Der Meister der Moderne und die Kraft des Symbols

Ein Symposion bildet die Voraussetzung für eine Stillleben-Ausstellung von Vincent van Gogh

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vincent van Goghs Stillleben mit einem Teller Zwiebeln (1889) ist ein verkapptes Selbstporträt. Es entstand in der Folge schwerer Schicksalsschläge des Künstlers. Seine Hoffnungen auf ein gemeinsames „Atelier des Südens“ mit dem befreundeten Paul Gauguin in Arles hatten sich zerschlagen, im Verlauf seiner Nervenkrankheit schnitt er sich ein Stück seines Ohres ab, worauf er einige Wochen ans Spitalbett gefesselt war. Um daraufhin wieder zum Malen zu finden, schuf er dieses ungewöhnliche Stillleben: Auf einem Tisch befinden sich mehrere persönliche Gegenstände, die über seine Befindlichkeit nach der schweren Krise erzählen. Die neue Triebe ansetzenden Zwiebeln sind ein Sinnbild der Hoffnung, Briefumschlag, Siegelwachs, Kerze und Streichhölzer verweisen auf van Goghs Bruder Theo, und das Gesundheitsbuch ist eine weitere Anspielung auf van Goghs Wunsch, sein Leben wie früher fortzusetzen: mit Tabak, Wein oder Absinth bei guter Gesundheit und in brieflichem Kontakt mit seinem Bruder. Der Verlust des schöpferischen Gleichgewichts sollte so wiederhergestellt werden. In der Art des Bildausschnitts und im Pinselduktus ist das Gemälde auffallend impressionistisch.

Nur wenige Künstler standen so unter dem Zwang, sich auszudrücken, wie dieser reizbare und ungeduldige Holländer. Selbst wenn keines seiner Bilder überdauert hätte, wären doch die Briefe, die er seinem Bruder Theo, dem Kunsthändler, schrieb – etwa 800 sind erhalten – ein Meisterwerk der Bekenntnisliteratur, Ausdruck eines Geistes, der wie besessen war sich erklären zu müssen, seine Leidenschaften zu offenbaren und auch die intimsten Krisen zu beschreiben. Innerhalb von 10 Jahren war van Gogh nicht nur zu einem Erneuerer der Landschafts- und Figuren-Malerei, sondern eben auch des Stilllebens geworden.

Warum aber hat das Stillleben bisher eine so untergeordnete Rolle bei der Würdigung des Gesamtwerks van Goghs gespielt, warum hat es noch nie eine Ausstellung gegeben, die sich speziell diesem Genre widmete? Im Dezember 2018 fand in Potsdam ein Symposion über van Goghs Stillleben mit Spezialisten statt, deren Vorträge im Katalog zu den jetzt erstmals in einer eigenen Schau gezeigten Stillleben im Barberini-Museum in Potsdam (bis 2. Februar 2020) erschienen sind. Dank des Kröller-Müller-Museums im holländischen Otterloo, das nach dem Van-Gogh-Museum in Amsterdam die weltweit größte van-Gogh-Sammlung besitzt, und weiteren Leihgaben aus öffentlichem und Privatbesitz kann von Michael Philipp, Chefkurator des Barberini-Museums, mit 27 Werken der experimentelle und wegweisende Charakter dieses Genres in Komposition, Form und Farbe nachgewiesen werden. Allerdings ist keine der heute noch erhaltenen sechs Varianten von Sonnenblumen in einer Vase dabei, die innerhalb eines halben Jahres in Südfrankreich entstanden. Diese Ikonen der Moderne werden nicht mehr ausgeliehen.

Van Goghs Stillleben entwickelten sich von den in Holland entstandenen tonigen Werken mit ihren vereinzelten Akzenten in Komplementärfarben über die Pariser Blumenstillleben des Sommers 1886, in denen sich Farbe und tonale Malerei vereinten, zu jenen farbstarken Arbeiten  mit kühnen Kontrasten, die der Künstler im Herbst 1887 malte. Die frühen Stillleben, für die er einfache und alltägliche Gegenstände aus ländlichem Milieu verwendete, sind in einem dumpfigen, erdigen Graubraun ohne alle Kontraste gehalten. Nur durch die Hebungen und Senkungen derselben Farbe und die sehr ruhige, schon meisterhafte Führung des Pinsels entsteht Bewegung (Stillleben mit Kohl und Klompen, 1881; Stillleben mit Äpfeln und Kürbissen, 1885). Van Gogh ging es nicht um die präzise malerische Nachahmung, sondern um einen atmosphärischen Gesamteindruck. Vogelnester (1885) haben eine sinnbildliche Bedeutung, symbolisieren Nachkommenschaft und Geborgenheit.

Mit seinem Umzug nach Paris im Februar 1886 gelangte van Gogh zu einer helleren, reicheren Palette und einem individuellen Stil. In dem Stillleben Vase mit Kornblumen und Mohnblumen setzte er auf einem Untergrund von Erdfarben eine lichtblaue Vase, gefüllt mit Klatschmohn, Kornblumen, Margeriten und einem Bund Nelken. Das Rot des Klatschmohns steht in lebhaftem Kontrast zum Blau des Hintergrundes und der Kornblumen. Es ist ein Gemälde des Experimentierens, wie weit man mit Farbkontrasten gehen kann. Van Gogh hatte Charles Blancs Farbtheorie zur Kenntnis genommen, derzufolge helle Komplementärfarben unvermischt nebeneinanderzusetzen sind. Den Effekt des „Vibrierens“ hat er wohl hier mit der Farbe Blau erreichen wollen. Später sollte er es bei seinen Sonnenblumen mit der Farbe Gelb versuchen. Diese lichte Farbigkeit führte dazu, das Gemälde auf das Jahr 1887 zu datieren, als er stärker dem impressionistischen Milieu verbunden war. Der tüpfelnde Pinselstrich, der überall den Hintergrund durchschimmern lässt, scheint auf den Einfluß Paul Signacs zurückzugehen.

Gegenüber den Blumenstillleben aus seinem ersten Sommer in Paris zeigen die Stillleben aus dem Frühjahr 1887 einen veränderten malerischen Ansatz. Inspiriert von japanischen Farbholzschnitten hat er in Karaffe und Teller mit Zitrusfrüchten (1887) anstatt des kräftigen Impasto des Vorjahres die Farbe nur dünn aufgetragen und eine helle Palette gewählt. Ungewöhnlich der Hintergrund – es könnte sich um eine Tapete oder einen Wandteppich handeln –, mit vertikalen orangeroten Ornamentbändern setzte er Komplementärkontraste von Rot und Grün, Blau und Orange.

Van Gogh ging im Februar 1888 in die Provence nach Arles und hoffte, dass das „Licht des Südens“ seine Bilder mit einer so starken chromatischen Intensität erfüllen würde, dass sie Einfluß auf die Seele und den Geist nehmen könnten. Anders als in Paris malte er in Arles zunächst nur wenige Blumenstillleben, darunter Vase mit Zinnien (1888) – die Dichte und unmittelbare Nahsicht der leuchtenden Blüten verleihen dem Strauß etwas Monumentales, obwohl die einzelnen Blüten klein und zierlich sind. In einer Reihe anderer im Süden gemalter Stillleben ist alles dem kraftvollen Kontrast von Gelb und Blau untergeordnet, die sich gegenseitig steigern. Gelb – die Verkörperung von Sonne, Licht und Leben – wurde die Lieblingsfarbe des ungestümen Holländers. „Nicht Ähnlichkeit, sondern leidenschaftlichen Ausdruck“ wollte er erzielen, den Gegenständen farbiges Strahlen verleihen, ihnen sein Gefühl einzugeben, sie gleichsam beseelen.

Zu monumentalen Bouquets, wie jenen provencalischen Rosen und Schwertlilien, mit denen sich van Gogh nach seinem Krankenhausaufenthalt in Saint-Rémy verabschiedet hatte, kam es in Auvers-sur-Seine, seiner letzten Lebensstation, nicht mehr. Hier entstanden seine Blühenden Kastanienzweige (1890), die sich mit ihren weißen Blütenrispen vor leuchtend blauem Hintergrund dem Betrachter entgegenstrecken und ein Gefühl von Vitalität vermitteln. Es ist das größte seiner späten Stillleben und zugleich sein expressivstes überhaupt.

Der von Michael Philipp und Valerie Hortolani herausgegebene Katalog gibt eine ausführliche Beschreibung der ausgestellten Werke. Den großformatigen Abbildungen beigegeben sind Auszüge aus Briefen des Künstlers an seinen Bruder Theo, die Bezug auf seine Stillleben nehmen. Michael Philipp hat auch eine Zitatenlese von Zeitzeugen, Sammlern und Philosophen über van Goghs Stillleben zusammengestellt. Überhaupt werden alle seine 172 Stillleben verzeichnet.

Die Beiträge des Stillleben-Symposions gehen unterschiedliche Wege im Ausschreiten des Stillleben-Sujets. Sjraar van Heugten, Kunsthistoriker und freier Kurator, analysiert unter dem Titel Kraft des Alltäglichen die Entwicklung der Stillleben im Werk van Goghs. Wie haben sich seine Stillleben zu denen der niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts verhalten, fragt Michael Philipp. Marije Vellekoop, Kuratorin am Van-Gogh-Museum in Amsterdam, behandelt die Farbwelten in van Goghs Stillleben. Entsprachen seine Stillleben der zeitgenössischen Farbenlehre und wie und wann erlernte er die Gesetze der Farben? In den knapp zwei Jahren, zwischen März 1886 und Februar 1888, in denen van Gogh bei seinem Bruder Theo in Paris lebte, entstand mehr als die Hälfte seiner Stillleben. Stefan Koldehoff, Autor von Arbeiten zu Restitutionsfällen und Kunstfälschungen, beschreibt die entscheidende künstlerische Entwicklung, die van Gogh während seines Paris-Aufenthalts mit seinen Blumenstillleben gelang. Den späten Stillleben van Goghs widmet sich Eliza Rathbone, Chief Curator Emerita der Phillips Collection in Washington. Oliver Tostmann, Susan Morse Hilles Curator of European Art am Wadsworth Atheneum Museum of Art in Hartford, setzt sich mit Fälschungen, Kopien und falschen Zuschreibungen von van Goghs Stilleben auseinander, während Michael F. Zimmermann, Professor für Kunstgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, untersucht, wie van Gogh „überschießende Gefühle regelrecht an die gemalten Objekte auslagerte“.

Für van Gogh hatten die Stillleben die Kraft eines Symbols. Er konnte einer Vase mit Blumen Gefühl und Dramatik, Sinnenfreude verleihen wie auch an die Vergänglichkeit des Lebens mahnen, ist doch die Farben- und Blütenpracht der Blumen nur von kurzer Dauer. Sie sind eindrucksvolle Beispiele für das Miteinbringen des Persönlichen in die Malerei. Das, was van Gogh seine „schreckliche Klarsichtigkeit“ nannte, spiegelt sich auch in seinen Stillleben wider und wirkt heute genauso frisch wie damals.

Titelbild

Ortrud Westheider / Michael Philipp (Hg.): Van Gogh – Stilleben. Katalog zur Ausstellung im Museum Barberini Potsdam.
Prestel Verlag, München 2019.
264 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783791358710

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