auf dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Schwerpunktprogramm Ästhetische Eigenzeiten. Zeit und Darstellung in der polychronen Moderne, das 2013 eingerichtet wurde. Es umfasst in seiner sechsjährigen Gesamtlaufzeit zwei Phasen, wobei der vorliegende Band von der ersten Phase handelt. Darin lag der Schwerpunkt auf dem nordatlantischen Kulturkreis, während in der zweiten Phase eine Öffnung hin zu globalen Phänomen erfolgt. Die Koordinatoren des Programms sind Michael Gamper (Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Freie Universität Berlin) und Reinhard Wegner (Neuere Kunstgeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena).
Insgesamt geht es im Schwerpunktprogramm um das Verhältnis von Zeit und Darstellung. Dabei konnte vielfach auf bereits bestehende Forschung zurückgegriffen werden, beispielsweise auf Ergebnisse des Graduiertenkollegs Zeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung an der Universität Frankfurt (1998–2007). Dennoch wurden im Schwerpunktprogramm neue Wege beschritten. Ein Ziel war, danach zu fragen, wie Zeit erfahrbar wird. Es ging daher insbesondere um „materiell sichtbar gemachte, gemessene, dargestellte, ausgedrückte, erkannte, erlebte und bewertete Zeit“. Auch die Rolle der ästhetischen Form sollte zur Debatte stehen, da sich Form nie außerhalb von Zeit vollzieht, sondern vielmehr eine strukturierende Wirkung auf Zeit ausübt. Überdies wurde ein Anschluss an die Material Studies angestrebt, um der Materialität von Artefakten Rechnung zu tragen. Vor allem für nonverbale Künste mag dieser Ansatz sinnvoll sein, um ihren Anteil an der Zeit-Thematik herauszustellen. Das Konzept der „Ästhetischen Eigenzeiten“ beruht ferner darauf, dass sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zuweilen auch anders als in linearer Ordnung manifestieren. Wenn es zu solchen Abweichungen von „normaler“ Zeit kommt, entstehen „Eigenzeiten“. Sie sind insofern „Möglichkeiten der Varianz und Denormalisierung“ beziehungsweise „Gegenzeiten“ der normierten Zeit. Dennoch sollte es nicht darum gehen, naturwissenschaftliche und künstlerische Zeit-Vorstellungen dualistisch gegenüberzustellen.
Im Band werden nach einer einleitenden Erläuterung des Programmkonzepts seine 14 Einzelprojekte in Aufsätzen vorgestellt. Es handelt sich meist um Gruppenpublikationen, die außerdem jeweils mit einer Liste der in diesen Projekten erfolgten Veröffentlichungen enden. In den Aufsätzen selbst wird immer zunächst das Gesamtvorhaben der Einzelprojekte theoretisch dargelegt, woraufhin Einzelbeispiele – etwa kurze Ergebniszusammenfassungen von Dissertationsvorhaben oder Fallstudien – folgen. Thematische Schwerpunkte sind Zustände, in denen Zeit in besonderer Weise wahrnehmbar wird, rezeptionsästhetische Überlegungen, Chronotopoi und kulturwissenschaftlich-historisierende Kontextualisierungen.
Zustände, in denen man auf Zeit aufmerksam wird, sind Stillstand und Gleichzeitigkeit. Das Projekt von Reinhold Görling, Barbara Gronau, Ludger Schwarte und Mirjam Lewandowsky untersuchte Momente des Stillstands in Theater, Performancekunst und Film. Stillstand sei deshalb beachtenswert, weil er „normale“ Zeit durchbreche. Statt Abfolge und Fortschritt umzusetzen, wohne dem Stillstand eine reflexive Dimension inne. Derart fördere er die Wahrnehmbarkeit von Zeit. Er stellt somit eine Ausprägungsform von „Gegenzeiten“ dar, die im Schwerpunktprogramm auch insgesamt untersucht werden. Im Stillstand werde die Gegenwart intensiver wahrgenommen. Einerseits könne sich Stillstand als Stagnation äußern, zum Beispiel im Tod oder im Paradies, andererseits werde die Gegenwart unter der Perspektive von einem noch nicht realisierten Künftigen – etwa einer Katastrophe – erlebbar. Ein Beispiel für Stillstand in der modernen Kunst bietet die Gattung der long durational performance: So hat sich der Künstler Tehching Hsieh 365 Tage in eine verriegelte Zelle begeben. Durch derartige Kunst werde das erfahrbar, „was man die ‚Kräfte der Zeit‘ nennen könnte“.
Phänomene der Simultanität betrachtet Sabine Zubarik in ihrem Projekt. Innerhalb zeitgenössischer Romane und Filme komme es häufig zu Formen von Gleichzeitigkeit, die vom Rezeptionsprozess aus betrachtet jedoch ungleichzeitig verlaufen. Es bestehen verschiedene Ausprägungsformen dieser Diskrepanz: Bei den forking paths narrations spaltet sich der entsprechende Roman oder Film in mehrere Fortsetzungen, die zu unterschiedlichen Ausgängen führen. Bei den Zwei-Richtungsbüchern hat man als Leser die Wahl, ob man von vorne oder hinten anfangen möchte zu lesen, denn beide Seiten des Buchs sind Vorderseiten. Auch gibt es „Bücher“, die bewusst auf eine Buchbindung verzichten und dem Käufer als kleine Heftchen in einer Schachtel geliefert werden. Hier muss man selbst entscheiden, in welcher Reihenfolge man vorgehen möchte. Ein Beispiel für eine forking paths narration bietet der Roman Days with Diam – or: Life at Night des Dänen Svend Åge Madsen. Dessen erstes Kapitel spaltet sich in zwei Folgekapitel, die sich wiederum aufteilen. Dieses Verfahren wird bis zur sechsten Stufe fortgesetzt, sodass das Buch 32 verschiedene Ausgänge hat. Ein Diagramm im Inhaltverzeichnis ermöglicht jedoch sich zu orientieren und selbst zu wählen, ob man von vorne nach hinten lesen oder lieber einem Einzelstrang folgen möchte.
Rezeptionsästhetische Überlegungen stellen Boris Roman Gibhardt, Johannes Grave, Frida-Marie Grigull und Reinhard Wegner in ihrem kunstgeschichtlichen Projekt an. Ihnen geht es um die „rezeptionsästhetische Temporalität“ von Bildern. Ausgangspunkt ist der Umstand, dass oft davon ausgegangen wird, im Gegensatz zu Literatur oder Musik könne man Bilder mit einem Blick erfassen. Im Projekt wird herausgearbeitet, dass jedoch auch Bilder einem zeitlichen Wahrnehmungsprozess unterliegen, in welchem der Betrachter von verschiedenen Teilen des Bildes zu anderen wandert. Seine Blickrichtung werde währenddessen vom Bild beeinflusst. Bisher habe man diesen zeitlichen Vorgang der Bildbetrachtung zu wenig beachtet. Eine Wiederbelebung der Rezeptionsästhetik in Verbindung mit einer kulturgeschichtlich unterfütterten Analyse von Praktiken (von Bildproduktion und -rezeption) weise daher neue Forschungsmöglichkeiten auf.
An Michail Bachtins Konzept des Chronotopos knüpfen mehrere Projekte an. Dominik Schrage, Holger Schwetter und Anne-Kathrin Hoklas untersuchten ländlich-progressive Diskotheken im Norddeutschland der 1960er bis 1980er Jahre als popmusikalischen Chronotopos. Unter anderem durch Interviews mit ehemaligen Diskobesuchern sowie Musikanalysen kamen sie zu dem Ergebnis, dass die betrachtete Form von Diskotheken zur „Herausbildung eines neuartigen Zeitbewusstseins“ führte. Nicht zuletzt bildete sich ein verstärkter Individualismus auch jenseits des Nachtlebens heraus. Ebenfalls unter Anschluss an Bachtins Chronotopos-Konzept erfährt die Literaturgeschichtsschreibung der DDR durch Michael Ostheimer eine neue Perspektivierung.
Indem sie Eigenzeiten von Themenparks analysieren, verweisen Filippo Carlà-Uhink, Florian Freitag, Sabrina Mittermeier und Ariane Schwarz auf die kulturelle und historische Abhängigkeit in der Darstellung fremder Zeitepochen. Dadurch, dass verschiedene Parks, wie zum Beispiel solche von Walt Disney in Europa, Nordamerika und Asien in den Blick genommen werden, treten Unterschiede etwa in der Modellierung der Zukunft oder des antiken Griechenlands hervor. Sehr lesenswert ist darüber hinaus die kulturhistorisch-literaturwissenschaftliche Untersuchung von Klimakonzepten von Hanna Hamel, Eva Horn und Solvejg Nitzke. Ihrer These zufolge kam es um 1800 herum zu einem Umbruch in der Bedeutung des Klima-Begriffs. Vor 1800 sei „Klima“ ein geografisches Konzept gewesen, welches einen Ort bezeichnet habe, an dem bestimmte Menschen leben. Von diesen Menschen beziehungsweise Völkern nahm man an, dass sie durch das Klima geprägt seien. Etwa ab 1800 habe sich „Klima“ dann auf durchschnittliche Witterungsverhältnisse bezogen.
Insgesamt fehlt dem Sammelband zwar eine strukturierende Gruppierung der Einzelprojekte zu übergreifenden Themenkomplexen, doch hält er, was er im Untertitel verspricht: Er ist vor allem eine „Bilanz der ersten Projektphase“ und erfüllt in vollstem Maße die Erwartungen, die man an ein DFG-Programm hat. Mit seinen aktuellen Forschungsskizzen liefert der Band einen sehr spannenden Einblick in Arbeitsfelder renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zu Recht einen Spitzenplatz für sich beanspruchen dürfen.
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