Ekel und Politik

Philipp Hübls „Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lohnt es sich, über Moral nachzudenken? Zumindest scheint es uns nicht zu besseren Menschen zu machen. Schließlich werden laut Philipp Hübl an philosophischen Instituten mehr als doppelt so viele Bücher zum Thema Ethik gestohlen als zu anderen Themen. Dieser deprimierenden Statistik zum Trotz ist der 44-jährige deutsche Philosoph aber davon überzeugt, dass wir durch Reflektieren zu besseren moralischen Urteilen kommen können. Wie notwendig das wäre, macht die Lektüre seines neuen Buches eindringlich klar. Denn Hübls Opus Magnum untersucht, warum sich unsere Gesellschaft gerade heute immer stärker polarisiert. Warum sie zunehmend intoleranter und hysterischer wird und sich in immer neue Debatten oder besser gesagt „Stammesfehden“ verstrickt. Egal, ob es sich um den Streit zwischen Auto- und Fahrradfahrern handelt oder um den zwischen Fleischessern und Veganern.

Dazu zeigt Hübl zunächst, was wir eigentlich tun, wenn mir moralisch handeln oder urteilen. Denn die Werte und Prinzipien, die jeweils dahinterstehen, sind uns im Alltag meist nicht bewusst – wie auch die Emotionen, die mit diesen Werten verbunden sind. Das jedenfalls ist das Ergebnis zahlreicher empirischer Studien von Moralpsychologen auf der ganzen Welt, die Hübl für sein Buch gesichtet hat. Über ein halbe Million Teilnehmer mussten sich provokanten Fragen und Gedankenexperimenten stellen. Würde man zum Beispiel lieber neben einem Dieb oder einem Tierschänder wohnen? Und darf jemand seine Toilette mit einer ausrangierten Nationalflagge putzen? Als Hübl diese letzte Frage bei einem Vortrag in Süddeutschland vorstellte, hätten die Zuhörer zunächst recht gelassen reagiert, erzählt der Autor. Als er sie jedoch bat, die Flagge in ihrer Vorstellung einfach durch ein Kreuz zu ersetzen, sei es im Saal plötzlich lebhaft geworden. Was für ihn zeige, dass es bei solchen Fragen eben auf die richtigen Gruppensymbole ankommt.

Die Folgerungen aus all diesen Untersuchungen sind einigermaßen erstaunlich. Zum Beispiel soll nichts so sehr die Demokratisierung einer Gesellschaft fördern wie bessere hygienische Verhältnisse. Und dort wo Reis angebaut wird, denken die Menschen vor allem an die Gemeinschaft, in Gegenden mit Weizenanbau dagegen zuerst an sich. Und, ach ja, die politische Haltung eines Menschen lässt sich nicht nur an seiner Wohnungseinrichtung ablesen. Sondern eigentlich schon an seinem Verhalten im Kindergarten. Das behaupten zumindest Langzeitstudien aus den USA.

Auch wenn einem manche dieser Thesen der Moralpsychologie überzogen vorkommen: Interessant ist, was Philipp Hübl als Quintessenz aus all diesen Studien destilliert. Demnach finden sich überall auf der Welt sechs moralische Grundprinzipien, wobei jeweils drei zusammengehören. Freiheit, Fairness und Fürsorge, das ist das progressive Trio, wie es gerade im Westen dominiert. Der konservative Werte-Dreiklang umfasst dagegen Autorität, Loyalität und Reinheit – Prinzipien, die man vor allem in eher traditionellen Kulturen und Religionen findet, aber genauso im Umkreis von AfD-Wählern oder Donald-Trump-Anhängern. Als wertvoll erweist sich das Schema der sechs Prinzipien gerade, wenn es um das Verständnis aktueller Konfliktthemen geht.

Zum Beispiel der Streit ums Kopftuch: Von politisch linker Warte wird die Unterdrückung der Frau angeklagt: Prinzip Fürsorge also. Von konservativer Seite fühlt man sich vom religiösen Symbol in seiner Identität bedroht, hier kommt das Prinzip Reinheit, aber auch das der Loyalität ins Spiel. Und liberale Zeitgenossen sehen in Kopftuch tragenden Frauen vor allem einen Ausdruck von Selbstbestimmung, wie er in einer offenen Gesellschaft zu respektieren ist. Für sie hat demnach das Prinzip Freiheit Vorrang.

Mit seinem Schema klappert Hübl auf über 400 Seiten praktisch sämtliche aktuellen Debatten ab: kenntnisreich, pointiert und gut lesbar, nur leider auf Dauer etwas repetitiv. Wichtig ist sein Buch ohne Frage: Weil der Autor zeigt, warum sich nur aus dem progressiven Wertetrio eine Moral für alle Menschen ableiten lässt – während die konservativen Werte dagegen immer nur für eine bestimmte Gruppe gelten sollen.

Titelbild

Philipp Hübl: Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Moral prägen und die Polarisierung verstärken.
C. Bertelsmann Verlag, München 2019.
432 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783570103623

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